| # taz.de -- CDU und AfD in Sachsen: Wo verläuft die Brandmauer? | |
| > In Sachsen fällt es der CDU schwer, sich von der AfD abzugrenzen. Auch | |
| > von Merz kamen unterschiedliche Signale. Wie geht die CDU damit um? | |
| Bild: CDU-Landrat Stephan Meyer (im blauweiß gestreiften Hemd) hat ans Lagerfe… | |
| Manchmal sorgt sich Yvonne Magwas, wenn Sachsens Ministerpräsident sich | |
| äußert. Manchmal ärgert sie sich auch richtig. „Ich wünschte mir, Michael | |
| Kretschmer würde die Bundespolitik weniger häufig kommentieren“, sagt sie. | |
| „Wir haben genug Probleme vor der eigenen, sächsischen Haustür.“ Darum ab… | |
| geht es nicht nur. | |
| Magwas, 41, Christdemokratin wie Kretschmer, kommt aus Auerbach im Vogtland | |
| im Westen Sachsens, seit 2013 sitzt sie im Bundestag. Zweimal hat sie | |
| letztens ihren Wahlkreis direkt gewonnen, seit knapp zwei Jahren ist sie | |
| Vizepräsidentin des Bundestags. In der CDU gilt die Soziologin als liberal, | |
| damit gehört sie in der „Sachsen-Union“, wie sich die Partei hier stolz | |
| nennt, zu einer Minderheit. Magwas’ Standpunkt: „Wir brauchen eine klare | |
| Abgrenzung von allem, was rechtspopulistisch ist.“ | |
| Diesen Anspruch erfüllt Kretschmer nicht. Zwar schließt er eine Koalition | |
| mit der AfD klar aus. Aber er sagt eben auch all diese Sachen, die wie eine | |
| Light-Variante der radikalen Rechten klingen. Kretschmer hat für eine | |
| Einschränkung des Grundrechts auf Asyl plädiert. Er hat sich für eine | |
| Reparatur der Gaspipeline Nord Stream 1 ausgesprochen. Und dafür, den Krieg | |
| in der Ukraine durch Verhandlungen einzufrieren, auch wenn das auf Kosten | |
| des angegriffenen Landes geht. | |
| In der sächsischen Bevölkerung kommt das gut an. Kretschmer, der auch | |
| stellvertretender CDU-Bundesvorsitzender ist, gilt als einer, der sagt, was | |
| er denkt. Und der sich von denen in Berlin nichts verbieten lässt. Eine | |
| Stimme des Ostens. | |
| ## Filmdöschen mit Backpulver | |
| Stellt man sich die sächsische CDU als eine Achse vor, steht Magwas an dem | |
| einen Ende, irgendwann kommt Kretschmer. Und von dort geht es noch weiter | |
| nach rechts. Zum Beispiel bis zur Kreistagsfraktion in Bautzen. | |
| Wie behauptet sich die CDU vor Ort? Wie stellt sie sich auf? Und wie ist | |
| ihre [1][Strategie im Umgang mit der AfD]? Mit diesen Fragen ist die taz zu | |
| Yvonne Magwas ins Vogtland gefahren. Zu Stephan Meyer, der seit einem Jahr | |
| Landrat in Görlitz an der polnischen Grenze ist. Und zu Karsten Vogt, dem | |
| Oberbürgermeister von Bautzen. | |
| Ein Dienstag Mitte Juli, Yvonne Magwas besucht in ihrem Wahlkreis eine Kita | |
| der AWO. Bald hockt sie draußen auf dem Boden und versucht, ein zur Rakete | |
| umgestyltes Filmdöschen mit Backpulver und Essigessenz zum Fliegen zu | |
| bringen. Das Gemisch entweicht, ein leises „Pffft“ ist zu hören, mehr | |
| nicht. „Fehlstarts können passieren“, sagt sie und lacht. | |
| Als sie später mit der Kitaleiterin und einer Geschäftsführerin der | |
| örtlichen AWO beim Kaffee im Garten sitzt, geht es um die Kitaarbeit, die | |
| stark gestiegene Eigenbeteiligung in Pflegeheimen, die geschlossene Klinik | |
| im Nachbarort, schließlich um die „soziale Hängematte“. Wer Sozialhilfe | |
| beziehe, müsse auch etwas tun, meint die Frau von der AWO, das könne sich | |
| der Staat so nicht weiter leisten. Sie könne das beurteilen, sie sei | |
| schließlich schon 30 Jahre dabei. | |
| Sie erlebe das häufiger, sagt Magwas später im Auto. Dieses tief sitzende | |
| Gefühl, dass es ungerecht zugehe. Es sei ein Gefühl, das die AfD ausnutze. | |
| „Das muss man ernst nehmen und politisch bearbeiten.“ Magwas’ Strategie: | |
| zuhören, Zusammenhänge erklären, kümmern. Wenn jemand sich mit einem | |
| Anliegen an das Wahlkreisbüro wendet, helfen Magwas und ihre | |
| Mitarbeiterinnen – egal, ob es wie an diesem Dienstag um einen | |
| Pflegekostenbescheid geht, störende Signalgeräusche einer Baustelle der | |
| Bahn oder eine Folgefinanzierung für die „Vogtlandpioniere“, die alte | |
| Bauwerke wiederbeleben. „Es ist oft sehr kleinteilige Kümmererarbeit, die | |
| wir machen“, sagt Magwas. „Wir nehmen uns dafür viel Zeit.“ | |
| Seit 1990 kommt der Ministerpräsident in Sachsen ununterbrochen aus der | |
| CDU, der erste war Kurt Biedenkopf. Er beruhigte die Bevölkerung mit dem | |
| Satz: „Die Sachsen sind immun gegen Rechtsextremismus.“ Allen rassistischen | |
| Angriffen, Neonazibanden und einem Erstarken der NPD zum Trotz, die 2004 | |
| mit fast 10 Prozent in den Landtag einzog. | |
| Das Verleugnen ging lange weiter. Seitdem gab es in Sachsen rechte | |
| Terrorgruppen, Brandanschläge und Hetzjagden, rechtsextreme Aufmärsche, | |
| Drohungen. Der Sachsen-Monitor zeigt regelmäßig, wie verbreitet autoritäre | |
| und menschenfeindliche Einstellungen sind. Manche in der CDU sagen, auf dem | |
| Land sei die Sprache der AfD längst Normalität, Aussagen blieben oft ohne | |
| Widerspruch. Bei der letzten Bundestagswahl bekam die AfD mehr Stimmen als | |
| die CDU, laut Umfragen steht sie inzwischen bei 30 Prozent, bei der | |
| Landtagswahl im kommenden Jahr könnte sie stärkste Kraft werden. Die CDU | |
| will mit Michael Kretschmer wieder gewinnen. | |
| Yvonne Magwas ist überzeugt, dass sich die CDU hart von der AfD abgrenzen | |
| muss. Als Parteichef Friedrich Merz im Juli im ZDF-„Sommerinterview“ | |
| den Eindruck erweckte[2][, dass eine Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene | |
| mit seinem Segen möglich sei], postete Magwas umgehend: „Ob Ortschaftsrat | |
| oder Bundestag, rechtsradikal bleibt rechtsradikal. Für Christdemokraten | |
| sind Rechtsradikale IMMER Feind!“ | |
| Noch heute ist sie empört, dass die Lokalzeitung sie fragte, ob sie nicht | |
| mit dem Organisator der Montagsdemonstration in Plauen, wo zeitweise | |
| Tausende auf die Straßen gingen, ein Streitgespräch führen würde. „Der hat | |
| uns alle aufs Schlimmste beleidigt und ständig verhetzende Posts gemacht“, | |
| sagt Magwas. „Da wäre gar kein Gespräch möglich und auch nicht sinnvoll | |
| gewesen.“ Getroffen habe sie sich aber mit einer Gruppe, die ihr einen | |
| offenen Brief zum Ukrainekrieg und zum Umgang mit Russland geschrieben | |
| habe, ohne Beleidigung. | |
| Inhaltlich passte ihr der Brief nicht, weil noch nicht einmal benannt | |
| wurde, dass es sich um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg durch | |
| Russland handelte. „Aber da muss man als Bundestagsabgeordnete zum Gespräch | |
| bereit sein, die Kraft der guten Argumente nutzen.“ Am Ende aber habe sich | |
| der Organisator des Briefs bei ihr bedankt. | |
| Magwas gilt als Merkel-Anhängerin, im sächsischen Landesverband hat sie | |
| damit keinen leichten Stand. Erschwert wird das durch ihren Mann, den | |
| ehemaligen Ostbeauftragten der Bundesregierung, Marco Wanderwitz. Vor der | |
| letzten Bundestagswahl hat er mit der Äußerung, ein Teil der | |
| diktatursozialisierten Ostdeutschen sei für die Demokratie verloren, für | |
| Furore gesorgt. Viele fühlten sich persönlich beleidigt. Wanderwitz war bei | |
| der Bundestagswahl Spitzenkandidat der CDU in Sachsen, Kretschmer machte | |
| ihn nach der Wahl öffentlich für das schlechte Abschneiden verantwortlich | |
| und sorgte dafür, dass er den Vorsitz der sächsischen Landesgruppe verlor. | |
| Stephan Meyer steht am Biertisch auf dem Hof eines Vereinsheims in | |
| Schleife, einem kleinen Ort ganz im Norden des Landkreises Görlitz. Am Rand | |
| brennt ein Lagerfeuer, aber an diesem Augustabend ist es zu warm, um sich | |
| daran zu setzen. Meyer, 42, ein schmaler Typ mit hoher Stirn und | |
| Dreitagebart, hat sich bei der Landratswahl 2022 im zweiten Wahlgang klar | |
| gegen seinen Konkurrenten von der AfD durchgesetzt. Bei Bratwurst und Bier | |
| will er hier mit den Leuten ins Gespräch kommen, gut 50 sind gekommen. | |
| Die Idee mit dem Lagerfeuer geht auf den Wahlkampf zurück. „Wir brauchen | |
| niedrigschwellige Angebote“, sagt Meyer. „Ans Lagerfeuer geht man gern. Da | |
| trauen sich Leute hin, die sonst nicht kommen.“ Ein Mann will mit ihm über | |
| den Abschuss von Wölfen sprechen, eine Frau darüber, dass eine | |
| Photovoltaikanlage nicht genehmigt worden ist. | |
| Plötzlich steht der AfD-Bundesvorsitzende Tino Chrupalla ein paar Grüppchen | |
| weiter, breitbeinig, mit einem Bier in der Hand. Chrupalla kommt aus | |
| Görlitz, er hat 2017 bei der Bundestagswahl dem heutigen | |
| Ministerpräsidenten das Direktmandat abgenommen. Einen Sitz im Kreistag hat | |
| er auch, alle Kreisräte wurden eingeladen. Meyer spricht zu Ende, dann geht | |
| er zu Chrupalla, macht ein paar Minuten Small Talk. Als Chrupalla ansetzt | |
| mit „Alle haben Angst“ und eine Frau zustimmend nickt, zupft ein älterer | |
| Mann Meyer am Ärmel. Dieser geht ins Zwiegespräch, zur Gruppe um Chrupalla | |
| stoßen zwei neue Leute hinzu. | |
| Meyer, promovierter Wirtschaftsingenieur, gilt unter den sächsischen | |
| Christdemokrat*innen als einer der Smarten. Dreimal wurde er seit 2009 | |
| direkt in den Landtag gewählt, zuletzt war er parlamentarischer | |
| Geschäftsführer der Fraktion. Den Koalitionsvertrag zwischen CDU, SPD und | |
| Grünen im Land hat er mitverhandelt. Meyer weiß, wie das politische | |
| Geschäft funktioniert. Was also ist seine Strategie für die CDU in dieser | |
| Zeit? | |
| ## „Wie wollen Sie Vertrauen zurückgewinnen, Herr Meyer?“ | |
| Die Leute seien verunsichert, sagt Meyer ein paar Tage vor dem | |
| Lagerfeuerabend in seinem Büro. Der Krieg, die Krisen, die hohen | |
| Energiepreise, die Inflation. „Alles wird teurer, aber gleichzeitig steigen | |
| die Einkommen nicht entsprechend.“ Hinzu komme die illegale Migration, die | |
| hier an der deutsch-polnischen Grenze spürbar sei. „Wir müssen die Themen, | |
| die die Menschen betreffen, tatsächlich abräumen. Nicht mit irgendwelchen | |
| populistischen Sprüchen, sondern mit konkreten Lösungen.“ | |
| Die Oberlausitz, einst Teil eines riesigen Kohlereviers, ist | |
| „Strukturwandel-Kernregion“, wie Meyer es nennt. Hinzu kommt der | |
| demografische Wandel. Die Montagsdemonstrationen sind wieder größer | |
| geworden, seit es vor einem Club in der Stadt eine Schlägerei gab, drei | |
| Männer aus Syrien kamen deshalb in Untersuchungshaft. | |
| Wie wollen Sie hier vor Ort Vertrauen zurückgewinnen, Herr Meyer? „Ich bin | |
| jetzt Chef einer großen Verwaltung, ich mache keine Gesetze mehr, sondern | |
| muss sie umsetzen. Im Bereich Asyl zum Beispiel bin ich als Landrat für die | |
| Unterbringung zuständig, egal, ob ich das gut oder schlecht finde.“ Es | |
| müsse gelingen, dass die Mehrheit der Bevölkerung Verständnis für die | |
| Entscheidungen habe. „Nicht alle, das wird nie gelingen, aber die Mehrheit. | |
| Und das droht gerade verloren zu gehen.“ | |
| Weil die Verwaltung zwei neue Sammelunterkünfte für Geflüchtete einrichten | |
| wollte, forderte die AfD eine Sondersitzung des Kreistags und beantragte, | |
| neue Unterkünfte im Landkreis grundsätzlich auszuschließen. „Das steht | |
| jeder Fraktion frei“, sagt Meyer. Die Bühne der AfD und ihrem Antrag zu | |
| überlassen, das aber wollte er nicht. Zur Sondersitzung lud er einen | |
| Vertreter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zu einem Input ein, | |
| die Verwaltung schrieb einen eigenen Antrag. Sie versprach, die beiden | |
| Unterkünfte nur zwei Jahre lang zu nutzen. Der Landkreis setze auf | |
| dezentrale Unterbringung und wolle große Unterkünfte in kleinen Orte | |
| vermeiden, sagt Meyer. „Das ist einfach konfliktärmer.“ | |
| Auf der Sondersitzung appellierte Meyer laut Lokalmedien an Bund und Land, | |
| geeignete Immobilien für Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen, damit diese | |
| nicht in Turnhallen landeten. Er forderte, dass der Bund die Kosten der | |
| Unterbringung übernimmt und bessere Voraussetzungen für Abschiebungen | |
| schafft. Auch AfD-Mann Chrupalla war da und hielt eine Rede. „Ich musste | |
| ihn mehrmals unterbrechen, weil es alles andere als sachlich war“, sagt | |
| Meyer. „Wir wollen keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen“, rief Chrupalla �… | |
| und bekam dafür lautstarken Applaus aus dem Publikum. Aber der Antrag von | |
| Meyers Verwaltung wurde angenommen. „Die AfD ist hier stark und laut, aber | |
| sie hat nicht die Mehrheit“, sagt Meyer. Das müsse man immer wieder | |
| klarmachen. | |
| Worauf sich Meyer im Gespräch nicht einlässt: Prinzipien für den Umgang mit | |
| der AfD zu formulieren. Wenn der Eindruck entstehe, etwas werde abgelehnt, | |
| nur weil es von der AfD komme, sei das problematisch. Das Gefühl, das nach | |
| dem Gespräch mit ihm aber bleibt: Meyer hat durchaus solche Prinzipien. Das | |
| bestätigt auch die grüne Fraktionschefin im Landtag, Franziska Schubert, | |
| die Meyer aus Görlitz und Dresden gut kennt. | |
| Meyer mag den Begriff Brandmauer nicht. Doch von | |
| Kommunalpolitiker*innen wie ihm hängt es ab, ob das, was damit | |
| bezeichnet wird, funktioniert: eine klare Grenze zu ziehen zwischen | |
| demokratischen Konservativen und antidemokratischen Rechtsradikalen. Und | |
| der AfD den Zugang zur Macht zu versperren. | |
| Nicht allen in der sächsischen CDU scheint diese Verantwortung bewusst zu | |
| sein. Es gebe etliche Parteifreunde, die eine Zusammenarbeit mit der AfD | |
| herbeisehnten oder „mindestens eine Tolerierung“, sagte Marco Wanderwitz, | |
| Magwas’ Ehemann, jüngst dem Spiegel. Immer wieder werden Fälle der | |
| Zusammenarbeit mit der AfD bekannt. | |
| ## Verlegung von Stolpersteinen verhindert | |
| In Limbach-Oberfrohna etwa verhinderten CDU und AfD gemeinsam die | |
| Verlegung von Stolpersteinen für zwei Opfer der Nazis, weil diese | |
| Kommunisten waren. In Plauen untersagte der Stadtrat auf Antrag der AfD dem | |
| örtlichen Theater das Gendern, CDU, FDP und Freie Wähler stimmten zu. Und | |
| bundesweit für Aufmerksamkeit sorgte der Kreistag von Bautzen. | |
| Im Dezember hatte CDU-Landrat [3][Udo Witschas] eine Videoansprache, | |
| gespickt mit flüchtlingsfeindlichen Ressentiments, gehalten. Dann wurde | |
| bekannt, dass Witschas und fast die ganze CDU-Kreistagsfraktion mit ihren | |
| Stimmen einem AfD-Antrag zur Mehrheit verholfen hatten, der Flüchtlingen | |
| unter bestimmten Bedingungen Integrationsleistungen absprach. Ein Verstoß | |
| gegen die Beschlusslage der Bundespartei. | |
| Es habe regen Telefonverkehr zwischen Berlin, Dresden und dem Landkreis | |
| gegeben, hört man dazu aus unterschiedlichen Ebenen der CDU. Merz hatte | |
| einst jedem ein Parteiausschlussverfahren angekündigt, der die Hand hebe, | |
| um mit der AfD zusammenzuarbeiten. Sein Generalsekretär, damals noch Mario | |
| Czaja, distanzierte sich öffentlich von der Kreistagsfraktion, Sanktionen | |
| aber gab es keine. Aus der Landes-CDU ist dazu zu hören, es sei doch | |
| wichtiger, dass so etwas nicht mehr vorkomme. Man brauche Leute wie | |
| Witschas, denn andere gebe es vor Ort nicht. Und ohnehin würden Machtworte | |
| aus Berlin die Renitenz vor Ort eher steigern. | |
| „Wenn die AfD etwas einbringt, dem ich voll zustimmen kann, dann stimme ich | |
| dafür,“ betonte Matthias Grahl, der Fraktionschef der CDU im Kreistag, | |
| unlängst in der Zeit. Und: „Ich kann unseren Bürgern auch schlecht | |
| erklären, dass ich diese Partei mit allen Mitteln ausgrenzen müsste.“ Auch | |
| von Landrat Witschas ist keine Einsicht zu vernehmen. Die taz hätte gern | |
| auch mit ihm gesprochen, Witschas ließ absagen. | |
| Zu einem Treffen bereit ist Karsten Vogt, der CDU-Oberbürgermeister der | |
| Stadt Bautzen. Das Rathaus, ein altes Gebäude mit Turm, leuchtet gelb in | |
| der Augustsonne. Vogt setzt sich in seinem Büro an den Kopf des großen | |
| Besprechungstischs. Bevor er im vergangenen Jahr gewählt wurde, war er | |
| Leiter eines Gymnasiums. Das hört man ihm an. | |
| Aufregen würde die Leute „über Jahre hinweg“ vor allem die Bundespolitik, | |
| sagt Vogt, das Heizungsgesetz und die hohen Energiepreise etwa, aber auch | |
| „das Thema Flüchtlingskrise, welches auf das Jahr 2015 zurückgeht“. Also | |
| auf damals, als die CDU die Kanzlerin stellte, die mit ihrer Entscheidung, | |
| die Grenzen nicht zu schließen, einen großen Teil der Sachsen-CDU gegen | |
| sich aufbrachte. | |
| Es scheint so, als würde Vogt am liebsten diese ganzen Diskussionen aus | |
| seiner Stadt raushalten. „Mein Ziel ist es, die Stadtgesellschaft | |
| zusammenzuführen.“ Dafür sei persönliche Glaubwürdigkeit wichtig. Ein | |
| Profil. Und Dialog. „Es ist notwendig, die Bürger abzuholen, mit ihnen | |
| über die Dinge zu sprechen, die sie besorgen.“ Die Lausitz müsse nach der | |
| politischen Wende den zweiten Strukturwandel meistern, das gehe nicht von | |
| heute auf morgen. | |
| Vogt hat die Bürgerforen wieder eingeführt, drei gab es schon, mit je 30 | |
| bis 50 Teilnehmer*innen, Eskalationen seien bislang ausgeblieben. Das | |
| erste dieser Gespräche sei eines zum Spreehotel gewesen. In dem ehemaligen | |
| Hotel sind Geflüchtete untergebracht, im vergangenen Jahr sollte das durch | |
| einen Brandanschlag auf das Gebäude verhindert werden. Auf dem Forum seien | |
| von den Bürger*innen Ängste und Befürchtungen formuliert worden, er habe | |
| deshalb im Rathaus eine Sicherheitsrunde mit allen Beteiligten installiert. | |
| „Ich habe gute Erfahrungen damit gesammelt. Wir haben die Befürchtungen | |
| erst genommen, die sind glücklicherweise aber nicht eingetreten.“ | |
| Um in Dialog zu treten, geht Vogt weit, manche sagen: zu weit. Im | |
| vergangenen Oktober ist der Oberbürgermeister auf der Montagsdemonstration | |
| auf dem Kornmarkt aufgetreten, wo sich allwöchentlich eine Mischung aus | |
| Verschwörungsgläubigen, Rechtsextremen und jenen trifft, die Vogt „ganz | |
| normale Bürger“ nennt. Früher ging es vor allem um Corona, jetzt um den | |
| Krieg. Reichskriegsflaggen und die Fahnen der rechtsextremen Freien Sachsen | |
| sind weiter dabei. Er sei angefragt worden, um vorzustellen, was die Stadt | |
| gegen die Energiekrise unternehme, sagt Vogt. „Und ich bin der Meinung, | |
| dass die Leute in dieser Situation ein Auskunftsrecht haben.“ | |
| Dass er dabei auch zu Rechtsradikalen gehe und deren Veranstaltung | |
| aufwerte, leugnet Vogt nicht. „Das ist nicht unproblematisch“, antwortet | |
| er, zögert kurz und sagt dann: „Ich musste mich jedoch zwischen zwei Übeln | |
| entscheiden. Nicht zu kommunizieren, ist auch ein Problem.“ Und montags | |
| gehe auch „ein erheblicher Teil der Stadtgesellschaft auf die Straße“, der | |
| nicht rechtsextrem sei. | |
| ## „Wie alle Parteien“ | |
| Jüngst hat Vogt in einem Interview die AfD-Stadträte in Bautzen vor dem | |
| Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit in Schutz genommen. Die Zustimmung der | |
| CDU-Kreistagsfraktion zum Antrag der AfD sieht er kritisch; dass die CDU | |
| auch im Bautzener Stadtrat für einen Antrag der AfD die Hand hebe, schließt | |
| er nahezu aus. Vogt antwortet oft formal. Als Oberbürgermeister habe er die | |
| Verpflichtung, allen Fraktionen die gleichen Informationen zukommen zu | |
| lassen. Und die AfD habe „wie alle Parteien“ das Recht auf Sitze in den | |
| Ausschüssen. „Wie alle Parteien“, das ist eine Formulierung, die er häufig | |
| benutzt. Man kann daraus eine Normalisierung der AfD lesen. Oder den | |
| Versuch, die AfD nicht auch noch aufzuwerten. Wo Vogt genau steht? Schwer | |
| zu sagen. | |
| Anruf bei Jonas Löschau, der für die Bautzener Grünen im Stadt- und im | |
| Kreistag sitzt. Löschau kritisiert Vogts Demoauftritt und seine Äußerungen | |
| zu den AfD-Stadträten, sagt aber auch: „Mit der CDU in der Stadt Bautzen | |
| kann man zusammenarbeiten.“ | |
| Die Bundestagsabgeordnete Yvonne Magwas, der Landrat Stephan Meyer und | |
| Oberbürgermeister Karsten Vogt haben zum Umgang mit der AfD | |
| unterschiedliche Positionen. Alle drei aber meinen, dass die CDU eine klare | |
| Strategie dazu braucht. | |
| Bei Ministerpräsident Kretschmer ist diese nicht immer zu erkennen. Von | |
| seinen Äußerungen zu Krieg und Migration, ist aus seinem Umfeld zu hören, | |
| sei er überzeugt. Doch immer wieder scheint es, als würde er sich dem Druck | |
| der Straße beugen, um Wähler*innen von der AfD zurückzugewinnen. Hinzu | |
| kommt seine Mission, mit fast allen zu reden. Schon seit er 2017 das | |
| Bundestagsdirektmandat an Chrupalla verloren hat, setzt Kretschmer auf | |
| Bürgernähe. Und das exzessiv. Dabei fehlen immer wieder klare Grenzen. | |
| 2021, während der Pandemie, sprach er selbst mit Coronaleugner*innen, die | |
| ihn vor seinem Privathaus in der Lausitz beim Schneeschippen überraschten | |
| und beschimpften. | |
| Yvonne Magwas sagt: „Inzwischen redet er nicht mehr mit Extremen, das ist | |
| auch gut so.“ | |
| Stephan Meyer sagt: „Ich bin in manchem anderer Meinung, aber die | |
| Zustimmungswerte zeigen, dass Michael Kretschmer für viele Menschen in | |
| Ostdeutschland spricht.“ | |
| Viele in der CDU, auch Kritiker*innen, sind deshalb der Ansicht, im | |
| kommenden Jahr könne nur Kretschmer die AfD schlagen. Die Umfragewerte | |
| scheinen dieser Einschätzung recht zu geben, die CDU liegt bislang vorn. | |
| Doch zu welchem Preis? Die Entwicklung in anderen Ländern zeigt, dass eine | |
| Annäherung mittelfristig vor allem einem nutzt: dem radikal rechten | |
| Original. Ob die Union dies in ihrer Breite verstanden hat, muss man | |
| bezweifeln. Wo sie die Grenze setzt, das ist in der sächsischen CDU nicht | |
| geklärt. | |
| 26 Aug 2023 | |
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