# taz.de -- Bilanz einer Geheimdienstreform: Projekt Verfassungsschutz light | |
> Es war ein Thüringer Experiment: Ein Verfassungsschutz fast ohne V-Leute, | |
> an der Spitze Stephan Kramer, ein jüdischer Liberaler. Hat das geklappt? | |
Bild: „Ich bin kein Masochist.“ Stephan Kramer im Landtag. | |
ERFURT taz | Es ist eine Sondersitzung im Thüringer Landtag, in der sich | |
Stephan Kramer entspannt zurücklehnt. Eine Sondersitzung zu ihm, dem | |
Präsidenten des Landesamts für Verfassungsschutz, einberufen von der AfD. | |
Deren Frontmann Björn Höcke wettert am Pult, Kramer sei als Präsident | |
ungeeignet, er missbrauche sein Amt politisch, weil er die AfD beobachte. | |
„Ein solcher Präsident ist auf gar keinen Fall länger tragbar!“ Und Krame… | |
graues Jackett, grün gestreifte Krawatte, blickt gelassen von der Tribüne | |
nach unten. | |
Er kennt die Vorwürfe, die AfD überzieht ihn damit seit Monaten. Denn | |
Kramer war der Erste in der Riege der Verfassungsschutzchefs, der sich die | |
AfD offiziell vorknöpfte. [1][Im September 2018 erklärte er sie öffentlich | |
zum Prüffall], bescheinigte ihr einen „rechtsextremistischen | |
Sprachgebrauch“. Er steht auch heute dazu. „Ich habe einen gesetzlichen | |
Auftrag, und der lautet, vor extremistischen Gefahren zu warnen.“ | |
Bei der Landtagssitzung vor wenigen Tagen aber sind es vor allem die Worte | |
der Koalitionsvertreter, die Kramer guttun. Man stehe zum | |
Verfassungsschutz, sagt SPD-Frau Dorothea Marx. Sie bedanke sich „mit | |
Hochachtung“ bei Kramer, dass sein Amt „konsequent seiner Arbeit nachgeht“ | |
und die AfD früh auf den Schirm genommen habe. Der Linke Steffen Dittes | |
bekundet, man streite ja gern über den Verfassungsschutz, aber er sei | |
überzeugt, dass sich Kramer um die Demokratie sorge – und die werde eben | |
von der AfD gefährdet. Auch der Grüne Dirk Adams lobt Kramers Vorgehen als | |
„folgerichtig“. Der Antrag, Kramer zu entlassen, wird abgeschmettert. | |
Geballte rot-rot-grüne Unterstützung für Kramers Verfassungsschutz – das | |
gab es zuletzt nicht mehr so oft. Dabei begann alles so anders. | |
## Kramers Ernennung war ein Coup – und ein Experiment | |
Es war ein Coup, [2][als Stephan Kramer Ende 2015 sein Amt als | |
Verfassungsschutzchef in Thüringen antrat]. Seit dem NSU-Desaster lag das | |
Amt in Trümmern. Auch dem Geheimdienst war es nicht gelungen, die | |
untergetauchten Rechtsterroristen aufzuspüren – trotz gut bezahlter Spitzel | |
in deren Umfeld. Stattdessen sorgte der Amtsleiter Helmut Roewer für | |
Kapriolen, der schon bei der Amtseinführung so betrunken war, dass er nicht | |
mehr wusste, wer ihm seine Ernennungsurkunde übergab. | |
Dann kam Kramer. Bodo Ramelow hatte ihn geholt, der Neu-Ministerpräsident | |
von den Linken, beide kennen sich. Kramer, der einstige Generalsekretär des | |
Zentralrats der Juden. Der Lautsprecher. Der Liberale. Der Sozialpädagoge | |
ohne Behördenerfahrung. Der Mann, der nach dem NSU-Versagen eine Resolution | |
unterschrieb, die eine Abschaffung des Verfassungsschutzes forderte. | |
Dazu krempelte die Regierung den Verfassungsschutz um. V-Leute durften nur | |
noch bei Terrorgefahr und mit dem Segen von Ministerpräsidenten Ramelow | |
eingesetzt werden – der zuvor noch selbst jahrelang beobachtet wurde. Und | |
Kramer kündigte an, den [3][Verfassungsschutz transparenter zu machen, | |
Quereinsteiger zu holen, sich eng mit der Zivilgesellschaft auszutauschen]. | |
Es war das wohl aufsehenerregendste Projekt der neuen rot-rot-grünen | |
Regierung. Und ein Kompromiss. Die Linke wollte den Verfassungsschutz | |
abschaffen, die SPD auf keinen Fall. Dann also eine Maximalreform. Und ein | |
Experiment: Geht das, ein Verfassungsschutz light? Eine transparente | |
Behörde, die vom Konspirativen lebt? | |
Nun, nach knapp vier Jahren muss man sagen: Es geht nur bedingt. | |
„Ich würde sagen, ich habe einiges erreicht“, sagt Kramer bei einem Kaffee | |
in der Landtagskantine, hinterster Tisch in der Ecke. Aber er sagt auch: | |
„Ich habe mir manches leichter vorgestellt.“ | |
## Der Geheimdienstchef, der twittert | |
Legt man die üblichen Maßstäbe an, ist seine Bilanz nicht schlecht. | |
Anschläge gab es in seiner Amtszeit in Thüringen nicht. Als dort Neonazis | |
Großfestivals [4][in Themar und anderswo organisierten], hatte Kramers | |
Behörde die Organisatoren im Blick. Auch warnte Kramer früh vor | |
rechtsterroristischen Bedrohungen. Und er ging eine neue, sich | |
radikalisierende Truppe an: die AfD. | |
Aber bei Kramer gelten nicht die üblichen Maßstäbe. Er sollte ja mehr | |
einlösen. Das klappte zumindest in Teilen. Bis heute verzichtet Thüringen | |
weitgehend auf V-Leute, eine Handvoll soll es geben. Auch verkauft Kramer | |
sein Amt öffentlich wie nie zuvor, spricht bei Vereinen, Stiftungen, an der | |
Uni. Er twittert als einziger Verfassungsschutzchef, quer durch alle | |
Themen. Zuletzt etwa zur Nichtförderung von Demokratieprojekten („Da | |
wachsen einem die Haare durch den Hut!“), zum Schmähurteil gegen Renate | |
Künast („unfassbar“) oder zum Tempolimit („leicht zu realisieren“). Un… | |
51-Jährige reiste zu Kommunalpolitikern und fragte, wo sie Probleme mit | |
Extremisten hätten. Die staunten: Ein Besuch vom Verfassungsschutzchef? Und | |
sie erzählten. | |
Dennoch heißt es nun im Wahlprogramm der Linken: Der Thüringer | |
Verfassungsschutz habe in den vergangenen fünf Jahren „keinen Nachweis | |
erbracht“, dass er „Gefahren für die Demokratie abwehren kann“. Dieser s… | |
weiter nicht kontrollierbar und abzuschaffen. „Die Struktur ist immer noch | |
dieselbe“, sagt die Linken-Innenpolitikern Katharina König-Preuß. „Und was | |
der Verfassungsschutz präsentiert, ist längst schon aus der Wissenschaft | |
und von Antifa-Recherchen bekannt, oder beim vermeintlichen | |
Linksextremismus teils haarsträubend.“ | |
Auch weite Teile der Landes-Grünen halten den Verfassungsschutz für | |
verzichtbar. Das Amt hinke analytisch weiter hinterher, sagt deren | |
Innenexpertin Madeleine Henfling. „Und es bleibt ein Fremdkörper in der | |
Demokratie.“ Einzig die SPD bekennt sich zum Verfassungsschutz: Für den | |
Schutz der Demokratie sei dieser eine „Notwendigkeit“. | |
## Widerstand aus der Behörde | |
Tatsächlich konnte Kramer früh ahnen, dass sein Plan nicht ganz | |
funktionieren wird. Er kam allein ins Amt, ohne Gefolgsleute. Rund 100 | |
Mitarbeiter zählt der Thüringer Verfassungsschutz, einige arbeiteten dort | |
schon zu Roewers Zeiten. Und nicht wenige beäugten Kramer von Anfang an | |
kritisch. Als es schließlich um die AfD ging, kam es zur offenen | |
Konfrontation. Ein Mitarbeiter stach eine interne E-Mail des | |
Referatsleiters der Rechtsextremismusabteilung durch, in dem Kramer | |
„falsche und ungenaue Informationen“ über die AfD vorgeworfen wurden. | |
Kramer spricht von „Abgründen“, der Referatsleiter ist versetzt. | |
Aber auch ein alter Kollege von Kramer schoss zuletzt quer: Hans-Georg | |
Maaßen, der gechasste Bundesverfassungsschutzchef. Das Thüringer Amt sei | |
eine „Attrappe“, die „nur noch rudimentär nachrichtendienstliche Aufgaben | |
wahrnimmt“, kritisierte er öffentlich. Das gefährde nicht nur die | |
Sicherheit Thüringens, sondern der ganzen Republik. Kramer nennt die Kritik | |
„unkollegial“. „Und sie stimmt so auch nicht.“ | |
Auch die anderen Verfassungsschutzämter blickten anfangs mit Sorge auf | |
Thüringen, verwiesen auf Gesetze und Regularien, die auch dort weiter | |
gelten müssten. Heute äußert man sich entspannter. „Die Kooperation | |
verläuft vertrauensvoll und reibungslos“, heißt es aus einer anderen | |
Amtsspitze. | |
## „Googeln reicht nicht“ | |
Tatsächlich schwenkte Kramer früh auf Amtslinie ein. Schon nach wenigen | |
Monaten forderte er wieder mehr V-Leute, weil er nur so an die harten, | |
konspirativen Extremisten rankomme. Später wollte er mehr Personal, | |
mindestens 13 Stellen. Aktuell fordert er auch, verschlüsselte | |
Messengerdienste mitlesen dürfen. Und er sagt inzwischen: „Es braucht eine | |
Behörde wie den Verfassungsschutz. Mit ein paar Leuten, die googeln, kommen | |
wir gegen terroristische Bedrohungen nicht an.“ | |
Gesetzte Worte für einen früheren Verfassungsschutzkritiker. Hat also nicht | |
Kramer den Geheimdienst verändert, sondern das Amt ihn? | |
„Sagen wir so“, sagt Kramer, „wir haben beide Federn gelassen“. | |
Allen voran bei den Linken verfolgte man Kramers Agieren argwöhnisch, | |
erinnerte ihn wiederholt an den Koalitionsvertrag. „Sein Wandel zum | |
Verfassungsschutzfan ging mir ein bisschen sehr schnell“, sagt König-Preuß. | |
Krämer räumt ein, dass er „anfangs an Stromleitungen gegriffen habe“. Abe… | |
„Wir verwalten hier nicht Schriftgut. Sondern bei unserer Arbeit stehen | |
unter Umständen auch Menschenleben auf dem Spiel.“ | |
Rot-Rot-Grün machte Kramer dennoch keine Zugeständnisse. Als Seine neuen | |
Stellen, die er auch für Quereinsteiger wollte, wurden ihm verwehrt. Die | |
SPD warnte zwar, man dürfe das Amt nicht aushungern lassen. Die Linke hielt | |
aber dagegen, Kramer könne das auch im Personalbestand lösen. Gleichzeitig | |
baute die Koalition das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft um | |
den Soziologen Matthias Quent auf, in dem sich Wissenschaftler den | |
Rechtsextremismus vorknöpfen – und schickte Geld und Personal dorthin. | |
## „Relikt des Kalten Kriegs“ | |
Bis heute gibt es Linken-Abgeordnete, die nicht mit Kramer reden. „Weil ich | |
jetzt einer der Bösen bin“, lacht der 51-Jährige. Auch Teile der | |
Zivilgesellschaft verweigern den Dialog – trotz aller Umarmungen. Die | |
Demokratieberater von Mobit etwa. Kramer sei „ein netter Typ“, sagt | |
Mobit-Vorstand Sandro Witt. „Aber egal, wer da an Spitze steht, der | |
Verfassungsschutz bleibt ein Relikt des Kalten Krieges.“ Das Amt sei ein | |
politisches Instrument, spähe Menschen aus, habe „viel kaputtgemacht“. Man | |
arbeite lieber mit Quents Leuten zusammen. | |
Kramer behauptet, er verstehe die Reflexe. „Aber ich verstecke mich | |
trotzdem nicht. Es geht mir nicht um Show, ich meine den Dialog ernst.“ | |
Auch die Entscheidungen der Landesregierung respektiere er. Sein Amt gebe | |
dann eben sein Bestes „im Rahmen des Möglichen“. | |
Und hier schob Kramer im Verbund des Verfassungsschutzes durchaus einen | |
Paradigmenwechsel mit an. Als einer der Ersten, schon im Frühjahr 2017, | |
drängte er seinen Geheimdienst, die neurechte Szene und die AfD ins Visier | |
zu nehmen – gegen den anfänglichen Widerstand des Bundesamtschefs Maaßen. | |
Als Kramer Mitte 2018 vorpreschte und die AfD zum „Prüffall“ erklärte, | |
[5][zog das Bundesamt ein halbes Jahr später nach]. | |
Und Kramer warnte im Verfassungsschutz auch früh, man müsse den | |
Rechtsterror mehr in den Blick nehmen – in Zeiten, als man dort vor allem | |
auf Islamisten schaute. Nun, nach dem Mord an Walter Lübcke und dem | |
[6][Anschlag von Halle], geht das Bundesamt auch diesen Weg, er ist | |
unausweichlich. Kramer treffen die Taten doppelt. Weil er hoffte, dass sie | |
doch zu verhindern wären. Und weil er sich im Fall Halle, als Jude, auch | |
als Angegriffener fühlt. | |
## Weiter ein Querschießer | |
Klar ist: Kramer bleibt ein Solitär unter den Verfassungsschutzchefs. Ein | |
offen Liberaler, ein Sendungsbewusster, bisweilen weiter ein Querschießer. | |
Vor allem, wenn es um das NSU-Desaster geht. Wo dieses mancher im | |
Geheimdienstverbund als Vergangenheit abhakt, stellte sich Kramer jüngst | |
hinter die Forderung eines öffentlichen NSU-Aktenarchivs und erklärt, es | |
gebe [7][„unbestreitbar eine dringende Notwendigkeit, den NSU-Komplex | |
weiter aufzuklären“]. | |
„Er hat etwas bewirkt, setzt die richtigen Prioritäten“, sagt die | |
SPD-Politikerin Dorothea Marx über Kramer. „Der Weg ist der richtige.“ Auch | |
die Grüne Henfling lobt Kramers „persönliche Haltung“. „Aber es reicht … | |
Verfassungsschutz eben nicht, nur einen Kopf auszutauschen.“ | |
Kramer selbst sagt, seine Aufgabe sei noch nicht erledigt. Es sei ja gerade | |
etwas in Bewegung. Beim Umgang mit der AfD, beim Rechtsterror oder in | |
Thüringen, wo er mit dem SPD-Innenminister den Rechtsrockfestivals den | |
Kampf angesagt hat. Aber Kramer sagt auch: „Ich bin kein Masochist. Ich | |
kann auch irgendwann wieder anderes machen.“ | |
Die Frage aber wäre dann: Was käme nach Kramer? So viel scheint klar: | |
Rot-rot-grüner würde der Verfassungsschutz danach wohl kaum werden. | |
23 Oct 2019 | |
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Konrad Litschko | |
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