| # taz.de -- Vor der Wahl in Thüringen: Klein, schön und radikal | |
| > Unsere Autorin stammt aus Thüringen. Sie liebt Omas Klöße, die Städte und | |
| > den Wald – und fragt sich, warum Ramelow und Höcke erfolgreich sind. | |
| Bild: Wir Thüringer reden zu gern über Klöße – und zu wenig über die bra… | |
| Wenn meine Oma ihre berühmten Klöße macht, sagt sie immer dazu: „Wir in | |
| Thüringen sagen, der Kloß muss schwimmen.“ Sie meint damit, dass man zum | |
| Kloß viel Soße braucht. Meine Oma hat das schon Hamburgern erklärt, Hessen, | |
| Franzosen und Koreanern. Sie ist eine sehr gute Köchin und eine stolze | |
| Thüringerin. Fragt man sie, was so besonders ist an Thüringen, spult sie | |
| ab: Goethe, Schiller, Luther, Bauhaus. Und ihre Klöße. | |
| Ich liebe die Klöße meiner Oma. Aber ich glaube, wir Thüringer reden zu | |
| gern über Klöße und zu wenig über die braune Soße. | |
| Wenn am Sonntag in Thüringen gewählt wird, dürften die Ergebnisse auf den | |
| ersten Blick ähnlich ausfallen wie in Sachsen und in Brandenburg. Stark, | |
| wahrscheinlich am stärksten wird die Partei des regierenden | |
| Ministerpräsidenten. Stark, vermutlich am zweit- oder drittstärksten wird | |
| die AfD. | |
| Auf den zweiten Blick aber ist in Thüringen einiges anders. | |
| Die Partei des Ministerpräsidenten ist die Linke, die in den anderen beiden | |
| Ländern abstürzte. In Thüringen werden ihr um die 30 Prozent vorausgesagt. | |
| Sie könnte erstmalig stärkste Kraft bei einer Landtagswahl werden. Bei der | |
| letzten Wahl waren die Thüringer Avantgarde: Sie wählten die erste | |
| rot-rot-grüne Landesregierung. | |
| Nun könnte genau das zum Problem werden. Denn was in Sachsen und | |
| Brandenburg gerade so zu gelingen scheint, eine Regierung ohne, oder | |
| besser: gegen die AfD zu bilden, könnte in Thüringen schwierig werden. Wenn | |
| es für Rot-Rot-Grün nicht reicht, reicht es womöglich für keine Koalition. | |
| Denn die CDU will nicht mit der Linken koalieren. | |
| Die Wochen nach der Wahl könnten also ziemlich ungemütlich werden. Dabei | |
| sind die Thüringer, ich auch, eher harmoniebedürftige Leute. Das | |
| Brandenburgisch-Schroffe oder das Sächsisch-Plauderhafte gehören nicht nach | |
| Thüringen. Kritik, Widerspruch lässt man lieber. | |
| Man wähnt sich selbst gern in der Mitte – der Gesellschaft und des Landes. | |
| „Das grüne Herz Deutschlands“ nennt sich Thüringen, wobei es für ein Her… | |
| das das Land am Leben halten soll, ziemlich klein ist: 2,1 Millionen | |
| Einwohner, drittkleinster Flächenstaat. | |
| Was Brandenburg seine Alleen sind und Mecklenburg sein Ostseestrand ist, | |
| das ist Thüringen sein Wald. Im Thüringer Wald steht die Wartburg | |
| (Luther!). Die Orte hier heißen Finsterbergen, Schnepfental, Schwarzbach, | |
| Einsiedel, Oberwind. Sie können sich vorstellen, wie es dort aussieht. Ein | |
| Wald wie im Märchenbuch. | |
| Die bedeutendsten Städte sind wie auf einer Perlenkette entlang der A4 | |
| aufgefädelt: Eisenach, Gotha, Erfurt, Weimar, Jena. Fachwerk, hübsch, ein | |
| Schlösschen hier, eine Burgruine da – Thüringen ist hier lieblich, fast | |
| kitschig. Wer im Sommer mit einem Eis unter der Krämerbrücke in Erfurt | |
| sitzt – der einzig bebauten Brücke nördlich der Alpen –, das Flüsschen G… | |
| vorbeiplätschern und sich die Sonne ins Gesicht scheinen lässt, der fühlt | |
| sich wie in einer ZDF-Vorabendserie. | |
| Wer zu Ostern durch den Ilmpark in Weimar spaziert, jenen, der Goethe zu | |
| seinem „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche“ inspirierte, der wird beim | |
| besten Willen nicht verstehen, warum so viele Thüringer so frustriert und | |
| voller Wut sind, dass sie die AfD wählen. Zwischen 20 und 24 Prozent werden | |
| ihr vorausgesagt. Nur ist die AfD in Thüringen nicht irgendeine. Es ist die | |
| von Björn Höcke. | |
| Den Thüringern geht es gut, materiell gesehen. Die Wirtschaft wächst | |
| moderat, das Lohnniveau steigt, die Pro-Kopf-Verschuldung sinkt. Die | |
| Arbeitslosigkeit ist geringer als im Rest des Ostens. | |
| Was die Thüringer aber eint mit ihren ostdeutschen Nachbarn: Viele fühlen | |
| sich abgehängt. Knapp 60 Prozent der Thüringer leben in Gemeinden mit | |
| weniger als 20.000 Einwohnern. Es sind die Orte, wo die Busse nicht mehr | |
| regelmäßig fahren, das Internet schwach ist, es keinen Bäcker und keinen | |
| Hausarzt mehr gibt. | |
| Nur: Langsames Internet allein macht niemanden zum Rassisten. | |
| Ich bin 1986 geboren, die 90er Jahre waren meine Kindheit. Es war eine | |
| schöne Kindheit, nur die braune Soße, die war eklig. Meine | |
| Sozialkundelehrerin erzählte einmal, nach der Wende, da saßen die netten | |
| Jungs von gestern in Springerstiefeln und Bomberjacke vor ihr. „Eine neue | |
| Mode“, habe sie gedacht, „das trägt man wohl jetzt so.“ Dass sich der gut | |
| versteckte Faschismus der DDR-Zeit nun umso heftiger entlud, erkannten | |
| damals die wenigsten. So konnten sich jene Jungs und Mädchen in | |
| Springerstiefeln ausbreiten. Sich in Jena eine Garage mieten, Sprengstoff | |
| basteln, ein Haus beziehen, das zum „Braunen Haus“ wurde und zum Nest von | |
| NSU und Thüringer Heimatschutz. | |
| ## Über brauen Soße spricht man nicht | |
| Jeder fünfte Thüringer, so die jährliche Umfrage des | |
| [1][Thüringen-Monitor]s, ist rechtsextrem eingestellt. Nicht rechts, | |
| rechtsextrem. Im Landtagswahlkampf war das kaum Thema. Dabei gebe es viel | |
| zu besprechen: Angriffe auf Flüchtlingsheime, Polizisten, die lieber Nazis | |
| protegieren, als [2][die Pressefreiheit hochzuhalten], Thüringen als | |
| [3][beliebter Ort für Rechtsrockkonzerte] und [4][rechte | |
| Kampfsportturniere]. | |
| Bei einer [5][Wahlsendung im MDR] stellen sich die Spitzenkandidaten der | |
| Parteien den Fragen der Thüringer. Björn Höcke steht zwischen den anderen, | |
| als wäre er ein ganz normaler Kandidat. Den Umgang mit der AfD wollen die | |
| Moderatoren unter dem harmlosen Stichwort „Populismus“ diskutieren. Aber | |
| das Publikum hat kaum Fragen. Ein Gast will von Bodo Ramelow wissen, ob die | |
| AfD nicht zu sehr ausgegrenzt werde. Nicht ein Thüringer stellt Höcke eine | |
| Frage zu seinen rassistischen Aussagen. | |
| Nicht einer fragt, welche Verantwortung er für den Schweinekopf hat, den | |
| Rechtsextreme vor zwei Jahren vor einem Moscheeneubau in Erfurt abgelegt | |
| hatten. Auch Höcke hatte gegen die Moschee demonstriert. Stattdessen darf | |
| Höcke seine Partei als „bürgerlich-patriotische Kraft“ beschreiben und von | |
| der angeblich bedrohten Meinungsfreiheit reden. Als ein Hauch von | |
| Widerspruch aufkommt, würgen die Moderatoren die Debatte ab. Man müsse zum | |
| nächsten Thema kommen, der Migration. | |
| Das Problem ist nur: Wenn man über die braune Soße nicht spricht, dann | |
| sieht man sie irgendwann nicht mehr. | |
| Rassismus und Elitenfeindlichkeit reichen in Thüringen bis weit in die | |
| sogenannte bürgerliche Mitte. Jeder Dritte glaubt, dass Thüringen „in einem | |
| gefährlichen Maß überfremdet“ sei. Dabei beträgt der Ausländeranteil unt… | |
| 5 Prozent. Auf jeden Ausländer kommen also vier Rechtsextreme. | |
| ## Mandy statt Fatma | |
| Dass in Thüringen trotzdem ein paar Ausländer leben, ist erst seit dem | |
| Sommer 2015 so. Seitdem sieht man in Erfurt Frauen mit Kopftuch, hört man | |
| in der Straßenbahn Arabisch. Das gab es in meiner Kindheit nicht. Die | |
| einzige Person mit Migrationshintergrund in meiner Klasse war Anastasia aus | |
| Russland. Sie war Spätaussiedlerin, was das bedeutet, wusste ich nicht. | |
| Erklärte uns auch keiner. Eines Tages, in der 7. Klasse, saß sie eben da. | |
| Sprach kein Deutsch, blieb viel allein, bis zum Abi. | |
| Wenn ich mit Freunden spreche, die in Westdeutschland zur Schule gegangen | |
| sind und die ganz selbstverständlich von ihren Mitschülern Fatma und | |
| Miroslav erzählen, ist mir das peinlich. Bei mir gab es nur Mandy und Maik. | |
| Und trotzdem befürchten so viele eine „Überfremdung“. Ein Bekannter von m… | |
| regte sich neulich darüber auf, dass bei einem Volksfest in Erfurt zwischen | |
| Bratwurstbuden und Bierbänken auch asiatisches Essen verkauft wurde. Der | |
| Schriftzug „Asia Nudeln“, vor unserem Erfurter Dom, wie sehe das denn aus? | |
| Auf einer Geburtstagsfeier sagte mir ein Nachbar ins Gesicht, dass uns | |
| Journalisten nicht zu trauen sei. „Das war früher so, das ist heute so. Nur | |
| dass die Ansagen, was ihr schreiben sollt, heute eben von Merkel kommen.“ | |
| Der Mann ist Arzt, er betreibt eine gut laufende Praxis. | |
| Wie konnte es passieren, dass in einem Bundesland, in dem rechtes | |
| Gedankengut so weit verbreitet ist, die erste rot-rot-grüne Regierung an | |
| die Macht kam? | |
| ## Mitte-Bodo ohne Logo | |
| Das Paradoxe ist: Thüringer wie die beiden zitierten Männer wählen nicht | |
| unbedingt die AfD. Sie wählen Mitte-links. Wobei: Mitte-Bodo wäre wohl | |
| treffender. Bodo ist anders, sagen sie. Kein typischer Linker, eher ein | |
| Sozialdemokrat. Auf vielen Wahlplakaten findet sich nicht einmal das Logo | |
| der Partei. Er ist kein Ostdeutscher, was ihn einer Stasi-Vergangenheit | |
| unverdächtig macht. | |
| Nach der Wende stand die PDS in keinem der neuen Bundesländer so schlecht | |
| da wie in Thüringen. Heute steht sie nirgendwo so gut da. Dabei war | |
| Thüringen lange tiefschwarz, 24 Jahre regierte hier die CDU. Bernhard | |
| Vogel, mehr Union ging nicht. Seine Partei wurde von mehr als der Hälfte | |
| der Thüringer gewählt. | |
| Thüringen war immer schon konservativer als der Rest des Ostens. In keinem | |
| anderen ostdeutschen Bundesland leben so viele Christen wie hier. Selbst | |
| Bodo Ramelow bekannte sich in der Lokalzeitung zu seiner „konservativen | |
| politischen Haltung“. Dass er, als Sozialist, gläubiger Protestant ist, | |
| kommt in den konservativen Ecken des Landes gut an. | |
| Was bleibt also von der ersten rot-rot-grünen Landesregierung, abgesehen | |
| vom Ramelow-Hype? Während die Berliner unter großem Getöse den Mietendeckel | |
| beschlossen haben, haben die Thüringer in ihrer Amtszeit kaum für | |
| bundesweites Aufsehen gesorgt. Aber vielleicht war gerade das ihr Erfolg: | |
| Sie haben Rot-Rot-Grün den Schrecken genommen. | |
| Und ausgerechnet im Umgang mit Rechtsextremismus hat die Regierung einiges | |
| geschafft. Sie hat den Thüringer Verfassungsschutz, der in den 90ern dem | |
| NSU zum Aufstieg verholfen hatte, umgebaut. Und auch der gerade | |
| veröffentlichte Abschlussbericht des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses | |
| zeigt, dass die Aufarbeitung hier besser lief als in anderen Bundesländern. | |
| Wenn am Sonntag Rot-Rot-Grün wieder knapp die Hälfte der Stimmen bekommt, | |
| zeigen die Wähler damit: In Thüringen gibt es nicht nur braune Soße. | |
| Bei der Auslieferung der taz vom Montag kann es in Berlin und im Osten zu | |
| Schwierigkeiten kommen. Unsere Berichterstattung zur Landtagswahl in | |
| Thüringen finden Sie aktuell auf taz.de oder im [6][kostenlosen e-Paper]. | |
| 26 Oct 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.landesregierung-thueringen.de/regierung/th-monitor/ | |
| [2] /Thueringer-Polizei-behindert-Journalisten/!5614282/ | |
| [3] https://www.mdr.de/nachrichten/politik/gesellschaft/rechts-rock-thueringen-… | |
| [4] https://www.endstation-rechts.de/news/im-kampf-fuer-die-voelkische-wiederge… | |
| [5] https://www.mdr.de/thueringen/landtagswahl/fakt-ist-wahlarena-erfurt-landta… | |
| [6] https://dl.taz.de/pdf/demo | |
| ## AUTOREN | |
| Anne Fromm | |
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| Stephan Kramer | |
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