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# taz.de -- Behinderte Menschen in den Medien: Wenn Wörter zu Hürden werden
> Leidmedien.de engagiert sich gegen diskriminierende Sprache. Erste
> Verbesserungen stellen sich ein, am Ziel angelangt ist das Projekt aber
> noch nicht.
Bild: Ein Mann im Rollstuhl wird behindert
Berlin taz | Stellen Sie sich vor, 1,6 Millionen Menschen in Deutschland
säßen gefesselt zu Hause. Jeglicher Freiheit beraubt, vollkommen hilflos
und gebrochen.
Das wäre die Realität, würde man die weit verbreitete Formulierung, jemand
sei „an den Rollstuhl gefesselt“, konsequent zu Ende denken. In Deutschland
leben 1,6 Millionen Rollstuhlfahrer_innen. Journalist_innen, die über diese
und andere Menschen mit Behinderung berichten, stellen sie häufig stereotyp
als [1][Held_innen oder Opfer] dar.
„Oft wird nicht auf Augenhöhe berichtet“, kritisiert die Journalistin
Lilian Masuhr – etwa wenn Interviews nicht mit dem jeweiligen Menschen
persönlich, sondern mit Eltern oder Betreuer_innen geführt würden. Masuhr
ist Leiterin von [2][Leidmedien.de] – einer Website, die über klischeehafte
und oft abwertende Sprache informiert. Der Berliner Verein Sozialhelden hat
das Projekt 2012 gegründet, finanziert wird es von der Aktion Mensch.
[3][Daten des Statistischen Bundesamtes] zeigen: Jede_r achte hierzulande
ist behindert. „Wird behindert“, sagt Lilian Masuhr. Wenn eine
Rollstuhlfahrerin nicht in ein Restaurant komme, weil es nur eine Treppe
gebe, dann sei ja nicht der Rollstuhl das Problem, sondern die fehlende
Rampe.
## Kritik am Bundesteilhabegesetz
Die Bundesregierung will die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am
gesellschaftlichen Leben zwar verbessern. Das neue Bundesteilhabegesetz
stößt jedoch auf [4][harte Kritik] vieler Organisationen – darunter der
Deutsche Behindertenrat und die Fachverbände für Menschen mit Behinderung.
Die Kritiker_innen befürchten Leistungseinschränkungen und
Verschlechterungen im Vergleich zur aktuellen Gesetzeslage.
Neben ihrer Online-Aktivität halten die Leidmedien Workshops in Redaktionen
und Organisationen, um über Sprache und Barrierefreiheit zu informieren.
Michel Arriens ist einer der zahlreichen freien Mitarbeiter_innen, die das
Projekt hierbei unterstützen. Arriens ist Vorstandsmitglied des
[5][Bundesverbandes Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien e.V.] (BKMF)
und studiert Medien- und Kommunikationswissenschaften an der Universität
Hamburg. Weil er Probleme mit dem Laufen hat, fährt er Roller – daran
gefesselt ist er nicht. Im Gegenteil: „Der Roller bedeutet für mich
bedingungslose Freiheit.“
Nur wenn ein Mensch selbst erzähle, dass er leide, dürfe man das auch
schreiben, findet Arriens. Dann berichtet er von einem Interview, das sein
Freund Raul Krauthausen – Mitgründer der Sozialhelden – gegeben hat: „Ra…
hat mehrmals gesagt, dass er nicht leidet. Im fertigen Text stand dann das
Gegenteil.“ Arriens ärgert sich darüber, dass Journalist_innen immer wieder
auf die Formulierung „leidet an Kleinwuchs“ und ähnliche Floskeln
zurückgreifen.
## Mehr Kreativität
Beispiele wie dieses bringen die Leidmedien mit zu ihren Workshops – sie
zeigen Ausschnitte aus Filmen und Radiobeiträgen. „Da wird einem schon
deutlich, dass sich immer wieder einseitige Sprachbilder in die
Berichterstattung einschleichen“, erzählt Claudia Plaß. Sie ist Reporterin
beim NDR, den das Projekt im Sommer besuchte. Plaß glaubt, dass derartige
Workshops wichtig seien, um Journalist_innen zu sensibilisieren.
„Schließlich können wir mit unserer Arbeit ja auch Ängste und Vorurteile
abbauen.“
Tatsächlich nehme die Kreativität von Journalist_innen zu, beobachtet
Lilian Masuhr. Sie lobt beispielsweise Versuche, die [6][Wahrnehmung einer
Autistin mithilfe von Bildern] zu erklären oder in einem [7][Artikel über
Legasthenie] auf verschiedene Arten den Lesefluss zu stören.
Auch Michel Arriens sieht positive Entwicklungen in der medialen
Darstellung: Er finde es gut, dass die kleinwüchsigen Schauspieler_innen
Christine Urspruch und Peter Dinklage in den Serien Dr. Klein und Game of
Thrones vollwertige Rollen verkörpern. Viel zu oft würden Menschen mit
Kleinwuchs jedoch noch immer auf diesen reduziert. Die Effekte von Sprache
dürfe man hierbei nicht unterschätzen, sagt Arriens. Denn: „So wie man
schreibt und spricht, so denkt man auch.“
9 Nov 2016
## LINKS
[1] http://www.bpb.de/apuz/221581/behinderung-und-medien-ein-perspektivwechsel
[2] http://leidmedien.de/
[3] https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2015/05/…
[4] /Kommentar-Teilhabegesetz/!5342829
[5] http://bkmf.de/
[6] http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/bild-1074355-960238.html
[7] http://ze.tt/so-nehmen-menschen-mit-legasthenie-texte-wahr/
## AUTOREN
Moritz Clauss
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