# taz.de -- Umstrittene Autismus-Therapie: Ohne Wenn und ABA | |
> Die Therapieform ABA will die Persönlichkeitsmerkmale autistischer Kinder | |
> „löschen“. Das kritisieren Beobachter – und behandelte Autist*innen. | |
Bild: Screenshot aus Schulungsvideo zur „Applied Behavior Analysis“-Therapi… | |
Ein autistischer Junge sitzt vor einem Kindertisch. Darauf liegen vier | |
Bauklötze, zwei gelbe Würfel und zwei blaue Quader. Eine Therapeutin sitzt | |
neben dem Jungen, fast berühren sie sich. Sie setzt einen der Würfel auf | |
einen hochkant stehenden Quader und fordert den Jungen erfolgreich auf, es | |
ihr gleichzutun. Daraufhin ergreift sie das Handgelenk des Jungen und | |
streicht mit den Fingern über seinen Arm, bis sie seinen Oberkörper | |
erreicht. Dann beginnt sie, ihn mit beiden Händen zu kitzeln, nähert sich | |
seinem Gesicht und küsst ihn auf die Wange. | |
Schon bei der ersten Berührung versuchte der Junge die Hand wegzuschieben, | |
jetzt dreht er sich von der Therapeutin weg, in seinem Gesicht ist keine | |
Freude, im Gegenteil. Die Szene stammt aus einem Schulungsvideo zur | |
„Applied Behavior Analysis“-Therapie (ABA) mit dem Titel „Reinforcement�… | |
Gemeint ist damit die Verstärkung durch eine Belohnung, die der autistische | |
Junge für seine Kooperation erhält. In diesem Fall unerwünschten | |
Körperkontakt. | |
Etwa eines von hundert Kindern ist laut aktuellen Zahlen autistisch. Das | |
Verständnis von Autismus kann man getrost geteilt nennen. Das zeigt allein | |
der Streit um die Begrifflichkeit. Sprechen manche noch immer von einer | |
tiefgreifenden Entwicklungsstörung, so benutzt der „DSM-5“ der | |
Amerikanischen psychiatrische Gesellschaft als Klassifikationssystem | |
psychischer und psychiatrischer Auffälligkeiten bereits den Begriff des | |
Autismusspektrums – ohne den Zusatz der Störung. Ebenso geteilt wie die | |
Meinung zur Definition von Autismus ist folglich die zur Notwendigkeit | |
einer Therapie. Zu den umstrittensten Therapie- beziehungsweise | |
Lernmethoden zählt die ABA. | |
## Denkschule des Behaviorismus | |
Die Therapie basiert auf der Verhaltensanalyse, auch Behaviorismus | |
genannten Denkschule der Psychologie. Der Behaviorismus sieht den Menschen | |
als „leeres Blatt“, welches nach Belieben mit Inhalten gefüllt | |
beziehungsweise gelöscht werden kann. Zwar geriet die Denkschule unter | |
anderem durch ihren Anteil an Konversionstherapien für Homosexuelle in den | |
1970er Jahren in Verruf, doch ganz verschwunden ist das damit verbundene | |
Gedankengut aus Psychologie und Erziehungswissenschaften nie. | |
Die Anwendung von ABA zur Therapie von Autismus wird heute kritisch | |
beurteilt, denn sie beruht auf einem der dunkelsten Kapitel des | |
Behaviorismus: den Experimenten Ole Ivar Lovaas’, der autistische Kinder zu | |
„heilen“ versuchte. Für Lovaas waren Autisten „nur im physischen Sinne | |
Personen, aber keine Persönlichkeit im psychologischen Sinne“. Seine | |
Aufgabe sah er im Konstruieren und Aufbauen einer Person aus deren | |
Rohmaterial. Um dieses Ziel zu erreichen, setzte er Ohrfeigen und | |
Elektroschocks ein. | |
Diese sind heute zwar nicht mehr Teil der ABA-Therapie, aber „ABA will das | |
Verhalten autistischer Kinder verändern, ohne die Gründe für ihr Verhalten | |
zu hinterfragen“, sagt Katja S., Mutter eines autistischen Kindes. Sie | |
möchte anonym bleiben, da sie für ihre Kritik an der Therapie | |
Beschimpfungen und Drohungen von deren Befürwortern befürchtet. | |
Im Rahmen der ABA-Therapie wird das Verhalten des zu behandelnden Kindes | |
permanent analysiert und in von Therapeut*in und Eltern festgelegtes | |
erwünschtes und unerwünschtes Verhalten eingeteilt. Ersteres soll | |
verstärkt, Letzteres gelöscht werden. Gemeinsam mit den Eltern definieren | |
die Therapeut*innen willkürlich eine Norm. Wie das Kind sich zu entwickeln | |
hat und in welcher Geschwindigkeit, ist von nun an exakt vorgegeben. Als | |
solches definiertes Fehlverhalten beschreibt eine Mutter im Internetforum | |
Rehakids etwa das Zuziehen der Vorhänge, weil das Kind sich vom Licht | |
geblendet fühlt, nicht zum Essen zu kommen, wenn das Kind gerufen wird, die | |
Rinde von einer Scheibe Brot abzureißen und nicht mitzuessen. Dinge, die | |
bei nichtautistischen Kindern wohl kaum Aufsehen erregen würden. | |
## Enormer Theraphie-Umfang | |
Enorm ist der Umfang, den die ABA-Therapie im Leben autistischer Familien | |
einnehmen soll. Das Bremer Institut für Autismusforschung, das von der | |
Aktion Mensch geförderte Frühtherapien anbietet, gibt an, dass eine | |
erfolgreiche Therapie mindestens 40 Wochenstunden, aber am besten die | |
gesamte Wachphase des Kindes umfassen sollte. Typische Merkmale für | |
Autismus wie Wippen mit dem Körper oder das Entwickeln von | |
Spezialinteressen, die Autist*innen helfen, mit der für sie überfordernden | |
Welt zurechtzukommen, werden unterbunden. Ziel ist, dass sich das Kind nach | |
außen möglichst wenig autistisch verhält. | |
„Jedes Verhalten hat einen Grund und diesen zu sehen, ist der Schlüssel zu | |
vielen Fragen. Das Training richtet im Inneren großen Schaden an, auch wenn | |
man dies nicht sofort sieht. Im Grunde ist die Anwendung von ABA ein | |
Zeichen dafür, dass das Kind in seiner Persönlichkeit, die den Autismus | |
beinhaltet, nicht akzeptiert wird“, sagt Katja S. „Insgesamt braucht man | |
bei der Erziehung eines autistischen Kindes viel Geduld, weil unsere Kinder | |
einen ganz eigenen inneren Zeitplan haben. Und wir sollten ihnen viel mehr | |
zutrauen. Sie finden ihren Weg, wenn wir sie liebevoll fördern, aber nicht, | |
wenn wir sie zu etwas zwingen und sie an eine Norm anpassen wollen.“ | |
## Fragwürdige Erfolge | |
Zahlreiche Studien bescheinigen der ABA-Therapie übrigens eine hohe | |
Effektivität. Für Misha Anouk ist das kein Wunder. „ABA ist unterm Strich | |
klassische Konditionierung“, sagt er. Der Sektenexperte und Autor des | |
Buches „Goodbye, Jehova!“ ist selbst Autist. „Die Wirkung einer | |
psychologischen Manipulation ist empirisch messbar. Wenn nun Studien | |
feststellen, dass Autist*innen erfolgreich konditioniert werden können, | |
sich unauffällig zu verhalten und ihre eigentliche Persönlichkeit zu | |
unterdrücken, ist das keine Überraschung – aber ein fragwürdiger Erfolg.“ | |
Amy Sequenzia, eine nonverbale Autistin und Aktivistin, schlägt in eine | |
ähnliche Kerbe. Es sei unethisch und eine Form des Missbrauchs, die | |
Umerziehung von Autist*innen in augenscheinlich nichtautistische Personen | |
als Erfolg zu bezeichnen, sagte sie der britischen Zeitung The Guardian. | |
Misha Anouk führt dazu aus: „Bei ABA geht es darum, das nach außen | |
sichtbare Verhalten einer Person an ein definiertes System anzupassen. Die | |
Bedürfnisse des Einzelnen werden zugunsten der Befindlichkeiten des Umfelds | |
zurückgestellt. Ich sehe in der Therapieform von ABA große Parallelen zur | |
Umerziehung von Menschen in Sekten wie den Zeugen Jehovas.“ | |
Berichte von Eltern und ehemaligen Therapeut*innen deuten darauf hin, dass | |
beide Gruppen mit Methoden auf ABA eingeschworen werden, die beinahe | |
religiös wirken. So berichtet eine Mutter im Forum Rehakids: „die familien, | |
die nach wie vor aba/vb anwenden, mit denen ich befreundet bin, mit denen | |
ein reger Austausch stattgefunden hat, sind nach dem outing meiner tochter, | |
[…], abgewandt von mir; […]. und ich werde geschnitten und gemieden, weil | |
ich zu meiner tochter stehe und ihr glaube.“ (Schreibweise wie im | |
Original). | |
Zu diesem Vorgehen ergänzt Misha Anouk: „Teilnehmende Familien werden unter | |
Druck gesetzt, der Erfolg der Eltern an dem Grad der Umerziehung ihrer | |
autistischen Kinder gemessen, Kritik von innen wird radikal unterbunden und | |
man immunisiert sich gegen Kritik von außen – alles Merkmale einer Sekte.“ | |
Es ist den meisten Anbietern und Eltern, die ABA anwenden, zu unterstellen, | |
dass sie es gut meinen. Aber die Frage muss erlaubt sein, ob das Ziel, | |
einen Menschen einer selbst definierten Norm zu unterwerfen, statt ihn in | |
all seinen individuellen Bedürfnissen zu fördern, ein wünschenswertes Ziel | |
auf dem Weg zur Inklusion ist. | |
„Ich habe im Zusammenleben mit meinem Kind in all den Jahren gelernt, dass | |
das Wichtigste ist, den Autismus zu akzeptieren, und nicht gegen ihn | |
anzukämpfen“, sagt Katja S. „Selbstverständlich bedeutet das auch, dass | |
Kinder gefördert werden müssen, aber nicht um den Preis, dass sie sich | |
selbst verleugnen und ihre Persönlichkeit verbiegen. Mit Angst und | |
Schuldgefühlen von Eltern zu arbeiten ist in höchstem Maße unseriös.“ | |
2 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Marlies Hübner | |
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