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# taz.de -- Dolmetscherin für Leichte Sprache: Humor funktioniert ganz anders
> Kein Genitiv, kein Passiv und möglichst kurz: Anne Leichtfuß ist
> Simultan-Dolmetscherin für Leichte Sprache – die einzige in Deutschland.
Bild: Anne Leichtfuß in der Ausstellung „Touchdown“ in Bonn
Bonn/Berlin taz | Leicht dahingesagt ist bei Anne Leichtfuß gar nichts.
Auch wenn sie sich kurzfasst, klar ausdrückt, einfach spricht. An einem
Montagmorgen sitzt sie in einer Sprechkabine im Foyer des Paul-Löbe-Hauses
in Berlin, wo die Bundestagsabgeordneten ihre Büros haben. Die
Glaskonstruktion gibt den Blick auf die Spree frei, das Licht draußen ist
milchig, und nebenan im Reichstag wird gleich die Anhörung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales zum Bundesteilhabegesetz beginnen.
Doch weil der Sitzungssaal nicht barrierefrei ist, müssen die rund hundert
Zuhörer und Aktivisten der Anhörung per Videoübertragung im Paul-Löbe-Haus
folgen. Zwei Gebärdendolmetscherinnen sitzen frontal zum Publikum, während
sich zwei Herren vom „Sprachendienst“ des Bundestags Anne Leichtfuß näher…
„Für uns ist das Premiere“, sagen sie. „Wie viele Leute machen das denn?…
Anne Leichtfuß lächelt: „Ich bin die Einzige.“
Leichtfuß, 38 Jahre, rotblond, mit großer Brille, ist Simultandolmetscherin
für Leichte Sprache. Thomas Szymanowicz, ein Mittdreißiger, der das
Downsyndrom hat, sitzt mit Kopfhörer im Publikum. Er wird dank ihrer klaren
Sprache der Debatte folgen. Seitdem die Bundesregierung 2013 die
UN-Behindertenrechtskonvention anerkannt hat, üben sich Institutionen in
größerer Verständlichkeit. Behörden bieten Erläuterungen von
Gesetzestexten, und es gibt Agenturen, die sich auf Leichte Sprache
spezialisiert haben. Doch niemand macht das simultan, außer Anne Leichtfuß.
## „Alle sollten alles verstehen“
Es hat sich so ergeben. Zufall ist es trotzdem nicht. Nach einer
Buchhändlerlehre studierte Leichtfuß in Köln „Onlineredakteur“ und ging …
Frage nach, wie Websites aufgebaut sein müssen, damit Menschen mit
Lernschwierigkeiten sie verstehen. Später absolvierte sie ein Praktikum bei
Ohrenkuss, einer Zeitschrift von Menschen für Menschen mit Downsyndrom –
und blieb als Redakteurin. Für das „No Limits“-Festival in Berlin mit
Behindertentheatern aus aller Welt hatten die Veranstalter zwar Englisch-
und Französischdolmetscher gebucht, doch es gab niemanden für Leichte
Sprache. „Aber alle sollten alles verstehen“, erzählt Leichtfuß. Die
Veranstalter fragten, ob sie sich das zutraue. Sie übte mit
Fernsehnachrichten und sagte Ja. „Es hat unglaublich Spaß gemacht, weil ich
sofort Feedback bekam.“
Da war 2013, seither bekam Leichtfuß immer mehr Anfragen. Simultan
dolmetschen hat sie sich selbst beigebracht. Für das Verschriftlichen von
Leichter Sprache gibt es seit 2009 verbindliche Regeln. Prinzipiell gilt:
Kurze Sätze, kein Passiv, kein Genitiv, kein Konjunktiv. Man kann außerdem
viele Absätze machen, optisch etwas hervorheben. Und es gibt Testleser, oft
zwei. Beim Simultandolmetschen fällt das weg. „Ich muss in den Dialog
gehen“, sagt Leichtfuß, „in den Pausen nachfragen, ob das Tempo stimmt.“
Dafür bleibt im Paul-Löbe-Haus keine Zeit. Fragen der Parlamentarier und
Statements von Experten und Selbsthilfeorganisationen wechseln sich ab,
zweieinhalb Stunden lang. Vor Leichtfuß liegt ein Glossar, um zentrale
Punkte erläutern zu können: „Eingliederungshilfe ist Geld, das für Menschen
mit Behinderung bezahlt wird.“ „Aufhebung der Vermögensanrechnung“
übersetzt sie mit „Wir müssen sparen können“. Die „Vergütungsspirale …
unten“ bedeutet: „Es wird nicht genug gezahlt.“ Es sei eine
Herausforderung, sagt sie hinterher, „langsam zu sprechen, wenn die Redner
gegen Ende ihrer Redezeit immer schneller werden.“
Simultan übersetzen heißt für Leichtfuß: schnell aufnehmen, langsam
wiedergeben. Pausen machen. Sätze strukturieren. Floskeln weglassen –
„weswegen die Redezeit meist doch auf dasselbe hinausläuft“. Prinzipiell,
glaubt sie, sei alles in Leichte Sprache übersetzbar. „Mein größter Ehrgeiz
ist: Alle Infos müssen rein. Ich versuche nie, den Inhalt zu verändern, nur
Struktur und Form.“ Das Gesagte bekommt eine andere Dynamik, eine
Unmittelbarkeit, die manchmal brutal wirkt, meint Leichtfuß. „Man muss die
Dinge klarer benennen.“ Sprachliche Ausflüchte, Verharmlosungen oder
Euphemismen sind nicht möglich.
## Es herrscht Ausnahmezustand
Die 38-Jährige sitzt im Bonner Redaktionsbüro, wo seit anderthalb Jahren
auch das Forschungsprojekt „[1][Touchdown21]“ zu Hause ist, das sich mit
dem Downsyndrom beschäftigt und aus Ohrenkuss entstanden ist. Leichtfuß
gehört zum Team. Alles an ihr ist an diesem Herbsttag in Goldgelb getaucht:
die langen Haare, die Brille, die orange Strumpfhose, das gelbe Kleid, die
Kette, bis hin zum winzigen Nasenstecker. Durch die Fenster sieht man auf
eine Kreuzung und das noch regennasse Pflaster. Die Häuser sind
zweigeschossig, manche Giebel tragen rheinischen Schiefer. Bonn-Beul. Von
hier ist es nicht weit zur Bundeskunsthalle, wo demnächst die Ausstellung
„Touchdown“ eröffnet wird. Es herrscht Ausnahmezustand.
Leichtfuß ist verabredet: mit Anna-Lisa Plettenberg und Marley Thelen, 22
und 24 Jahre alt. Sie sind Ohrenkuss-Autorinnen und an der Ausstellung
beteiligt, die mit künstlerischen, wissenschaftlichen, historischen,
biografischen Objekten und Dokumenten die Geschichte des Downsyndroms
erkundet. Sie haben persönliche Gegenstände, Plettenberg ihre liebste
Helene-Fischer-CD, und Texte zur Ausstellung beigesteuert, sie werden im
Tandem mit professionellen Museumsführern durch die Ausstellung führen.
Heute treffen sie ihre Tandempartnerin und klären die Stationen der
Ausstellung, an denen sie etwas erzählen. Thelen bleibt vor den Porträts
von Menschen mit Downsyndrom stehen. „Wo bin ich?“, fragt sie. „Da“, sa…
Anna-Lisa. Thelen bleibt versunken vor der Bilderwand sitzen.
Anna-Lisa Plettenberg steuert die Abteilung über den britischen Arzt John
Langdon-Down an, der als Erster im 19. Jahrhundert begonnen hatte, Menschen
mit Downsyndrom zu beschreiben, zu fotografieren, sich um sie zu kümmern.
Über ihn weiß sie Bescheid, sie identifiziert sich mit seiner Arbeit. Die
Kapitel „Spurensuche in der Vergangenheit“ und „Auslöschung“ hingegen …
sie ihrer Tandempartnerin überlassen. Staunend stehen alle vor einem 2.500
Jahre alten Skelett, das laut DNA-Analyse zu einer Frau mit Downsyndrom
gehören könnte.
## Bedürfnis nach Übersichtlichkeit?
„Menschen mit Downsyndrom können sich Zeit schlecht vorstellen“, sagt Anne
Leichtfuß später in der Cafeteria. Anna-Lisa Plettenberg, Marley Thelen und
die Museumsführerin Marie Christine Gerwens-Voß besprechen, wie viele
Jahreszahlen man nennen sollte. Möglichst wenige, sagt Gerwens-Voß aus
Erfahrung. Anne Leichtfuß moderiert. „Gibt es noch offene Fragen? Wie fühlt
ihr euch?“, fragt sie. Plettenberg ist „etwas aufgeregt“. Thelen hat der
Kuchen geschmeckt. Gerwens-Voß freut sich auf die neue Erfahrung. Anne
Leichtfuß sagt: „Wir sind das erste Mal früher fertig.“
Seit mehreren Jahren arbeitet Leichtfuß mit Menschen mit Downsyndrom. Ihr
Ton ist höflich, sie agiert vertraut, aber nicht vertraulich. Kommunikation
findet auf vielen Ebenen statt. Leichtfuß achtet auf ihr Gegenüber – und
auf Distanz. Wenn sie als Übersetzerin gefragt wird, wie von Michael
Szymanowicz in Berlin, ist dies eine Dienstleistung. Szymanowicz kommt
hinterher zu ihr und reicht ihr dankend die Hand. Er hat gut folgen können,
sagt er.
Herrscht in dieser immer komplexer werdenden Welt ein Bedürfnis nach
Übersichtlichkeit? Gar ein Infantilisierungsdrang, wie Sprachpuristen oder
Kritiker sagen würden, die sich darüber mokieren, dass demnächst alles in
Einfache Sprache übersetzt werden könnte. „Nein“, sagt Anne Leichtfuß mit
Nachdruck, „es gibt noch viel zu wenig in dieser Richtung.“ Es geht um
Teilhabe. Nicht nur Menschen mit Downsyndrom nehmen ihre Dienste in
Anspruch, auch Konferenzen, Festivals oder Menschen, die schlicht noch
nicht richtig Deutsch können. Seit dem Flüchtlingszustrom ist die Zahl der
Anfragen „exorbitant gestiegen“. Die Uni Hildesheim hat eine
Forschungsstelle für Leichte Sprache eingerichtet.
## „Touchdown“ – die Ausstellung
Die Leichte Sprache ersetzt Fremdwörter und Fachbegriffe, ist äußerst
reduziert. Ein wissenschaftliches Projekt wie „Touchdown21“ kommt nicht
ohne Fachbegriffe aus, erklärt Leichtfuß, hier benutzen sie die Klare
Sprache. Für Menschen mit geringen Deutschkenntnissen gibt es außerdem noch
die Einfache Sprache, die wiederum anspruchsvoller ist als Leichte Sprache.
„Ich muss sehr tief in die Themen einsteigen“, sagt Leichtfuß, „damit es
verständlich ist, aber trotzdem in den Nuancen richtig und stimmig.“ Doch
gerade das, was Sprache auszeichnet, die sprachliche Nuancierung,
funktioniert mit Leichter Sprache nicht. „Zwischentöne gehen nicht“, sagt
Leichtfuß bedauernd. Und Ironie? Sie winkt ab. „Leider nein.“
Ironie, nein. Spaß, ja. Humor funktioniere bei Menschen mit Downsyndrom
ganz anders, erzählt Leichtfuß. Über Situationskomik. „Die lachen manchmal,
und ich weiß nicht, warum.“ Für die Kommunikation mit der Außenwelt sind
sie auf die Leichte Sprache angewiesen, sprechen aber selbst auf ihre
Weise. Leichtfuß’ Ohrenkuss-Kollegen haben großen Spaß am Schreiben. „Ih…
Sprache ist schön, poetisch und minimalistisch. Ich würde das nie so
hinkriegen.“ Leichtfuß bedauert, dass es so wenige vergnügliche Texte in
Leichter Sprache gibt – sie hat deshalb einen Blog, der in Leichter Sprache
über das Leben von Stars informiert. Anna-Lisa Plettenberg mit ihrem Faible
für Helene Fischer gehört zu ihren treuesten Leserinnen.
Und ist Shakespeare in Leichter Sprache sinnvoll? „Das ist dann immer noch
schön“, entgegnet Leichtfuß. Kann man Sprache so zum Funkeln bringen? „Ja,
klar“, sagt Anne Leichtfuß. „Durch Variationen.“ Wenn es eine kann, dann
sie.
28 Nov 2016
## LINKS
[1] http://Touchdown21
## AUTOREN
Sabine Seifert
## TAGS
Leichte Sprache
Down-Syndrom
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