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# taz.de -- Menschen mit Behinderung: Starke kleine Schwestern
> Sind die Geschwister behindert, läuft vieles im Alltag anders. Vor allem
> im Alter wächst die Verantwortung der Angehörigen.
Bild: Joachim schafft es, jedes Gespräch auf Fußball zu lenken
BERLIN taz | Den grünen Teppich hat sie vor sechs Jahren ausgerollt. Als
flauschiges Fußballfeld liegt er vor dem Bett mit dem
Borussia-Dortmund-Bezug, in dem niemand schläft. Dennoch wäscht Renate
Kratschmer alle paar Monate die Laken. Sie will vorbereitet sein.
Schirmmützen mit Fußballmotiven, Fanketten der Nationalelf und ein
Fernseher warten in dem 15 Quadratmeter großen Zimmer. Warten auf Joachim,
ihren großen Bruder mit Downsyndrom. Sobald die 88 Jahre alte Mutter nicht
mehr kann, wird Renate ihr Versprechen einlösen und Joachim aus dem
bayerischen Frankenwinheim zu sich holen. „Das ist der Moment, vor dem ich
mein Leben lange Angst hatte“, sagt sie.
Renate Kratschmer ist jetzt 60 Jahre alt. Sie führt ein volles soziales
Leben mit Kino, Konzerten und Kurzurlauben an der Ostsee. Das wird sie
umkrempeln müssen. Doch sie will nicht wie die Mutter werden. „Sie hat ihr
Leben für ihn geopfert.“ Und sie nimmt dem Sohn zu viel ab, findet Renate
Kratschmer. „Sein Brot werde ich ihm nicht schmieren, das kann er auch
allein.“
## Johannes liebt das Autofahren
Sie hofft, in Berlin Kontakte für Joachim zu finden, vielleicht jemanden,
der mit ihm zu Herta-Spielen geht. In seinem Heimatdorf ist er gut
integriert, jeder kennt den kleinen Mann mit dem unbeschwerten Witz und den
blauen Knopfaugen. Seinen 60. Geburtstag hat er mit 100 Gästen gefeiert, im
SV Frankenwinheim ist er Linienrichter. Der Abschied wird nicht leicht.
Wenn Ulrike ihren Bruder besucht, packt sie ihn in ihr Auto und fährt los.
Egal wohin. Johannes liebt Autofahren – liebt das Surren und Vibrieren des
Motors, die Fahrtbewegung, vorbeiziehende Häuser und Felder. Johannes kann
sich nur brummend, quietschend und summend mitteilen. Aber er liebt Musik,
vor allem entspannende, ätherische Klänge.
Ulrike ist 24; ihren Nachnamen will sie nicht nennen. Das, was sie sagt,
soll sich nicht auf den Umgang der Pfleger mit ihrem Bruder auswirken.
Johannes ist zwei Jahre älter und schwer mehrfachbehindert. Ulrike hat nur
die ersten vier Jahre mit ihm unter einem Dach gelebt. Mit sechs gaben die
Eltern ihn in eine Wohneinrichtung.
## Therapien für Autisten
Zwar fühlt sich Ulrike ihm sehr nah, dennoch möchte sie im Herbst nach
Oldenburg oder Hannover ziehen, um dort zu studieren. „Meine Eltern sind
für ihn verantwortlich. Ich habe erst mal nur Schwester zu sein. Und
Geschwister wohnen unter Umständen weiter weg voneinander.“ Auch dann, wenn
nur eines der Geschwister dieses „Weiter weg“ überbrücken kann.
Die räumliche Distanz ändert nichts daran, dass die Beziehung zu ihrem
Bruder Ulrikes Berufswahl beeinflusst hat, ebenso wie Renate Kratschmer
arbeitet sie mit behinderten Menschen. Vor ein paar Wochen haben sie sich
im „GeschwisterNetz“ angemeldet. Mitte Dezember hat die Bundesvereinigung
Lebenshilfe e. V. das soziale Netzwerk gegründet.
Zielsicher scrollt Ulrike auf ihrem Smartphone durch die Posts, während sie
in weiten Pluderhosen auf dem Stoffsofa sitzt. Zusammen mit ihrem Freund
wohnt sie im Nordosten Berlins in einer hellen Altbauwohnung mit
Holzdielen. Zucker und Müsli haben sie in Glasgefäße abgefüllt, neben dem
vollen Bücherregal baumelt eine rote Lichterkette. Gerade hat die zierliche
Frau in einem Forum des GeschwisterNetzes auf die Frage geantwortet, welche
Therapien bei Autismus erfolgreich seien. Sie arbeitet in einem Wohnheim
für Autisten.
## Fürsorge als Vorwurf
Detailliert und ein wenig ungehalten hat sie geschrieben, dass man Autismus
nicht wegtherapieren kann. Fragen wie diese regen sie auf. Schon in der
Schule hat sie gefordert, dass „Behinderung“ thematisiert wird.
Diskriminierende Bemerkungen wie „Du bist doch behindert!“ brüsk
weggebügelt. Ihr letzter Freund hat nichts davon verstanden, warf ihr vor,
ihr Leben als Heilerziehungspflegerin wegzuschmeißen, nur „Ärsche
abzuwischen“. Daran zerbrach die Beziehung. Ihr jetziger Freund arbeitet im
selben Bereich wie sie.
Über die Arbeit bei einer Filmförderung und als Taxifahrerin hat auch
Renate Kratschmer mit 40 beruflich dorthin gefunden. Das Pädagogikstudium,
für das sie mit 20 nach Berlin gezogen war, hat sie nie abgeschlossen, die
Eltern damals schwer enttäuscht. Nachdem der erste Sohn nichts geworden
ist, hätte sie es retten müssen, so sahen sie es.
In einer Wohnstätte der Lebenshilfe Berlin tut Renate Kratschmer heute das,
was sie am besten kann: sich kümmern. Sie trägt ihre silbrig weißen Haare
kurz, dazu eine sportliche Reißverschlussjacke und dunkle Jeans. Mit dem
Kümmern hat sie schon als Kind in der Dorfgrundschule begonnen. Ihr Bruder
konnte die nur besuchen, weil der Vater vor einem Sozialgericht dafür
gekämpft hatte.
## Immer ein Legostein in der Hand
Dreimal musste Joachim das erste Schuljahr wiederholen. Erst als Renate
neben ihm saß, hat er von ihr Lesen und Schreiben gelernt. Heute engagiert
sie sich für Flüchtlinge, betreut ehrenamtlich Kalle, einen 51 Jahre alten
Mann mit geistiger Behinderung, und geht mit Mikey spazieren, dem Jack
Russel einer gebrechlichen Nachbarin.
Der kleine Hund zerrt an seiner Leine. Behutsam zieht Renate Kratschmer ihn
in die andere Richtung. Mikey schnuppert am Bordstein, ein paar Meter vor
Renate Kratschmers Stammlokal Robbengatter. Dorthin geht sie oft, wenn der
BVB spielt. „Damit ich mit Joachim reden kann.“ Denn der schafft es, jedes
Gespräch irgendwie auf Fußball zu lenken. Anstrengend ist das. Doch bei
seinem sonnigen Charme sieht ihm die kleine Schwester sehr viel nach.
Ulrikes Bruder hält in der einen Hand immer einen Lego-Duplostein, je nach
Stimmung eine andere Farbe. Gerade geht es ihm nicht gut. Im November hat
er sich das erste Glied des Mittelfingers abgebissen. An seiner linken
Hand. Ausgerechnet – die gute Hand. Auf Ulrikes Schock folgte Mitleid, dann
Wut. Denn die Ärzte hatten Johannes’ Beruhigungsmittel viel zu hoch
dosiert. Seine Sensorik war futsch. Als er sich den Finger abgeknabbert
hat, konnte er das nicht einmal spüren. Ulrike sucht jetzt ein neues
Wohnheim für ihn.
## Verhinderte Möglichkeiten
Johannes hatte als Säugling eine Hirnhautentzündung, die führte zu einer
schweren geistigen Behinderung mit autistischen Zügen und Epilepsie. Er
kann gehen, aber nur unsicher, braucht Hilfe beim Essen und Trinken, kann
sich nicht alleine anziehen und nicht alleine aufs Klo.
Noch lebt er eine gute Stunde Fahrt von Berlin entfernt, in Brandenburg.
Wenn Ulrike erzählt, dass sie es nur alle zwei, drei Monate schafft, ihn
dort zu besuchen, spricht sie schneller. Das schlechte Gewissen schwingt
mit. Eigentlich ist sie pragmatisch. Aber manchmal, wenn sie in Johannes’
Gesicht blickt, sieht sie all die verhinderten Möglichkeiten: „Wenn er
keine Behinderung hätte, hätte er wahrscheinlich im Teenageralter andauernd
neue Freundinnen abgeschleppt.“
Johannes hat Kraft. Die setzt sich unkontrolliert frei, wenn er sich
missverstanden fühlt. Dann beißt er, kneift, stößt mit dem Kopf. Meist
merkt Ulrike vorher, wenn er komisch guckt. Wenn alles gut ist, greift er
ihre schmale Hand und stützt sich darauf.
## Trennung, Haus weg, Panik
Renate Kratschmer hat 18 Jahre in einer Beziehung gelebt. Zusammen hatten
sie ein Haus mit Garten in Berlin-Spandau gekauft – mit Zimmer und Bad für
ihren Bruder. Jeden Sommer kam er einen Monat zu ihnen. Dann vor acht
Jahren: Trennung, Haus weg, Panik: Was wird einmal aus Joachim?
Ihre Mutter hat ihr beim Kauf einer Wohnung in Berlin Schöneberg geholfen –
„damit Joachim ein Zuhause hat“. Doch das lag immer in Frankenwinheim. Als
er volljährig wurde, hatten die Eltern nach einem Wohnheim gesucht. In den
1970ern oft lieblose Orte. Dorthin sollte Joachim nicht. Das ist heute
anders. Doch mit 63 Jahren will er nicht mehr. Er will nach Berlin zu
Renate. „Ich habe ein bisschen Angst, weil es ein großer Einschnitt in mein
freies Leben wird. Aber ich schaff das schon, ich schaff ja immer alles.“
Nach ihrer größten Angst gefragt, erwidert Ulrike etwas Überraschendes:
„Selbst ein Kind mit Behinderung zu bekommen.“ Sie sagt das prompt und
leicht trotzig. Denn auch, wenn sie Johannes nie bei sich aufnehmen wird,
die rechtliche Verantwortung wird sie später tragen. „Zwei Menschen mit
Behinderung und erhöhtem Hilfebedarf, das wäre ein ganz schwerer Klotz, der
auf einem lastet.“
## Unkraut jäten, Fenster putzen, Vorhänge waschen
Renate Kratschmers Verantwortung wächst täglich. Sie verbringt seit zehn
Jahren fast ihren ganzen Jahresurlaub in dem ehemaligen Bauernhaus in
Franken statt an der Ostsee. Alle zwei Monate fährt sie eine Woche zur
Mutter, die immer schlechter zu Fuß ist und nicht Auto fahren kann. Dann
jätet Renate Unkraut, putzt Fenster, wäscht Vorhänge, fährt Mutter und
Bruder zu Arztterminen. Doch das System ist fragil, das Handy immer in
Griffweite.
Wenn es vibriert und die Vorwahl „0 93 82“ aufleuchtet, dreht sich ihr
Gedankenkarussell: Was wird passieren, wenn die Mutter stirbt und Joachim
zu ihr kommt? Wenn die Panik zu groß wird, hört sie auf zu denken. Die
Mutter hat ja versprochen: „Ich lebe so lange, bis du in Rente gehst.“
Noch fünfeinhalb Jahre. Anna Kratschmer wäre dann fast 94. Vor drei Wochen
dachte Renate Kratschmer: Jetzt. Die Mutter kam mit Wasser in der Lunge und
Nierenversagen ins Krankenhaus. Kurz danach ihr Bruder: Verdacht auf
Thrombose. Das Schreckensbild: zwei Pflegefälle. Doch beide haben sich
wieder hochgerappelt. Renate Kratschmer hofft, dass sie den März noch hat,
den April, den Mai – vielleicht schafft sie es diesen Sommer noch an die
Ostsee.
28 Mar 2016
## AUTOREN
Astrid Ehrenhauser
## TAGS
Familie
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