# taz.de -- Dokumentarfilm „Unzertrennlich“: Im Schatten der Geschwister | |
> Wie ist es, als Kind immer die zweite Geige zu spielen? Im Dokumentarfilm | |
> „Unzertrennlich“ kommen die Geschwister von schwer kranken Kindern zu | |
> Wort. | |
Bild: Für alle eine schwierige Situation: Gustav mit seiner Schwester Alma bei… | |
Bremen taz | Wie ist das, wenn Kinder nie die ungeteilte Aufmerksamkeit | |
ihrer Eltern haben? Weil es einer Schwester oder einem Bruder immer | |
schlechter geht als ihnen, weil diese ständig betreut werden müssen, weil | |
für sie schließlich nur noch wenig Liebe und Zeit von der Mutter und dem | |
Vater übrig bleiben? Wie wichtig ist da noch die schwere Grippe von Svea, | |
wenn der Bruder Torre Lymphdrüsenkrebs hat? Und wenn die kleine Selin mit | |
einem Herzstillstand ins Krankenhaus gebracht wird, kann man dann der | |
Mutter einen Vorwurf machen, weil sie ihren noch kleineren Sohn Eymen in | |
der Badewanne vergessen hat? | |
Die Filmemacherin Frauke Lodders hat vier von diesen Geschwisterkindern ein | |
Jahr lang mit der Kamera begleitet, weil es „gegen ihren Gerechtigkeitssinn | |
geht, wenn Menschen übersehen werden“. Dabei gibt es in ihrem Film | |
„Unzertrennlich“ so gut wie keine Vorwürfe gegen die Eltern und die Kinder | |
gehen liebevoll mit ihren hilfebedürftigen Geschwistern um. Aber dieses | |
eine Mal stehen sie im Mittelpunkt – und Frauke Lodders lässt sie erzählen, | |
verzichtet ganz auf einen eigenen Kommentar und verlässt sich stattdessen | |
darauf, dass der Zuschauer sich jeweils selber in solchen Situationen | |
zurechtfindet. | |
Max ist inzwischen selber Vater, seine Schwester Judith ist schon vor | |
einigen Jahren gestorben, an einer Stoffwechelkrankheit und „in seinen | |
Armen“. Daran, wie er von ihr spricht und wie er ihr ehemaliges | |
Kinderzimmer zeigt, spürt man, dass sie noch in ihm weiterlebt. Aber Max | |
hat auch einen großen Freiheitsdrang, will mit Frau, Baby und Hund in einem | |
Wohnmobil auf große Reise gehen, denn früher war er „nie weit weg von | |
Judith“. | |
Gustav hat in der Schule einmal Ärger bekommen, als er sich gegen Schüler | |
gewehrt hat, die sich über seine behinderte Schwester Alma lustig gemacht | |
haben. Seine Mutter findet das im Grunde ganz in Ordnung: „Auf jeden Fall | |
wird er kein Arschloch.“ Als Gustav nach der Geburt von Alma „von seinem | |
Prinzenthron absteigen musste“, wurde er plötzlich schlecht in der Schule | |
und begann zu stottern. | |
## Heilsames Warten | |
Als seine Mutter dann schließlich mit ihm zu einer Sprachtherapie ging, | |
merkte sie, dass die Zeit, die sie mit ihm im Wartezimmer saß, heilsamer | |
für ihn war als die eigentliche Behandlung. Jetzt kümmert er sich fast noch | |
intensiver um sie als die Eltern. Mit Zeichensprache kann er so gut mit ihr | |
kommunizieren wie kein anderer, und bei seiner eigenen Konfirmation fühlt | |
er sich nicht wohl, weil er „nicht gerne im Mittelpunkt steht.“ | |
Eymen ist der Kleinste unter den Geschwisterkindern. Neben seiner Schwester | |
Selin hat er noch den älteren Bruder Eray. Da Selin schlecht schlafen kann, | |
hat auch ihre Mutter seit 13 Jahren keine Nacht durchschlafen können. Lange | |
hatte sie Angst vor dem Kinderhospiz, weil sie dachte, da sterben die | |
Kinder. Aber nun wird ihre Tochter dort wie eine Prinzessin behandelt, und | |
inzwischen geht sie oft und gerne mit ihr hin. | |
Und wenn Eymen so ruppig mit Selin spielt, dass man es für ein | |
schmerzhaftes Gerangel halten könnte, wenn man nicht sehen würde, wie viel | |
Spaß sie dabei haben, dann haben beide offensichtlich die Kamera vergessen. | |
Es gibt viele von diesen intimen Alltagsmomenten und nur weil ein starkes | |
Vertrauensverhältnis zwischen den Filmenden und den Gefilmten bestand, | |
konnten sie eingefangen werden. | |
## Abenteuerliche Produktionsbedingungen | |
Auch Frauke Lodders hat ihren Protagonisten so weit vertraut, dass sie sie | |
erst am letzten Drehtag die Einverständniserklärungen hat unterschreiben | |
lassen. Bis zum Ende hätten sie aus dem Projekt aussteigen können. Dies ist | |
bei Dokumentarfilmen sehr ungewöhnlich und einer der Gründe dafür, warum | |
Lodders ihren Film ohne das Geld von einem Fernsehsender gemacht hat. Denn | |
für einen Redakteur wären diese Produktionsbedingungen viel zu | |
abenteuerlich gewesen. | |
Lodders arbeitete also mit vollem Risiko und um sich abzusichern, hat sie | |
fünf Familien porträtiert, denn sie war sich sicher, dass mindestens eine | |
davon die Zusammenarbeit abbrechen würde. Doch alle blieben dabei. Weil sie | |
so aber zu viel Material für ihren Film hatte, entschied sich Lodders, eine | |
Geschichte auszugliedern, aus der nun eine Episode für die ARD- | |
Dokumentarserie „Echtes Leben“ wird. | |
200 Stunden lang haben die beiden Kameramänner Tim Schwarz und Fabian | |
Schmalenbach bei den vier Familien gedreht, oft zu besonderen Gelegenheiten | |
– das Zuckerfest bei der türkischen Familie, ein Urlaub in Dangast von | |
Gustav und seiner Familie, der Auszug von Svea aus ihrem Elternhaus oder | |
ein Nachmittag, an dem Max sein Wohnmobil von Freunden und seiner Familie | |
zur Erinnerung an Judith bemalen ließ. Da wirkt nichts forciert und gerade | |
weil die Kamerarbeit so zurückhaltend ist, kommt man den Menschen in diesem | |
Film sehr nah, ohne dass er jemals voyeuristisch wirken würde. | |
Produziert wurde „Unzertrennlich“ von der Bremer Firma Kinescope, die Musik | |
hat der Bremer André Feldhaus die Musik gemacht. Mit ihm hatte Frauke | |
Lodders schon für ihren Abschlussfilm für die Kunsthochschule Kassel, | |
„Morpheus“, zusammengearbeitet. Wie die Bilder ist auch die Musik nie | |
manipulativ, verstärkt nicht die Emotionen, sondern vermittelt eine leise | |
Gelassenheit. | |
17 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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