# taz.de -- Kind mit Downsyndrom: Angst vor Deniz | |
> Die ganze Welt sprach über Baby Gammy – aber wie fühlt es sich eigentlich | |
> an, einen Bruder mit Downsyndrom zu bekommen? Unsere Autorin weiß es. | |
Bild: „Sie hatte den Kopf zur Seite gesenkt und schaute Deniz wie einen Fremd… | |
„Dies sind Aufzeichnungen über die Angst, die einen so großen Raum in | |
meinem Leben einnahm, die so wunderbare geistige Impulse in meiner | |
Generation erstickte, unsere Charaktere verbog und kraftlos machte und so | |
bittere Erinnerungen hinterließ.“ | |
Dies sind Worte des russischen Schriftsteller Daniil Granin, die ich immer | |
bei mir trage – weil sie mich daran erinnern, wie irreführend Angst sein | |
kann. Denn das Gefühl der Furcht überrumpelte unsere Familie ganz | |
unerwartet, meine Mutter wäre fast daran zerbrochen. | |
Es war am 3. August 1991. Ich stand morgens auf und ging ins Wohnzimmer. | |
„Der Junge ist da“, sagte meine Schwester, während sie müde ausschauend am | |
Wohnzimmertisch saß. Ich achtete auf das wenige Licht, das durch die | |
Gardinen in unsere dunkle Wohnung fiel und die Schwester ein wenig weicher | |
erscheinen ließ. Von diesem Moment an war unser Leben nie wieder so, wie es | |
früher war. | |
Meine Mutter war zur Beobachtung schon seit einigen Tagen im Krankenhaus. | |
Mitten in der Nacht war ihre Fruchtblase geplatzt, sofort wurde eine | |
Operation eingeleitet. So kam zwei Wochen vor dem errechneten Termin mein | |
Bruder Deniz auf die Welt. Weil er eine Notgeburt war, musste er sofort in | |
ein etwa 30 Minuten entferntes Kinderkrankenhaus verlegt werden, ohne dass | |
meine Mutter ihn hatte sehen können. | |
## Ohne dass die Mutter ihn sah | |
So vergingen etwa zehn Tage, wir besuchten abwechselnd unsere Mutter und | |
meinen Bruder, die immer noch in unterschiedlichen Kliniken lagen, sprachen | |
selten über unseren Familienzuwachs, schlichen um das Kinderbett und | |
trödelten so vor uns hin. Es waren Schulferien, ich traf mich mit | |
Freundinnen, wir gingen ins Schwimmbad. | |
## Wir schlichen ums Kinderbett | |
Ich werde diesen Tag niemals vergessen. Einerseits ist vieles verschwommen, | |
ich habe das Gefühl, die Szenen durch Milchglas zu betrachten. Andererseits | |
sind manche Details so eingebrannt, ich würde sie gern verbannen. Zu dritt | |
fuhren wir ins Kinderkrankenhaus, ein freundliches Gebäude mit viel Grün | |
drum herum, die Gänge der Neugeborenenstation hell und überall bunte | |
Dekoration. | |
Es war ein Vormittag, links den Gang entlang war das Zimmer, in dem Deniz | |
mit anderen Babys lag. Als wir bei der Krankenschwester nach ihm fragten, | |
wurden mein Vater und meine Schwester zum Stationsarzt gerufen. Wir haben | |
nie darüber nachgedacht, dass etwas nicht stimmen könnte. Warum auch? Dass | |
er eine Nackenfalte, eine Sattelnase und schräg stehende Augen besaß, sahen | |
wir nicht. Von dem Downsyndrom hatten wir noch nie gehört. | |
Die beiden schlurften davon, während ich durch eine Scheibe auf den fremden | |
Menschen schaute, welcher mein Bruder war. In einem weißen Strampler, ganz | |
klein und mit viel Babyspeck lag dieses Persönchen friedlich da, die | |
Gesichtszüge waren entspannt, seine Augen geschlossen, er hatte rosige Haut | |
und viele flauschige Haare, die winzigen Händchen waren zusammengeballt. | |
Doch in diesem Moment war ich eher gelangweilt, wollte mich mit einer | |
Freundin treffen. Es war die Zeit, als ich mit dem Rauchen anfing, zur | |
Tanzschule ging, mich heimlich für Jungs interessierte, beim wöchentlichen | |
Tanztee manchmal an einem Glas Sekt nippte und dies ganz wild fand. Familie | |
störte da nur. | |
## „Er ist behindert“ | |
Es vergingen etwa 15 Minuten, dann kam meine Schwester allein zurück, sie | |
weinte laut und wischte sich die Nase. „Er ist behindert“, sagte sie und | |
schluchzte für alle Umstehenden hörbar. Ich schaute sie nur an und verstand | |
nichts. Ich wusste nicht, was ich denken sollte, war nur noch Fassade und | |
Fassungslosigkeit, ich fühlte mich nicht mehr. Ich habe nie die richtigen | |
Worte gefunden, mit denen man jenen, die so etwas nicht erlebt haben, | |
erzählt, was für eine besondere Art von Angst das ist. | |
„Er wird nicht lange leben“, verschluckte meine Schwester ihre Worte, und | |
die Tränen kullerten ihre prallen Wangen herunter, glitten in ihr | |
schulterlanges schwarzes Haar. Ihre Worte waren wie Ziegelsteine, die | |
schwer und direkt auf meinen Kopf zielten. Alles um mich herum verschwamm. | |
Ich fragte nicht, was für eine Behinderung es sei, ich sagte überhaupt | |
nichts. Ich hörte nur noch die Worte „Heim“ und „Tod“. | |
Mein Vater kam hinterher, sein Gesicht war hängend und leer. Mit gesenktem | |
Kopf schaute er auf den grauen Linoleumboden, während wir Töchter heulten. | |
Als er dann doch endlich etwas sagte, blickte er uns nicht an. „Er wird | |
also nicht lange leben“, wiederholte er leise die Worte des Arztes. Ich | |
gefror mitten auf diesem Gang, in den Augen meiner Schwester und meines | |
Vaters erkannte ich, dass es bitterer Ernst war. | |
## Entsetzliche Minuten, in denen ich nichts spürte | |
Was wir dann machten, weiß ich nicht mehr. Diese Momente sind vollkommen | |
verschwunden, egal, wie sehr ich mich zu erinnern versuche. Ich kann mich | |
an kein Gefühl erinnern, an keine Gedanken, ob ich etwas zu meiner | |
Schwester und zu meinem Vater gesagt habe. Ich kann mich nicht einmal an | |
ein Bild erinnern. Alles ist verschwunden von diesen entsetzlichen Minuten, | |
die mich daran hinderten, überhaupt etwas zu spüren. | |
Behindert? Was heißt das? Körperlich und geistig Behinderte gab es bei uns | |
nicht, weder in der Familie noch im Freundeskreis. In der Nachbarschaft | |
wohnte ein geistig behinderter Junge, den wir Kinder manchmal auslachten | |
und mit dem wir dumme Späße machten. Wenn er sich aufregte, war das ein | |
Ansporn, noch fieser zu werden. | |
Seine Eltern schimpften manchmal, was uns herzlichst egal war. Wir rannten | |
einfach weg und machten bei der nächsten Gelegenheit weiter. Mein Bruder | |
sollte also genauso sein wie der da? Und wer sollte meiner Mutter sagen, | |
dass ihr Sohn nicht lebensfähig ist? | |
## Er würde nichts lernen | |
Ich war fest davon überzeugt, mein Bruder sei zu allem unfähig. Er würde | |
nichts können oder lernen, nur Geräusche von sich geben und nur fordern. | |
Wir Geschwister müssten immer auf ihn aufpassen. Meine Mutter würde immer | |
neben ihm stehen, ihm Brei in den Mund schieben und ihm bis in seine | |
Jugendjahre die Windel wechseln. Er würde sein Leben nie genießen können, | |
weil er überhaupt nicht wüsste, was das Leben ihm eigentlich alles bietet. | |
Dann würde er früh sterben. | |
Deniz war gerade einmal wenige Tage alt, ich war erst zwölf und hatte noch | |
nie einen Jungen geküsst, und ich dachte schon an seinen Tod. | |
Mein Vater sagte es dann meiner Mutter. | |
Als sie Deniz das erste Mal im Krankenhaus besuchte, hatte sie Mühe, den | |
Weg durchzuhalten. Sie wusste ja nicht, was sie im Krankenhaus erwarten | |
würde. Wieder bogen wir in das Zimmer auf der linken Seite ab. Dort | |
angekommen, setzte sie sich auf einen Stuhl und nahm das kleine Wesen in | |
ihre Arme, fasste ihn vorsichtig an wie ein Juwel. Sie wirkte sehr | |
verletzlich, wie sie da saß. Sie sah so einsam aus, obwohl wir doch da | |
waren. Es hätte mich nicht überrascht, wenn sie auf der Stelle gestorben | |
wäre. | |
## Dann streichelte sie seinen Kopf | |
Sie hatte den Kopf zur Seite gesenkt und schaute Deniz wie einen | |
Fremdkörper an. In ihrem Blick befand sich keine Zärtlichkeit, nicht die | |
Liebe einer Mutter für ihr Neugeborenes. In ihren Augen waren nur | |
Traurigkeit, sie erzählten von dem Schrecken dieses Schicksalsschlages, von | |
der Angst davor, was auf sie zukommen würde. Dann endlich legte sie ihre | |
Hand auf seinen Kopf und streichelte sanft seine dünnen Haare, die wild | |
nach oben abstanden und ihn sehr keck aussehen ließen. | |
Sie fühlte seine Bewegungen in ihrer Hand. Die ganze Zeit sprach keiner von | |
uns, lediglich das Gebrabbel des Kleinen war zu hören. Bei der Rückfahrt | |
schaute Mama nach innen gewandt aus dem Fenster und blieb stumm. Es war | |
unmöglich, ihren verlorenen, ins Weite gerichteten Blick zu deuten, später | |
erzählte sie mir, dass ein katholischer Pfarrer ihr während dieser Zeit | |
beigestanden habe. | |
## Hätte sie es gewusst, sie hätte abgetrieben | |
Wir haben nie in Erwägung gezogen, dass das Kind krank sein könnte. | |
Irgendwie haben wir uns überhaupt keine Vorstellungen über unsere Zukunft | |
gemacht. Und meine Mutter machte wegen ihrer 38 Jahre zwar eine | |
Fruchtwasseruntersuchung, doch der Arzt fand nichts. Im Gegenteil: | |
„Herzlichen Glückwunsch, ihr Junge ist gesund“, sagte er zu ihr. Hätte sie | |
gewusst, dass Deniz das Downsyndrom hat, hätte sie ihn abgetrieben. | |
Wir hätten Deniz vor lauter Furcht aufgegeben, noch bevor er da gewesen | |
wäre. Aus Angst, dass wir unsere Leben ändern müssten. Aus Sorge, dass wir | |
es nicht schaffen würden mit ihm. Aber nichts, was der Arzt im August 1991 | |
gesagt hatte, hat sich bewahrheitet. Ja, das Zusammenleben mit ihm ist | |
schwierig – jeder, der ein behindertes Familienmitglied hat, weiß, was ich | |
meine. | |
Aber es ist auch wunderschön. So schön, dass wir ihn niemals gegen einen | |
gesunden Deniz eintauschen würden, bis heute lebt er bei meinen Eltern. | |
Daniil Granin hat recht, wenn er schreibt, dass die Angst einen kraftlos | |
macht und lähmt. Deniz hat uns die Angst genommen, denn wenn er furchtlos | |
und unbeschwert sein kann, dann wollen wir das auch. Um das nicht zu | |
vergessen, trage ich diese Zeilen immer mit mir. Ich habe sie kürzlich | |
sogar jemandem geschenkt – ich weiß nicht, ob er sie verstanden hat. | |
15 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Cigdem Akyol | |
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