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# taz.de -- Kolumne Down: Sein eigener Kosmos
> Er hat ein Chromosom zuviel und deswegen das Downsyndrom. Darf ich
> vorstellen: Das ist Deniz, mein kleiner Bruder.
Bild: Weil Deniz zu schüchtern ist, knutscht er ein Poster von Miley Cyrus ab
Seit zwei Jahren ist Deniz ein großer FC-Bayern-Fan. Was nicht weiter
problematisch wäre, nur leider mussten wir deswegen seine Schalke-Tapeten
herunterreißen – und weil er regelmäßig den Verein wechselt, hat er auch
schon mal seine Borussia-Mönchengladbach-Bettwäsche mit der Schere
zerschnitten, die Borussia-Dortmund-Armbanduhr haben wir verschenkt.
Deniz und ich sind unterschiedlicher Meinung, so etwas wie Nationalismus,
Demokratie, Liberalismus oder gar Linkssein ist ihm fremd – das
Flaggenverbot in meiner Wohnung interessiert ihn nicht. Als ich ihn zuletzt
vom Flughafen in Berlin abholte, war er in eine Deutschlandfahne gehüllt.
Den Sieg der deutschen Nationalelf gegen Brasilien im letzten Jahr schauten
wir uns in einem türkischen Badeort an. Nach jedem Tor öffnete Deniz das
Fenster, schrie „Deutschland! Deutschland!“ und schwenkte mit nacktem
Oberkörper sein Trikot. Es war einer der Momente, in denen ich aus Liebe
sehr stark sein musste, um nicht vor Scham unterzugehen.
Leider ist Deniz immer noch Single, ich finde, er könnte sich mal eine
Freundin suchen. Es gibt da eine junge Frau, die er sehr mag. Ich weiß nur,
dass sie blond ist, Sarah heißt und auch eine Behinderung hat. Aber weil
Deniz zu schüchtern ist, hat er jetzt ein Poster von Miley Cyrus in seinem
Zimmer hängen, das er regelmäßig abknutscht.
Als Deniz auf die Welt kam, sagten die Ärzte, er würde nicht lange leben.
Wir sollten uns erst gar nicht an ihn gewöhnen und ihn in ein Heim geben.
Warum Mediziner solch dumme Ratschläge geben, habe ich nie verstanden. Denn
Deniz ist nun 24 Jahre alt und wohnt noch bei meinen Eltern. Zwar war er
immer wieder über Monate hinweg wegen ernsthafter Erkrankungen im
Krankenhaus, aber der Tod hat ihn nicht geholt.
## Er quatscht ununterbrochen
Apropos Tod: Deniz hat nur eine vage Vorstellung von Endlichkeit. Sorgen
macht er sich keine, für ihn zählt nur der Moment. Als unser Onkel vor drei
Jahren von uns ging, fragte er mich, wo er denn jetzt sei? „Im Himmel“,
antwortete ich. „Und macht er da auch Fotos?“, wollte er wissen. Auch wenn
er den Körper eines Erwachsenen hat, sein Geist ist der eines Kindes. In
Indien sagt man, Behinderte seien heilige Seelen in verkrüppelten Hüllen.
Und er quatscht ununterbrochen. Da er auch noch schwerhörig ist, ist die
Lautstärke nicht immer angemessen. Besonders unangenehm wird es, wenn wir
ins Kino gehen. Da Deniz alle zehn Minuten wissen will, wie spät es ist,
setzen wir uns meistens in die letzte Reihe – in der Hoffnung, dass sein
Gequassel ein wenig untergeht.
Auch religiöse Gefühle interessieren ihn nicht. Kürzlich riss er einer Frau
auf der Straße das Kopftuch herunter – es gefiel ihm einfach nicht. Ich war
stumm vor Entsetzen. Die Frau schimpfte, Deniz versteckte sich hinter mir.
Dann sah sie, dass er ein Handicap hat, und entschuldigte sich – sich
selbst zu entschuldigen, das würde Deniz niemals einfallen.
Deniz hat eine genetische Besonderheit: Er hat ein Chromosom zu viel und
deswegen das Downsyndrom. Der junge Mann, der sich nur für seinen eigenen
Kosmos interessiert und dem Unverschämtheiten egal sind, ist mein kleiner
Bruder.
8 Jan 2015
## AUTOREN
Cigdem Akyol
## TAGS
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Kinder
Behinderung
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