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# taz.de -- Disco mit Handicap: „Einfach mal ganz normal sein“
> Wer muss laufen können, um tanzen zu gehen? In der Kieler Disko „Gary’s�…
> feiern einmal im Monat alte und junge Menschen mit Behinderung.
Bild: Ganz normal abtanzen: Im „Garys! in Kiel feiern Menschen mit Behinderung
Kiel taz | Die ersten Gäste sind schon da, bevor die Türen öffnen. Stehen
am Rand der Kieler Vorstadtstraße, plaudern, gucken, wer noch so kommt. Sie
stützen sich auf Rollatoren, fahren mit Rollstühlen dicht an den Eingang
heran. Sie wollen Musik, sie wollen tanzen – Saturday-Night-Fever am frühen
Montagabend.
Drinnen ist es noch ruhig. Am Tresen werden Gläser und Getränke eingeräumt,
Arbeitslicht erhellt den Raum, in dem schwach der Duft längst verqualmter
Zigaretten und vor Jahren ausgeschenkter Biere nistet. An den Seiten stehen
Plüschsofas vor niedrigen Tischchen, dicht um die Tanzfläche warten
Barhocker auf die Gäste, die sich zwischen zwei Liedern ausruhen wollen.
Gerd Mangels, genannt Gary, steht am Mischpult und stöpselt sein Tablet mit
der Musik des Abends an.[1][“Im Gary’s ist Ü30 zuhause“,] lautet der
Werbespruch des Hauses, „und zwar immer!“ Bloß eben nicht heute.
Angelina ist 22 und kommt her, „seit ich klein bin“: Zwölf, dreizehn muss
sie bei ihren ersten Besuchen gewesen. Angelina wohnt in der Nähe, arbeitet
in der Werkstatt „Drachensee“, einer Werk- und Wohneinrichtung für Menschen
mit Behinderung, im Bereich Kunsthandwerk: „Filzen und solche Sachen“, sagt
Angelina. Ins Gary’s kommt sie gern, wegen der Leute, aber auch wegen der
Musik: „Schlager bis Pop, ich mag das alles.“
Irmgards schmaler Körper ruht in einem Rollstuhl, neben dem Daniel, ihr
Betreuer, auf dem Boden kniet – Irmgard ist so klein und vogelzart, dass es
ihr schwer fällt, den Kopf zu heben. Ihr rechtes Brillenglas ist mattiert,
das Auge dahinter seit ihrer Jugend blind: „Das war mein Vater“, sagt
Irmgard.
Auch auf dem zweiten Auge sieht sie seit einiger Zeit nichts mehr, seit
einer Operation. „Aber ich mache das Beste draus“, sagt sie und lächelt.
Anders als Angelina knackt Irmgard die Ü-30-Marke locker: Sie ist 78. Neben
dieser Disko besucht sie auch noch einen Tanzabend in Schleswig, wo sie
seit Jahrzehnten in Kliniken und Wohngruppen lebt. „Ich treffe hier meine
Freundinnen.“
Als sich endlich die Tür öffnet, strömen die Wartenden ins Gary’s. Der
Eintritt ist frei, eigentlich darf jeder rein – ein bisschen achtet das
Personal aber doch darauf. Ursprünglich hatte Mangels einen Ort schaffen
wollen, an dem Menschen mit Behinderungen auf Menschen ohne Behinderungen
treffen, miteinander feiern, tanzen, sich kennenlernen können.
„Berührungsängste abbauen“, sagt der Endsechziger mit den schulterlangen
Haaren. Die Idee kam ihm 1979, als er bei einer Party im „Drachensee“
auflegte.
Seine damalige Disko in Kiel öffnete er einmal pro Monat für
Rollstuhlfahrer, spastisch Gelähmte oder auch psychisch Kranke. Anfangs
kamen auch Nicht-Behinderte – aber „die falschen Leute“, sagt Mangels: Die
hatten ordentlich vorgeglüht und machten Randale. Jetzt sind die Menschen
mit Behinderung einmal im Monat unter sich und die Stimmung ist bombig.
Manuel etwa hat sich schick gemacht: Weste und Krawatte zum eleganten Hemd,
die Haare in Form. Klar suche er eine Freundin, sagt der 22-Jährige über
das Dröhnen der Musik, „aber das ist nicht so einfach.“ Manuel sei
anspruchsvoll, ergänzt Jojo, sein Betreuer. Gleich darauf steht Manuel, der
mit Trisomie 21 geboren wurde, wieder auf der Tanzfläche.
Mit gut 200 Menschen, die sich auf der Tanzfläche drängen, am Tresen für
ein Getränk anstehen oder auf den Sofas sitzen, ist die Disko angenehm
voll. An der Decke bilden Punkt-Lämpchen einen Sternenhimmel, Scheinwerfer
malen farbige Lichter auf die Gesichter und lassen auch ungelenkere
Bewegungen weicher aussehen.
Wie in vermutlich allen Diskos rund um den Globus tanzen mehr Frauen als
Männer und wenn Mangels die „Mädels“ auffordert, die Hüften zu schwenken,
tun sie es mit Freude: die Mittzwanzigerinnen Sonja und Annika ebenso wie
Anke, die heute ihren 52. Geburtstag feiert und ihre Freundin Christina im
Foxtrott-Takt über die Tanzfläche schiebt.
„Die Stimmung, die ist immer sofort da“, sagt Mangels. Das sei einer der
Gründe, warum er seit Jahrzehnten weitermacht. Großartig Geld verdienen
kann er nicht an diesen Veranstaltungen: Die meisten Gäste arbeiten in
betreuten Werkstätten oder sind in Frührente, müssen ihre paar Euro
Taschengeld sorgsam einsetzen. So werden an diesen Abenden nur alkoholfreie
Getränke und Bier zum ermäßigten Preis ausgeschenkt.
Als es los ging mit der besonderen Disko, war von Integration oder gar
Inklusion noch nicht die Rede. Inzwischen hat Mangels Auszeichnungen und
Lob für seinen Einsatz bekommen. Ihn fasziniere aber etwas anderes, sagt
er: „Die Dankbarkeit in den Gesichtern, die Begeisterung.“
„Die Musik hier ist einfach gut“, sagt Stefan, der mit seiner Frau Uscha da
ist. Tanzen kann sie nicht so viel, sie geht auf einen Rollatur gestützt.
Auch Stefan ist nicht gesund, bezieht Frührente. Aber wenn Gary auflegt,
sind beide da, schon aus familiären Gründen: „Der Gary ist mein Onkel“,
sagt Stefan ein wenig stolz.
„Dsching-dsching-dschingis Kahn!“ schallt es jetzt durch den Raum: Garys
musikalische Heimat sind die 70er und 80er Jahre, aber „hier musst du alles
spielen, von AC/DC bis zu ganz neuen Sachen“, weiß der langjährige
Disko-Betreiber. „Die Leute kennen sich aus.“ Die Bandbreite ist groß: Anke
singt bei Schlagern mit, neben ihr wippt ein junger Mann mit
Rammstein-Shirt.
Der Abend sei wichtig, weil „die Leute einfach mal ganz normal sein
können“, sagt Frauke. Die Mitarbeiterin einer Behinderteneinrichtung in
Eckernförde kommt regelmäßig mit einer Bewohnergruppe her. Sie selbst tanzt
eifrig mit und gibt zu, dass diese Abende zu den Höhepunkten ihres Jobs
gehören: „Wir können alle zusammen Spaß haben, ohne dass ich reglementieren
muss.“
Und ja: Kontaktbörse ist die Disko auch. Manuel hat seine Traumfrau zwar
noch nicht gefunden, auch wenn Sonja ihm immer diese
auffällig-unauffälligen Blicke zuwirft. Einzig Angelina muss sich nicht
mehr umgucken: „Ich hab’ ja einen Freund.“ Den hat sie allerdings nicht
hier im Gary’s getroffen – sondern bei der Arbeit.
2 Nov 2015
## LINKS
[1] http://www.garys-kiel.de/
## AUTOREN
Esther Geißlinger
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