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# taz.de -- Mode für Kleinwüchsige: Auf Augenhöhe
> Die Designstudentin Sema Gedik will, dass sich auch kleinwüchsige
> Menschen von der Stange bedienen können. Das kommt zu richtigen Zeit.
Bild: Großer Auftritt: Model Laura Christ auf der Berliner Fashion Week bei de…
Wenn Mick Mehnert shoppen geht, probiert er nicht lange, ob die Hosen
passen – er weiß, dass sie es nicht tun. Der junge Berliner hat
Achondroplasie, die häufigste Form von Kleinwuchs. Es ärgert ihn, dass für
Menschen, die wie er nur rund 1,20 bis etwa 1,40 Meter groß werden, keine
Klamotten produziert werden.
Gegen genau dieses Problem möchte jetzt eine Modedesign-Studentin der
Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin etwas unternehmen. Die
25-jährige Sema Gedik arbeitet daran, die weltweit erste Konfektionstabelle
für Menschen mit Kleinwuchs zu erstellen, damit diese in Zukunft die Chance
auf Kleidung von der Stange haben.
Für Mick Mehnert, der wie sein großes Vorbild Peter Dinklage (bekannt als
Tyrion Lennister in der Serie „Game of Thrones“) Schauspieler werden
möchte, ist das Projekt der jungen Designerin eine Hoffnung. „Es gibt zwar
Mode für besonders große, besonders dicke oder besonders dünne Menschen,
aber für besonders kleine gibt es nichts“, sagt der Neunzehnjährige, der
gerade sein Fachabi macht.
Er spricht davon, wie demütigend es sich anfühlt, wenn die einzigen
passenden T-Shirts im Laden einen Winnie-Puuh-Aufdruck haben oder wenn er
wieder über 80 Euro beim Schneider zahlen muss, damit der Anzug auch passt.
Seit drei Jahren arbeitet er mit Sema Gedik zusammen, stand ihr beim
Maßnehmen zur Verfügung und modelte auf der diesjährigen Berliner Fashion
Week im Juli für Gediks Label „Auf Augenhöhe“. Inzwischen sind die beiden
auch gute Freunde.
## Keine großen Gesten
Dunkle lange Haare, zarte Statur, wacher Blick: Sema Gedik braucht keine
großen Gesten. Sie klingt gerührt, als sie über die Schau bei der Fashion
Week spricht, ihrem ersten großen Auftritt als Designerin. „Eigentlich sind
die Zuschauer einiges gewohnt, man kennt ja das Showbusiness, aber nachdem
meine Models da ihre Runde gelaufen waren, wurde minutenlang geklatscht.
Nach jedem einzelnen.“
Sie selbst beobachtete wie gebannt den Laufsteg von einem Bildschirm aus im
Backstagebereich. Da seit der Fashion Week „einige größere Labels“ an sie
herantraten, um „Optionen durchzusprechen“, kann sich Gedik Hoffnungen
machen, dass sie mit ihrem Engagement und ihrer Kollektion einen Nerv
getroffen hat.
Die Literaturwissenschaftlerin Gertrud Lehnert forscht an der Universität
Potsdam zu Modegeschichte und -theorie. Sie begrüßt die Entwicklung vieler
DesignerInnen, Mode abseits der Norm zu machen. „Es findet aktuell eine
Bewegung zur Diversity statt, die Menschen nicht vereinnahmt, sondern ihnen
neue Möglichkeiten eröffnet.“
Ein Anzeichen dafür sieht sie unter anderem in den Auftritten von Models
wie Rebekah Marine oder Madeline Stuart auf der Fashion Week in New York
(10.–17. September): Die eine wurde ohne Unterarm geboren, die andere mit
Downsyndrom – für beide gab es vom Publikum tosenden Beifall, wie auch für
die anderen Models mit Behinderung, die dieses Jahr in Manhattan auf den
Laufstegen überraschten.
Ob die Begeisterung der Zuschauer aber nicht auch schlicht von einem
Überraschungseffekt herrührt? Weil die meisten Zuschauerinnen es gewohnt
sind, auf Modeschauen weiße, junge Models mit augenscheinlich makellosen
Körpern präsentiert zu bekommen?
## Ungewohnt politisch
Die Journalistin Christiane Link [1][fragt auf Zeit Online], ob es den
Labels wirklich um mehr als den Showeffekt geht. „Man muss anders sein, um
aufzufallen. Wenn das die Mode alleine nicht leistet, müssen besondere
Trägerinnen her. Dazu eignen sich behinderte Models natürlich perfekt.“
Gedik bezieht solche Mutmaßungen nicht auf sich. Ihre Motivation,
weiterzumachen und dranzubleiben an dem Projekt, das für die Modebranche
ungewohnt politisch ist, sind die Menschen: „Es ist die Begeisterung meiner
Models und der anderen Kleinwüchsigen, die mir über Facebook von überall
auf der Welt schreiben“, sagt sie. „Sie zeigen mir, dass ich nicht einfach
nur schöne Mode für sie kreiere, außerhalb der Normgrößen, sondern dass ich
ihnen auch ein Stück Selbstwert wiedergebe.“
Gedik selbst scheint, trotz der Zeit, die seit der Fashion Week verstrichen
ist, noch überrascht davon zu sein, dass sie es tatsächlich geschafft hat,
diese Kollektion, dieses Projekt, zu realisieren. Ein Projekt, das wegen
seines „nonkonformen Ansatzes“, wie sie leicht spöttisch Kritiker nachahmt,
keinen leichten Anfang hatte – und dessen Erfolg, auch kommerziell, noch
immer nicht sicher ist.
Die junge Frau, die seit Kurzem in Berlin-Kreuzberg lebt, muss nicht lang
nachdenken, als sie sich an den Moment erinnern soll, an dem sie sich in
den Kopf setzte, Mode für Kleinwüchsige zu entwerfen.
## „Normal“ ist das Stichwort
„Es war das Foto meiner Cousine Funda – schick und elegant im Festtagskleid
auf einer Hochzeitsfeier unserer Verwandten – da hat es bei mir Klick
gemacht.“ Die jüngere Cousine Gediks ist wie Mehnert kleinwüchsig und hat
wie er und die rund 100.000 anderen Menschen mit Kleinwuchs in Deutschland
beim Einkauf von Klamotten Probleme. „Dass das für Funda schwierig ist, war
oft ein Thema innerhalb der Familie“, erzählt Gedik, die dann immer „ein
krasses Gefühl von Ungerechtigkeit“ verspürte.
Schon früh wollte die in Helmstedt aufgewachsene Gedik, die vor fünf Jahren
zum Studium an der HTW nach Berlin kam, mit Textilien arbeiten – und mit
Menschen. Das persönliche Ziel ihres Master-Abschlusses, den sie
voraussichtlich 2017 machen wird, ist es also, mit ihrem Label, ihrer
Kollektion und der internationalen Maßtabelle Menschen wie ihrer Cousine
oder Mick Mehnert zu „einem normaleren Leben“ zu verhelfen.
Dafür wurde sie in diesem Jahr von der Wilhelm-Lorch-Stiftung
ausgezeichnet, einem wichtigen Preis innerhalb der Textilindustrie. Gedik
sagt: „Mode soll nicht an sozialen Dimensionen scheitern.“ Im Moment
richten sich ihre Arbeiten an den Konfektionsgrößen und
Schnittkonstruktionen an die Körperformen der Achondroplasie und der
Hypochondroplasie, einer ähnlichen Form von Kleinwuchs. Im weiteren Verlauf
möchte die Studentin sich allerdings auch Konfektionstabellen für andere
Formen der Kleinwüchsigkeit widmen. Doch bis dahin heißt es messen, messen,
messen und „ganz viel Zeit und Geduld“.
Die Hosen, Blusen und Kleider ihrer Kollektion, die Gedik sich dann gut an
ausgewählten Stangen in großen Kaufhäusern wie Karstadt vorstellen kann,
sollen passen und bezahlbar sein. „Meine Klamotten werden super sitzende
Lieblingsteile“, kündigt sie an und erklärt, dass sie die Stoffe in der
Türkei kaufen und die Kleider in Deutschland anfertigen lassen wird. Rund
60 Euro wird somit beispielsweise eine Bluse kosten – das ist für gute
Qualität normal, sagt sie, und „normal“ ist hier das Stichwort.
22 Sep 2015
## LINKS
[1] http://blog.zeit.de/stufenlos/2015/02/19/behinderte-models-bei-der-new-york…
## AUTOREN
Tatjana Kennedy
## TAGS
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