# taz.de -- Kerrin Stumpf über Inklusion: „Der Schreck in den Augen der Lehr… | |
> Seit sechs Jahren gilt auch in Hamburg das Recht auf inklusive Bildung. | |
> Für „Leben mit Behinderung“ fehlt es an Phantasie für neue Lernwege. | |
Bild: Alle Kinder haben zusammen Spaß: Inklusion im Sportunterricht. | |
taz: Frau Stumpf, die letzten Zahlen der Schulbehörde zeigen, dass die | |
Eltern behinderter Kinder diese weiter eher zur Sonderschule schicken. | |
Würden Sie dazu appellieren, den Sprung an die Regelschule zu wagen? | |
Kerrin Stumpf: Mein Appell an die Eltern ist es, solidarisch miteinander zu | |
sein und zu beschreiben, was für die eigenen Kinder wichtig ist. | |
Die Hamburger Lehrerkammer warnt davor, dass „Schüler mit Förderbedarf ohne | |
weitere Ressourcen bei der Inklusion Gefahr liefen, zum lästigen Sand im | |
Getriebe in einem traditionellen Fachunterricht zu werden“. | |
Das ist eine Dramatisierung der Kinder mit besonderem Förderbedarf, die aus | |
unserer Elternsicht kontraproduktiv ist. Hamburg hat mit dem Rechtsanspruch | |
und der Wahlfreiheit der Eltern einen großen Rahmen gesetzt. Die Stadt | |
steht vor der Herausforderung, dass sie damit eine Regelversorgung | |
anbietet, die real noch nicht existiert. | |
Was bedeutet das praktisch? | |
Es ist ein Arbeitsprozess. Die einen Eltern erleben das schon als ganz | |
positiv und treffen auf Schulen, die sich sehr anstrengen, sie sind | |
vielleicht auch selbst kompromissbereit. Und andere sehen, das klappt bei | |
mir noch gar nicht oder es gibt echte Bremsbewegungen in der Schule. | |
Die Sorge der Lehrerkammer scheint vor allem bei den mangelnden Ressourcen | |
zu liegen . | |
Es sind nicht die Ressourcen, die das entscheidende Umdenken möglich | |
machen. Es ist viel schwieriger, die Prozesse zu verändern, also | |
gemeinsames , binnendifferenziertes Lernen in Lerngruppen anzubieten. | |
Warum? | |
Weil man dann nicht unterscheidet: Hier ist der Sonderpädagoge für die | |
behinderten Kinder und dort der Fachlehrer, der sich um die anderen | |
kümmert. Stattdessen gibt es dann ineinander verschränkte Situationen – und | |
das ist nicht eine Frage der Ressourcen, ob da noch ein Schulbegleiter ist | |
und noch ein Schulbegleiter. So stellen es sich viele aber vor. | |
Sind die Lehrer denn ausreichend ausgebildet und vorbereitet? | |
Die Unterscheidung von Fach- und Sonderlehrer sollte es in Zukunft so gar | |
nicht geben. Ein zweiter Punkt ist, dass Lehrer heute, auch gerade in | |
Hamburg, durch die vielen sozialen Brennpunkte an sich sehr überfordert | |
sind.. Dann noch mit Sonderförderbedarfen umgehen zu müssen, ist im | |
Einzelfall sicher eine große Anforderung. | |
Sind viele Lehrer schlicht nicht davon überzeugt, dass Inklusion das | |
bessere Konzept ist? | |
Viele Schulen bieten heute schon weit mehr als eine bestimmte Bildungswelt, | |
der Schüler sich anpassen müssen. Aber wenn der Alltag einem an die Gurgel | |
springt, dann wünschen sich Lehrer vielleicht Schonräume, in denen sie ihr | |
Wissen einfach vermitteln können. | |
Warum war die Zahl der Eltern, die ihre Kinder von der Sonderschule hin zur | |
Regelschule ummelden, bislang so gering? | |
Ich glaube, dass Eltern – zu Recht – anspruchsvoller geworden sind als | |
früher. Sie sagen nicht mehr abenteuerlustig: Hauptsache Regelbeschulung . | |
Sie wissen, was Therapie und besondere Förderung einem Kind bieten können. | |
Welche Kompromisse müssen die Eltern behinderter Kinder machen, wenn sie | |
sie auf die Regelschule schicken? | |
Wir Eltern sind in einer Falle. Vom ersten Tag unseres Lebens mit | |
Behinderung vermittelt man uns, dass mehr Förderung auch mehr | |
Selbständigkeit bringt. Doch im Grunde haben unsere Kinder im Netzwerk mit | |
allen die größte Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Zugleich müssen wir | |
auch in einer inklusiven Gesellschaft Fachleute und selbstverständliche | |
Assistenz fordern. | |
Eigentlich ist es erstaunlich, dass in einer Zeit, in der die Eltern der | |
Regelschulen ängstlich über die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Kinder wachen, | |
die Inklusion vorangetrieben wird, die mit langsamerem Lernen assoziiert | |
wird . | |
In der Inklusion geht es nicht darum, dass wir Menschen mitmachen lassen, | |
sondern das Ressourcenkonzept neu zu überdenken Es geht darum, ganz konkret | |
zu überlegen: Wie kann Matheunterricht funktionieren bei den | |
unterschiedlichen Begabungen. Wenn da ein Autist ist mit mathematischer | |
Hochbegabung, und daneben jemand, der sich Quadratmeter dann vorstellen | |
kann, wenn er in einem Raum steht und überlegt, wie viel Liter Farbe er | |
bräuchte, um ihn auszumalen – dann muss ich so differenziert Mathe machen. | |
Das macht Lehrer heute viel stärker zu Managern des Lernens als der | |
altmodische Lehrer, der sagt: an meinem Vorbild überzeuge ich dich so zu | |
denken, wie ich denke. | |
3 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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