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# taz.de -- Der Hausbesuch: Lieber laut als leise
> Natalie Dedreux lacht viel, mal hört man die Wut heraus. Sie ist eine,
> die tut, was sie für richtig hält. Unterkriegen lässt sie sich dabei
> nicht.
Bild: Das Megafon auf Natalie Dedreux' Schreibtisch liegt bereit für die näch…
Da sein, eine Stimme haben, für das Leben kämpfen, wahrgenommen werden, die
Welt verändern – Natalie Dedreux weiß, wie wichtig das ist.
Draußen: Im Norden Kölns, wo Natalie Dedreux wohnt, ist es städtisch. Über
den Bordstein läuft eine Stadttaube. Der Himmel ist blau. Gegenüber von
Dedreux’ Haus stehen die Sonnenschirme einer Gaststätte mit Bierwerbung.
Drinnen: Ihre Mutter sagt: „Ich kümmere mich ums Trinken. Kaffee, Tee,
Wasser?“ Natalie Dedreux sagt: „Das hier ist mein Zimmer.“ Auf einem Tisch
vor ihrem Hochbett liegt ein Megafon, bereit für die nächste Demonstration.
„Vielleicht gegen die AfD.“ Am Bett hängt eine Schnur mit kleinen
Diskokugeln.
Wohnen: Die Hälfte der Woche wohnt Natalie Dedreux bei ihrer Mutter, den
Rest der Woche in einer Wohngemeinschaft in einem anderen Teil von Köln.
„Die besteht aus meiner Freundin, die hat auch das Downsyndrom. Und dann
wohnen wir noch mit zwei Studenten.“
Lernen: Manchmal kommen Pädagog:innen, die mit zum Einkaufen gehen und
„gucken, wie das so läuft“. Sie mag es, dass ihre WG inklusiv ist – [1][…
wie die inklusiven Schulen, die sie besucht hat]: „Das fand ich gut. Da
kann man miteinander und voneinander lernen.“
Karneval: In Köln ist Dedreux aufgewachsen. Sie liebt die Stadt wegen des
Karnevals. Dieses Jahr ging sie als „Rot-Weiß“. Köln ist ihr „Zuhause�…
Dedreux ist eine, die gern da bleibt, wo sie herkommt. Und dennoch gerne
reist.
Um die Welt fliegen: „Meine Eltern waren eigentlich sehr viel unterwegs mit
mir“, sagt Dedreux über ihre Kindheit: „Das war eigentlich sehr, sehr cool,
genau!“ Über ihrem Schreibtisch hängt eine Weltkarte mit eingesteckten Pins
an all den Orten, wo sie schon gewesen ist. Auch außerhalb Europas, zum
Beispiel in Dubai. Am häufigsten jedoch war sie bei ihrer Großmutter, die
in Frankreich lebte. Manchmal reiste die Oma auch mit der Familie mit.
Großmutter: „Die war ein Flüchtling“, sagt Dedreux. Ihre Großmutter sei …
Deutschland geflohen – nach Deutschland. Ihre Mutter erzählt später, dass
sie mit dem Flüchtlingstreck im Winter 1944/45 aus Pommern gekommen ist.
Mit ihrer Großmutter habe sie viel über den Zweiten Weltkrieg gesprochen,
sagt Natalie Dedreux. „Ich musste darüber sprechen. Ich bin ja auch vom
Dritten Reich betroffen wegen der ganzen Nazis.“
Erinnern: Dedreux ärgert sich darüber, dass an Gedenktagen zu wenig an
Menschen mit Behinderung gedacht wird, die [2][von
Nationalsozialist:innen ermordet] wurden. „Ich nehme mir ein Kölsch
und zieh mich dann zurück. Es muss einfach mehr an uns gedacht werden, weil
wir ja auch betroffene Menschen sind.“
Krieg: Heute beschäftigt sie auch der russische Krieg in der Ukraine.
Dedreux erzählt, dass sie selbst ein paar Mal in der Ukraine war – mit dem
Ohrenkuss, einer Zeitschrift mit Texten von Menschen mit Downsyndrom.
Dedreux engagiert sich als Aktivistin für Inklusion und arbeitet als
Journalistin. Sie zeigt eine Ausgabe des Ohrenkuss, die sie zusammen mit
Menschen in der Ukraine gemacht haben, die ebenfalls das Downsyndrom haben.
Freundschaft: „Aber da hat der Krieg angefangen, und denen geht’s da nicht
richtig gut“, sagt sie über diejenigen, die in der Ukraine geblieben sind.
Sie kommunizieren per Mail. „Das funktioniert gut mit einem Übersetzer:
Google.“
Ohrenkuss: Dedreux erzählt, dass es die Zeitschrift Ohrenkuss seit 1998
gibt. Und sie damit genauso alt ist wie sie selbst. „Ich schreibe sehr viel
für den Ohrenkuss und wir haben auch Ohrenkuss-Sitzungen, jeden zweiten
Dienstag.“
Lohn: Mit ihrer Arbeit würde sie gerne mehr verdienen. „Ich krieg ja so gut
wie kein Geld für die Arbeit, sondern vom Amt“, sagt sie. Dedreux ist bei
einer Werkstatt angestellt, hat aber einen Außenarbeitsplatz: die
Öffentlichkeitsarbeit, die sie macht, die Texte, die sie schreibt, ihre
Reden. Dafür bekommt sie kaum Geld.
Ungerechtigkeit: Menschen mit Behinderung, die in [3][Werkstätten]
angestellt sind, bekommen meist gerade mal 200 Euro. „Ich weiß auch nicht,
warum, aber ein Lohn ist für uns nicht denkbar“, sagt sie verärgert. Die
anderen Menschen mit Downsyndrom, die sie kennt, sagt sie, „wollen ja auch
nicht in diese Werkstatt rein“. Sie hätten oft auch einen
Außenarbeitsplatz, „machen auch mal Kunst“ oder arbeiten in einem Café �…
sie viel weniger als die anderen Beschäftigten bekommen.
Werkstätten: Über die Werkstätten sagt Dedreux: „Ich würde sie eigentlich
abschaffen. Da gibt es keine richtige Inklusion.“ Eine Alternative wäre es
zum Beispiel, in Unternehmen genügend Arbeitsplätze für Menschen mit
Downsyndrom zu schaffen – und sie so zu bezahlen wie alle anderen auch.
Was die Politik machen müsste? „Die müssten ihren Hintern hochkriegen und
sich selber öffnen, mal auch mehr Inklusion zu machen“, sagt Dedreux. „Ich
kenne schon eine Partei, die das macht, und das sind die Grünen!“
Die AfD: Eine andere Partei bereitet ihr Sorge. Sie erzählt, wie sie bei
einem Campingurlaub auf Mitglieder der AfD stieß und „komisch angeguckt
wurde“. Dedreux sagt. „Ich krieg da Angst vor dieser Partei.“
Diskriminierung: Doch nicht nur unter Mitgliedern der AfD gibt es
Vorurteile. Zum Beispiel würden manche Leute denken, dass Menschen mit
Downsyndrom nicht lesen und schreiben könnten. Dedreux sagt: „Das stimmt
einfach nicht.“ Auch bei Veranstaltungen müsste beispielsweise einfach mehr
Inklusion stattfinden. „Dass wir das besser verstehen können, mehr Leichte
Sprache zum Beispiel.“ Der Begriff Inklusion heißt für sie auch: „Dass wir
hier mitreden dürfen, dass nicht über uns geredet wird.“
Journalismus: Schreiben bezeichnet Dedreux als ihre Leidenschaft. Beim
Deutschlandfunk hat sie ein Praktikum gemacht. Dedreux erzählt, dass sie
damals Aktivist:innen aus Lützerath interviewte, die dort gegen den
Braunkohleabbau aktiv waren. Sie beschäftigt sich viel mit politischen
Themen: „Proteste, Afghanistan. Die Flüchtlingspolitik war mir auch voll
wichtig.“
Politiker:innen: Karl Lauterbach hat sie mal auf der Straße getroffen.
„Ich habe ihm eine Frage gestellt, und er konnte nichts darauf antworten.“
Was sie ihn gefragt hat? „Diese Bluttestfrage.“
Bluttest: Weil sie ihr eigenes Leben cool findet, engagiert sich Dedreux
[4][gegen den Bluttest] auf Trisomie 21 während der Schwangerschaft. Seit
Juli letzten Jahres wird der von der Krankenkasse übernommen. Dedreux will
den Test abschaffen, damit es weiterhin Menschen mit Downsyndrom gibt und
sie nicht abgetrieben werden.
Leben: „Ich habe Angst und Sorge, dass wir nicht existieren werden, und das
ist auch traurig.“ Ihr Leben sei „irgendwie sehr, sehr schön“, sagt sie.
„Ich lebe natürlich gerne, aber einem einfach das Leben wegnehmen … Ich
lass mich da von niemandem unterbekommen!“
Merkel: Auch mit Angela Merkel hat sie schon über den Bluttest gesprochen.
Die traf sie zum ersten Mal 2017 in der Wahl-Arena, vor laufender Kamera.
Damals war Dedreux 18 Jahre alt. „Die hat gesagt, dass das die freie
Entscheidung der Mutter sein soll“, sagt Dedreux über Merkels Antwort
[5][auf den Bluttest]. Sie selbst sieht das anders.
Unwissen: „Die wissen gar nicht viel von uns“, sagt sie über werdende
Mütter, die sich aufgrund einer möglichen Trisomie gegen das heranwachsende
Kind in ihrem Bauch entscheiden. „Man muss sich einfach mal informieren,
was das hier eigentlich ist!“ Über das Downsyndrom sagt Dedreux: „Das ist
eigentlich normal.“
Aktivismus: Dedreux hat auch ein Buch über ihr Leben und ihren Alltag
geschrieben, es heißt „Mein Leben ist doch cool!“ Auf die Idee kam sie mit
ihrem Assistenten, der hilft ihr auch, ihre vielen Termine zu koordinieren.
Dedreux ist durch ihr Engagement berühmt geworden. Stolz zeigt sie den
Disability-Award, den sie 2021 gewonnen hat.
Ihre Botschaft: „Macht euch alle sichtbar!“ Viele Menschen mit Downsyndrom
würden sich wegen der Diskriminierung, die sie im Alltag erleben,
zurückziehen. Doch es sei wichtig „stark zu bleiben, an wichtigen Sachen
dranzubleiben, durch eine Debatte zu kämpfen.“ Dedreux bleibt laut.
Musik und Liebe: Wenn sie mal nicht mit ihrer Arbeit beschäftigt ist,
trifft sie sich mit ihrem Partner Nico oder geht tanzen. An ihrem Arm hat
sie viele Bänder von Festivals und eins von ihrer Lieblingsband „Kasalla“
aus Köln. Sie trägt außerdem ein Armband mit Regenbogenfarben: „Die sind
wichtig zu zeigen für die Menschen, die homosexuell sind, dass man die auch
mehr mitdenkt.“
26 Jun 2023
## LINKS
[1] /Inklusion-in-der-Bildung/!5780922
[2] /Theaterstueck-ueber-NS-Mordaktion/!5909057
[3] /Arbeit-in-Behindertenwerkstaetten/!5867082
[4] /Praenataltests-auf-das-Downsyndrom/!5922757
[5] /Praenatale-Diagnostik/!5937704
## AUTOREN
Lea De Gregorio
## TAGS
Der Hausbesuch
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