# taz.de -- Autor Stephen Marche über die US-Wahl: „USA ist nicht regierbar … | |
> Welche Konsequenzen hätte es für die USA, würde heute Donald Trump | |
> gewählt werden? Stephen Marche über den drohenden Zusammenbruch des | |
> Rechtsstaats. | |
Bild: Trumpisten beim Sturm des Kapitols am 6. Januar 2021 | |
Der kanadische Journalist Stephen Marche hat im Jahr 2021 mit seinem Buch | |
„Aufstand in Amerika“ für Aufsehen gesorgt, in dem er sehr detailliert das | |
Szenario eines neuen amerikanischen Bürgerkrieges durchspielt. Jetzt hat er | |
gemeinsam mit dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Andrew Yang den | |
politischen Thriller „The Last Election“ vorgelegt, in dem er aufgrund | |
umfangreicher Recherchen durchspielt, wie die amerikanische Demokratie 2025 | |
kollabieren könnte, weil die Präsidentschaftswahl zu keinem schlüssigen | |
Ergebnis kommt. | |
taz: Herr Marche, Sie sehen in Ihrem aktuellen Buch einen Militärputsch | |
voraus, falls es kein klares Wahlergebnis geben wird. Ist das ein | |
realistisches Szenario? | |
Stephen Marche: Der US-Kongress muss bis zum 6. Januar einen neuen | |
Präsidenten bestätigen. Wenn die Dinge bis dahin unklar sind, kommt es zu | |
einer kontingenten Wahl, wie wir das in dem Buch beschrieben haben. Die | |
Optionen sind ein überwältigender Sieg von Harris, ein überwältigender Sieg | |
von Trump, wo sie ganz klar gewinnen und am selben Abend bestätigt werden, | |
ein sehr knapper Sieg von Harris oder ein sehr knapper Sieg von Trump. Die | |
gefährlichste Variante ist der sehr knappe Sieg von Harris. Es gibt | |
Bedingungen, unter denen Generalstaatsanwälte in bestimmten Staaten, | |
[1][die aktive Trump-Loyalisten sind,] nur bestimmte Ergebnisse als gültig | |
akzeptieren werden. Wenn das passiert, dann geraten wir in sehr, sehr | |
komplizierte Verfassungsmechanismen, die nichts mehr mit Demokratie zu tun | |
haben. | |
taz: Sie gehen also davon aus, dass das Wahlergebnis angefochten wird? | |
Marche: Sie haben sicher die Umfragen gesehen, die letzte Woche in der New | |
York Times erschienen sind, wonach weniger als 50 Prozent der Amerikaner | |
und Amerikanerinnen der Meinung sind, dass ihre Demokratie den politischen | |
Willen des Volkes repräsentiert. Und 75 Prozent denken, dass sie bedroht | |
ist. Wir haben also ein System ohne große öffentliche Legitimation. Das | |
Einzige, was sicher ist, ist, dass niemand wirklich glauben wird, dass die | |
Person, die gewinnt, rechtmäßig an der Macht ist. Das ist die Gefahr, der | |
sich Amerika gegenübersieht. Der Wahltag wird nicht das Ende des | |
politischen Prozesses sein. Das wird nur der Anfang sein. | |
taz: Wenn Sie von einer kontingenten Wahl sprechen, könnten Sie kurz | |
erklären, was das genau bedeutet? | |
Marche: Was passieren müsste, wäre, dass einzelne Wahlmänner nicht von | |
ihrem Staat zertifiziert werden. Also, die Zahl von 270 Wahlmännern wird | |
dann einfach nicht erreicht, weil die Staaten sich weigern, ihre Wahlmänner | |
zu entsenden, oder weil es untreue Wahlmänner gibt. Es gibt eine ganze | |
Anzahl von Staaten, in denen untreue Wahlmänner rechtlich zugelassen sind. | |
taz: Gab es schon einmal eine kontingente Wahl? | |
Marche: Ja, im Jahr 1824. Andrew Jackson erhielt die meisten Stimmen im | |
Wahlkollegium und die meisten Stimmen der Bevölkerung. Aber er wurde nicht | |
Präsident, weil es Hinterzimmerverhandlungen gab. Das sind die Art | |
abstruser Verfassungsfragen, die eigentlich historisch sein sollten, aber | |
irgendwie sind sie heute wieder relevant. Und wenn das passiert, haben wir | |
ein System, das vollständig verfassungsgemäß ist, aber niemand würde das | |
mehr als Demokratie bezeichnen. | |
taz: Sie sagen also, wenn es eine kontingente Wahl unter den von Ihnen | |
beschriebenen Mechanismen gibt, existiert die amerikanische Demokratie | |
nicht mehr. | |
Marche: Ja, aber das bedeutet nicht, dass wir notwendigerweise in den | |
Totalitarismus abrutschen. Wenn man sich autokratische Regierungen ansieht, | |
dann haben sie die Mechanismen des Staates genutzt, um ihren Ländern ihren | |
Willen aufzuzwingen. Trump hat in seiner ersten Amtszeit nicht einmal ein | |
Drittel der Positionen im Außenministerium überhaupt besetzt. Sie blieben | |
einfach vakant. Wir haben es also mit etwas zu tun, das nicht die | |
Mechanismen des Staates in eine riesige repressive Bürokratie verwandelt. | |
Vielmehr sehen wir die Auflösung des Staates. Was Trump wirklich wichtig | |
war, waren seine Einschaltquoten und wie viel Aufmerksamkeit er bekam. | |
taz: Es wird jetzt viel über die Gefahr des Faschismus geredet, besonders | |
nach der Enthüllung von John Kelly im Atlantic, wonach Trump sich | |
erklärtermaßen Generäle wünsche, „wie Hitler sie hatte“. Sie halten die… | |
Etikett also nicht für sonderlich nützlich? | |
Marche: Verstehen Sie mich nicht falsch, diese Leute sind sehr gefährlich. | |
Aber ich glaube nicht, dass der Trumpismus in das Modell des Faschismus | |
passt, wie ich ihn historisch verstehe. Der Kern des Trumpismus, der Kern | |
dieser neuen Art von rechter Bewegung, die regierungsfeindliche | |
Patriotenbewegung, ist, dass man seine amerikanische Identität ausdrücken | |
kann, indem man seine eigene Regierung hasst. Es ist also ein Widerspruch | |
im Kern. Wenn Sie Mussolini betrachten, sagt er nicht, das Problem ist die | |
italienische Regierung. | |
taz: Gäbe es andere historische Vorbilder? | |
Marche: Wenn Sie Regierungen haben, die von Partisanen gegründet wurden, | |
wie Algerien zum Beispiel, neigen die Leute dazu, Widerstand gegen ihre | |
Regierung zu leisten, nach dem Motto: „Ich werde gegen jede Regierung | |
kämpfen, an die ich nicht glaube.“ Amerika ist letztendlich ein Land, das | |
von Partisanen gegründet wurde. Und diese Art von revolutionärem Impuls | |
ist, glaube ich, wirklich der Kern von vielem. Aber eine hoch entwickelte | |
Regierung des 21. Jahrhunderts kann man nicht führen, indem man die | |
Mechanismen der eigenen Regierung vernichtet. Und das sind auch die Dinge, | |
die Trump nicht wirklich will. In vielerlei Hinsicht hat Trump in seiner | |
ersten Amtszeit genau das Gegenteil getan. | |
taz: Sie sind also nicht sonderlich um die Demokratie besorgt. | |
Marche: Oh doch. Es wird sicher willkürliche Grausamkeiten geben und er hat | |
seine Präsidentschaft dazu genutzt, Dinge wie die Abtreibungsverbote | |
durchzusetzen. Aber es ist schwer, es als eine systematische Übernahme der | |
Kontrolle zu betrachten. Es ist eher Narzissmus und Kleinlichkeit. Aber | |
Trump ist nicht Mussolini, der eine echte Vision von Italien hatte. | |
taz: Sie denken also, dieses Gerede über Project 2025, das eine | |
systematische Demontage der verschiedenen demokratischen Institutionen | |
beschreibt, ist das unwahrscheinlichste Szenario. | |
Marche: Es ist doch in den USA nicht wie in Kanada oder Deutschland, wo | |
Politiker tatsächlich tun, was sie sagen. In Kanada hat der derzeitige | |
liberale Premierminister 92 Prozent seiner Wahlversprechen eingehalten. | |
Wenn man es mit dem amerikanischen System zu tun hat, ist es hingegen | |
extrem schwer, überhaupt Gesetze zu erlassen. Ich bin sicher, wenn die | |
Republikaner den Senat, den Obersten Gerichtshof und das Repräsentantenhaus | |
hätten, könnten sie es tun, aber selbst dann wird es sehr, sehr schwer, | |
selbst wenn man ein superorganisierter Mensch ist, was Donald Trump | |
definitiv nicht ist. | |
taz: Und das [2][macht Trump in gewisser Weise weniger beängstigend?] | |
Marche: Ich denke, die US-Verfassung ist darauf ausgelegt, | |
Machtkonzentration zu verhindern. Das ist oft zum Schlechteren. Amerika ist | |
nicht regierbar wie die meisten anderen liberalen Demokratien und bietet | |
deshalb ein gewisses Maß an Schutz. Trump hat offensichtlich gegen alle | |
Normen verstoßen, er kümmert sich nicht um die Rechtsnormen. Aber er war | |
nicht jemand, der Amerika auf irgendeine grundlegende Weise verändert hat. | |
taz: Aber gleichzeitig gibt es jetzt Leute wie Elon Musk, die denken, sie | |
könnten ihn als Marionette benutzen. | |
Marche: Sie dachten doch alle, sie könnten ihn benutzen. Aber in dem | |
Moment, in dem Trump denkt, dass Elon Musk ein bisschen größer wird als er, | |
ein bisschen mehr Aufmerksamkeit bekommt, wird es heißen; Goodbye Musk! Es | |
gab sehr ernsthafte Leute in Washington, die alle an den Start gegangen | |
sind und alle ausgeknockt wurden. | |
taz: Also nochmal, in gewisser Weise macht ihn sein Narzissmus fast weniger | |
gefährlich? | |
Marche: Nun, es gibt andere Maßstäbe für Grausamkeit. Er hat beispielsweise | |
beschlossen, Nafta mit Kanada neu zu verhandeln. Das war eine Katastrophe | |
für Kanada. Trump hat eines Nachmittags einen zufälligen Gedanken und | |
beschließt, Kanada im Grunde zu vernichten, und wir brauchten ungefähr zwei | |
Jahre, um wieder zur Normalität zurückzukehren. Diese Art von Willkür ist | |
gefährlich. | |
taz: In Ihrem Buch gibt es ein Szenario, in dem es eine Clique hochrangiger | |
Militärs gibt, die bereit sind, die Macht zu übernehmen. Was ist Ihre | |
Meinung zum US-Militär? Gibt es dort so mächtige Kräfte? | |
Marche: Das ist sehr schwer zu sagen, weil die amerikanischen Normen | |
zurzeit sehr schnell erodieren. Während der ersten Amtszeit Trumps war der | |
Eid auf die Verfassung, den das Militär schwört, tatsächlich eine Grenze, | |
wo es hieß: Bis hierhin und nicht weiter. Ich habe keinen Grund, etwas | |
anderes zu glauben, als dass der Vorrang dieses Eides im Militär bestehen | |
bleibt. Aber die Frage, welche Normen als Nächstes unter einer | |
Trump-Regierung fallen werden, ist eine sehr ernste Frage. | |
taz: Also wenn es, wie in Ihrem Buch beschrieben, in den nächsten Monaten | |
ein Machtvakuum gibt, wird der Rechtsstaat auf die Probe gestellt? | |
Marche: Wenn es ein Szenario gibt, in dem es keinen klaren Sieger gibt, | |
dann haben wir eine Legitimitätskrise, die jede Institution von Grund auf | |
in eine Neubewertung ihres Verhältnisses zur Macht zwingt. Und das ist | |
wirklich beängstigend. | |
taz: Aber im Buch ist das Ergebnis einer kontingenten Wahl von einer | |
starken dritten Partei abhängig, was nicht der Fall zu sein scheint. | |
Marche: Es kann trotzdem passieren, wenn es sehr knapp wird und bestimmte | |
Staaten beschließen, ihre Delegierten nicht nach Washington zu schicken. Es | |
geht darum, dass man es mit diesen unglaublich marginalen Staaten und | |
dieser riesigen Kluft zwischen der Volksabstimmung und den | |
Wahlmännerstimmen zu tun hat. [3][Es ist doch so, dass bei der Wahl 2020 | |
große Teile Amerikas], darunter die gewählten Vertreter einer Partei, nicht | |
glaubten, dass es eine legitime Wahl war. Es gibt hier also bereits eine | |
Legitimitätskrise, und es würde nicht viel brauchen, um dieses brüchige | |
System zusammenbrechen zu lassen. | |
5 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Sebastian Moll | |
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