# taz.de -- Ausblick auf das Superwahljahr 2024: Matchball für die Demokratie | |
> 2024 ist beinahe die Hälfte der Menschheit zu den Urnen gerufen. Was es | |
> braucht, ist eine friedliche Massenbewegung für die Prinzipien der | |
> Demokratie. | |
Bild: Seine Wiederwahl droht der Welt im November: Donald Trump, hier auf dem S… | |
Im kommenden Jahr finden gleich mehrere Endspiele der Demokratie statt. | |
Fast die Hälfte der wahlberechtigten Weltbevölkerung wird 2024 zu den Urnen | |
gerufen, nicht nur in der ostdeutschen Provinz, auch in Indien, der | |
bevölkerungsstärksten Demokratie der Welt, in den USA, einer der ältesten | |
Demokratien, und, nicht zu vergessen, in der Europäischen Union. | |
Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen stehen unter anderem in Pakistan | |
und Bangladesch, in Namibia und Mali, Peru und El Salvador, Belgien und | |
Österreich, Kroatien und Rumänien, Georgien und Litauen an, Kommunal- und | |
Regionalwahlen gar nicht mitgezählt. | |
Diese Häufung ist einerseits eine sehr gute Nachricht, denn die Demokratie | |
hat sich weltweit als Standard durchgesetzt. Dass sich selbst Diktatoren | |
wie Russlands Wladimir Putin, Syriens Baschar al-Assad und Nordkoreas Kim | |
Jong Un Scheinwahlen stellen, bestätigt indirekt die Legitimationsfunktion | |
von Wahlen, die unter fairen Bedingungen einen friedlichen Machtwechsel | |
bewirken. Auch Donald Trumps Anrufe beim Gouverneur von Georgia im | |
US-Präsidentschaftswahlkampf 2020, er möge ihm fehlende Stimmen „besorgen�… | |
belegen die normative Kraft elektoraler Mehrheiten. | |
Andererseits verzeichnet man seit der Jahrtausendwende einen markanten | |
Rückgang der Zahl der freien Länder, in denen allgemeine, gleiche, geheime | |
und faire Wahlen abgehalten werden. Die repräsentative Demokratie steht | |
fünffach unter Stress: In den postkommunistischen Staaten Russland und | |
China, genau wie in den meisten Ländern des „arabisch-islamischen Gürtels�… | |
ist sie fast komplett gescheitert. In klassischen Demokratien wie den USA, | |
Frankreich und Großbritannien steht sie unter dem starken Druck von rechts. | |
Multikulturelle Demokratien wie Indien vereinseitigen sich. Neue | |
Demokratien wie Ungarn machen auf dem gerade begonnenen Weg wieder kehrt. | |
Und in der Sahelzone reißen Militärs die Macht an sich. | |
Populistische Kritik von rechts und links hat Wahlen abgewertet, und | |
Rechtsradikale nutzten sie, um im Fall der Machtübernahme demokratische | |
Werte und Regeln außer Kraft zu setzen. Ungarn hat sich durch Wahlsiege | |
Viktor Orbáns Schritt für Schritt in eine legitimierte | |
„Zustimmungsautokratie“ verwandelt, und im November 2024 droht die erneute | |
Wahl Donald Trumps. Diese Wahl macht einen Unterschied ums Ganze, nicht nur | |
für die USA. Trump hat nicht nur einen Rachefeldzug gegen vergangene und | |
künftige Gegner angekündigt, er will auch die Nato auflösen, die Ukraine | |
teilen, Taiwan aufgeben und die Vereinigten Staaten gegen Menschen und | |
Waren aus dem Ausland einbunkern. | |
Das ist nicht die einzige Wahl, die weltweit ins Gewicht fallen wird im | |
kommenden Jahr. In Indien, derzeit Nummer fünf der Weltwirtschaft, | |
befürchten dortige Oppositionelle und ausländische Beobachter, ein Sieg des | |
Premierministers Narendra Modi könnte die prekäre multireligiöse Balance | |
zerstören. Es wäre der Sieg einer aggressiven Identitätspolitik über einen | |
farben- und glaubensblinden Universalismus, ein Kernstück demokratischer | |
Verfassungen, und ein neuer Beweis für die schwindende Attraktivität | |
liberaler Grundlagen im sogenannten Globalen Süden. | |
Das muss alles nicht so kommen. Nicht Joe Biden und Donald Trump, nicht | |
Narendra Modi, und erst recht nicht der rechtsextreme AfD-Mann Björn Höcke | |
oder der linke Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow, entscheiden | |
das Spiel – sondern die Wählerinnen und Wähler haben es in der Hand, ob | |
2024 ein nur quantitativ außergewöhnliches Wahljahr oder ein Endzeitdrama | |
für die Demokratie wird, wie es der irische Schriftsteller Samuel Beckett | |
in seinem Theaterstück „Endzeit“ verfasst hat. | |
Nicht der Putsch ist das erste Mittel der Entdemokratisierung, sondern | |
Wahlmanipulationen und -fälschungen, die einen Sieg der Opposition | |
ausschließen, flankiert durch die Gleichschaltung der Medien, die | |
Behinderung einer rechtsstaatlichen Justiz und die Beschneidung | |
finanzieller Mittel. Wo populäre Rivalen wie Alexander Nawalny in Russland | |
oder Khaleda Zia in Bangladesch den Potentaten gefährlich werden, sperrt | |
man sie weg. Am Wahlabend ist dann alles nach Plan gelaufen, aber nichts | |
korrekt. | |
Doch das Wahlvolk kann – wie der Ausgang der polnischen Wahl im Oktober | |
dieses Jahres zeigt – autokratische Abwege auch beenden, und ganz | |
Unerschrockene geben selbst Russland noch nicht ganz verloren. | |
## Es kommt auf die Wähler an | |
Da es letztlich auf die Wählerinnen und Wähler ankommt, muss man nicht | |
allein auf den gegnerischen Sturm starren, sondern die eigene Verteidigung | |
stärken und zum Gegenangriff „umschalten“. Demokratien sind in der | |
Geschichte nicht dem „Zangengriff“ der Extremisten erlegen, auch keiner | |
beiderseits betriebenen „Polarisierung“ der Meinungen und Milieus, sondern | |
dem Einknicken der politischen Mitte. Das war die exemplarische Erfahrung | |
der Weimarer Republik, die gewiss Feinde ganz links und ganz rechts hatte, | |
doch erst durch die Implosion der Mitte zu einer Demokratie ohne Demokraten | |
regredierte. | |
Dass es rechtsradikale Einstellungen, Verhaltensweisen und Organisationen | |
gibt, ist für parlamentarische Demokratien Normalität und an sich kein | |
Problem. Problematisch wird es, wenn die viel zitierte Brandmauer fällt, | |
wenn also formelle Koalitionen geschlossen und informelle Absprachen | |
zwischen den gemäßigten und radikalen Rechten getroffen werden. Und wenn | |
sich auf dem Weg dahin Vokabular und Inhalte der rechten Mitte schließlich | |
nur noch nuancenweise von denen der Ultras unterscheiden – so, dass | |
gewissermaßen der Schwanz mit dem Hund wackelt und die Wählerschaft dann | |
gleich das „Original“ wählt, wovor moderne Konservative wie Heiner Geißler | |
stets gewarnt haben. | |
Der [1][CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hatte versprochen, die AfD zu | |
„halbieren“], doch in seiner Zeit hat sie landesweit Mandate errungen und | |
in einigen Regionen die Meinungsführerschaft gewonnen. Gleichzeitig haben | |
Merz und CSU-Chef Markus Söder die Grünen zum „Hauptgegner“ erklärt, und | |
Migration zum Superthema dramatisiert. | |
Programmatik und Rhetorik der französischen, britischen und | |
österreichischen Konservativen unterscheiden sich kaum noch von der weiter | |
rechts stehenden Konkurrenz. [2][Bei den | |
Make-America-Great-Again-Republikanern] ist die Fusion weitgehend | |
vollzogen, und in vielen europäischen Ländern sind Christdemokraten und | |
traditionelle Konservative auf dem absteigenden Ast. Ihnen ist dringend zu | |
raten, sich nicht weiter auf diese abschüssige Bahn zu begeben. Und Wählern | |
der radikalen Rechten müsste klar werden, dass sie nicht länger | |
„Denkzettel“ austeilen, sondern radikale Kräfte stark machen. | |
Wir wissen, wie Demokratien sterben – Experten besprechen wortreich ihre | |
Schwächen. Doch während die rechten Minderheiten sich weit über ihre reale | |
Stärke hinaus in Szene zu setzen vermögen, kommt die Mobilisierung der | |
Mehrheit nur schwer in Gang. Mutige Richterinnen und Richter und vor allem | |
Frauenbewegungen haben sich quergestellt und eindrucksvolle | |
Massendemonstrationen organisiert; dass sie in Hongkong, Belarus, Myanmar | |
und andernorts in brutaler Repression endeten, hat sie nicht endgültig | |
kapitulieren lassen. | |
## Das Beispiel Polen | |
An Beispielen wie dem [3][Wahlsieg der Opposition in Polen] muss sich eine | |
wehrhafte Demokratie orientieren, die noch alle Ressourcen ihrer | |
Verteidigung in der Hand hat. Gegen die allgemeine Krisenmüdigkeit und die | |
schrecklichen Vereinfacher müssen sich die nach vorn blickenden Kräfte | |
sammeln, etwa mit einer überparteilichen Parlamentariergruppe in Land- und | |
Bundestagen und im Europaparlament. Vereinte Kräfte, um sich endlich der | |
größten Herausforderung der Demokratie, dem Klimawandel und Artensterben, | |
zu widmen. | |
Projekte zur Förderung der Demokratie bleiben oft bei antifaschistischer | |
Nabelschau stehen, die Stärkung der Demokratie muss, wie etwa Michel | |
Friedman gerade angesichts eines wieder offen artikulierten Antisemitismus | |
fordert, die Alltagskultur erreichen, und das heißt: im kontroversen | |
Gespräch mit Kolleginnen, Nachbarn, Freunden. Entschiedener Widerspruch und | |
ziviler Widerstand gegen die Feinde der Demokratie sind gefragt. | |
Für 2024 braucht es eine regelrechte levée en masse, eine friedliche | |
Massenerhebung für die Prinzipien und Prozeduren der Demokratie. Flankiert | |
werden muss das durch die selbstbewusste Affirmation der Werte der | |
westlich-liberalen Demokratie, die auch durch narzisstische | |
Identitätspolitik und eine kritiklose Parteinahme für den „Globalen Süden�… | |
geschwächt wird. Demokratische Experimente wie wirkungsvolle Bürgerräte und | |
gut dosierte Volksentscheide auf kommunaler Ebene verkleinern den Graben | |
zwischen dem Staatsvolk und den Volksvertretungen. | |
Das Team Demokratie liegt zurück, aber wer ein Spiel nicht von vornherein | |
verloren gibt, kann grandiose Siege einfahren. | |
28 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Cohn-Bendit | |
Claus Leggewie | |
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