# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Schäubles ehernes Gehäuse | |
> Des Finanzchefs Steckenpferd heißt Ordoliberalismus: Die autoritäre | |
> Markwirtschaft bestimmt die ganze EU. | |
Bild: Herr Schäuble hält uns allen seine hoch verehrte (schwarze) Null vor Au… | |
Wenn noch jemand einen Beleg brauchte, wie gefährlich Volksentscheide für | |
die Funktionsfähigkeit moderner Demokratien sind, hier ist er erbracht,“ | |
wetterte Roland Nelles auf Spiegel Online am 6. Juli 2015 nach dem Ausgang | |
des griechischen Referendums. Die Schockstarre, die das griechische Nein in | |
Deutschland auslöste, rührt von dem Frontalzusammenstoß zweier | |
wirtschaftlicher und politischer Weltanschauungen. | |
Die eine, die auch der Referendumsidee zugrunde liegt, beruht auf einer | |
genuin politischen Auffassung von Regieren: Die Stimme des Volkes hat | |
Vorrang vor den Regeln der Buchhaltung; eine gewählte Regierung kann die | |
Regeln auch ändern. Der andere Ansatz bindet das Regierungshandeln strikt | |
an die festgelegten Regeln. Die Politiker können handeln, dürfen aber | |
diesen Rahmen nicht verlassen, der de facto durch demokratische Verfahren | |
nicht infrage gestellt werden darf. Eben diese Geisteshaltung verkörpert | |
Finanzminister Schäuble. Für ihn sind die Regeln göttliche Gesetze, wie | |
sein Exkollege Varoufakis bemerkt hat. | |
Diese „deutsche Ideologie“ hat einen Namen: Ordoliberalismus. Wie die | |
angelsächsischen „Laissez faire“-Verfechter sind auch die Ordoliberalen | |
strikt dagegen, dass der Staat dem Markt die Hände bindet. Aber anders als | |
Erstere gehen die Ordoliberalen davon aus, dass sich die gelobte freie | |
Konkurrenz nicht naturwüchsig entfaltet. Der Staat muss sie vielmehr | |
organisieren, muss den rechtlichen, technischen, sozialen, moralischen und | |
kulturellen Rahmen für das Walten des Markts schaffen – und für die | |
Einhaltung der Regeln sorgen. Foucault hat das Neue am Neoliberalismus | |
deutscher Prägung gegenüber dem alten Liberalismus des 19. Jahrhundert klar | |
benannt: „Es soll sich viel mehr um einen Staat unter der Aufsicht des | |
Marktes handeln als um einen Markt unter Aufsicht des Staates.“1 | |
Die Geschichte des liberalen Interventionismus begann vor etwa achtzig | |
Jahren in der turbulenten Zwischenkriegszeit, [1][und zwar in einer Stadt, | |
auf die Herr Schäuble im September 2012 ausdrücklich verwiesen hat]: „Ich | |
bin in Freiburg geboren. Da gibt es so etwas wie die Freiburger Schule – | |
das hat was mit Ordoliberalismus zu tun. Das hat einen Zusammenhang mit | |
Walter Eucken. Der war zwar kein Finanzmarktexperte, aber von | |
Ordnungspolitik hat er etwas verstanden.“ | |
## Ordnung muss sein | |
Freiburg im Breisgau liegt an den Hängen des Schwarzwalds, unweit des | |
Straßburger Münsters und auch unweit der Schweizer Bankschließfächer. Auch | |
in der damals katholisch-konservativen Hochburg blieb die Wirtschaftskrise | |
von 1929 nicht folgenlos: Aus den Wahlen vom März 1933 ging die NSDAP mit | |
knapp 36 Prozent der Stimmen als Sieger hervor. | |
Während die Weimarer Republik unterging, machten sich hier drei | |
Universitätsgelehrte Gedanken über die Zukunft. Der | |
Wirtschaftswissenschaftler Walter Eucken wollte seine Disziplin auf | |
philosophischer Grundlage erneuern; die Juristen Franz Böhm und Hans | |
Großmann-Doerth befassten sich aus rechtlicher Sicht mit dem heiklen | |
Problem der Monopole und Kartelle. | |
Ihre gemeinsame Arbeit mündete in eine eigenartige Synthese: in ein | |
Forschungsprogramm, das sich um den Begriff der Ordnung dreht: „Ordnung“ | |
verstanden als ökonomisches Grundgesetz und zugleich als Spielregel. Um die | |
Kartelle zu neutralisieren und den Wettbewerb zu stärken, sei ein starker | |
Staat gefragt, der aber nicht selbst plant. „Die wirtschaftspolitische | |
Tätigkeit des Staates“ schreibt Eucken, „sollte auf die Gestaltung der | |
Ordnungsformen der Wirtschaft gerichtet sein, nicht auf die Lenkung des | |
Wirtschaftsprozesses.“ | |
Im Gegensatz zum klassischen Wirtschaftsliberalismus englischer Prägung | |
betrachten die Ordoliberalen den Markt und das Privateigentum nicht als | |
natürliche Gegebenheiten, sondern als Ergebnis und Form menschlichen | |
Handelns' das eines Ordnungsrahmens bedarf. Deshalb müsse der Staat die | |
Regeln des Wettbewerbs wahren und notfalls wiederherstellen. Zu einem | |
marktgerechten Umfeld gehörten gut ausgebildete Arbeitskräfte, Erhaltung | |
und Ausbau der Infrastruktur, Anreize zum individuellen Sparen, rechtlicher | |
Schutz des Privateigentums, Vertragsfreiheit sowie stabile Eigentums- und | |
Patentrechte. | |
## Der gemästete Sozialstaat | |
Zudem betont Eucken die herausragende Rolle eines funktionsfähigen | |
Preissystems. Dafür sorge, schreibt er in seinem wissenschaftlichen | |
„Testament“, eine Wirtschaftsverfassungspolitik, „die darauf abzielt, die | |
Marktform der vollständigen Konkurrenz zur Entwicklung zu bringen. Jede | |
Wirtschaftspolitik scheitert, der dies nicht gelingt. Das ist der | |
strategische Punkt, von dem aus man das Ganze beherrscht und auf den | |
deshalb alle Kräfte zu konzentrieren sind.“ Andernfalls führe der Einfluss | |
von Interessengruppen und der öffentlichen Meinung dazu, das oberste Ziel | |
der Geldwertstabilität zu verfehlen. | |
Der Ruf des anfangs kleinen Zirkels der Ordoliberalen drang bald über die | |
Freiburger Universität hinaus. Die Ökonomen Wilhelm Röpke und Alexander | |
Rüstow ergänzten den ordoliberalen Ansatz mit historischen und | |
soziologischen Bezügen, vor allem aber mit einer starken Dosis | |
konservativen Denkens. Die beiden Gegner des Naziregimes deuteten die Ende | |
der 1920er Jahre einsetzende Krise nicht als Versagen des | |
Wirtschaftssystems, sondern als „sekundäre Krise“ der sozialen Ordnung und | |
der Politik. Die Moderne habe das Proletariat entmenschlicht, einen | |
Sozialstaat gemästet und kollektivistische Mentalitäten gezüchtet. | |
Gegenüber dem „Aufstand der Massen“ beschwor Röpke eine „Revolte der | |
Eliten“. Um den Arbeitern ihre verlorene Würde zurückzugeben, müsse man sie | |
in vordemokratische, „natürliche“ Gemeinschaften – Familie, Gemeinde, | |
Kirche – eingliedern und zugleich das Übel der Gleichmacherei ausmerzen. | |
Der Aufschwung des Ordoliberalismus war Teil einer Bewegung, die sich in | |
den 1930er Jahren unter dem Namen „Neoliberalismus“ international | |
ausbreitete. Dabei stellten sich die „Ordo“-Vertreter gegen liberale | |
„Nostalgiker“ wie Ludwig von Mises und seinen Schüler Friedrich Hayek, die | |
den überkommenen Laissez-faire-Liberalismus nicht kritisieren und verändern | |
wollten. | |
Ende der 1930er Jahre waren die Herolde der Ordopolitik noch Außenseiter. | |
Im Nazideutschland hatten sie kaum Bündnispartner, wenngleich manche von | |
ihnen in wirtschaftspolitischen Zirkeln des Regimes mitarbeiteten: Ludwig | |
Erhard und Alfred Müller-Armack etwa, die seit 1941 als Vertreter | |
industrienaher Wirtschaftsberatungsinstitute mit dem NS-Staat | |
zusammenarbeiteten. Aber als Denkschule war der Ordoliberalismus in der | |
NS-Zeit in den geistigen Untergrund verbannt. Zwei wichtige Vertreter, | |
Röpke und Rüstow, emigrierten noch 1933, andere gaben ihre Lehrtätigkeit | |
oder ihren alten Beruf auf, um nicht ihr gesamtes Denken widerrufen zu | |
müssen. | |
## Erfinder der sozialen Marktwirtschaft | |
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann der Wiederaufbau, der sich in | |
der Bundesrepublik, anders als in Frankreich, Italien und Großbritannien, | |
nach wirtschaftsliberalen und nicht sozialdemokratischen Prinzipien | |
vollzog. Die einflussreichste Besatzungsmacht USA verhinderte die von der | |
Mehrheit der Deutschen gewünschte Verstaatlichung von Großunternehmen. Sie | |
förderte stattdessen eine „offene Wirtschaft“ – offen auch für künftige | |
Exporte – und erließ dem neuen Bundesgenossen die Hälfte seiner | |
Außenschulden. | |
Diese Bedingungen begünstigten von 1948 an den Aufbau eines politischen | |
Systems, in dem der Ordoliberalismus und die christliche Lehre zur | |
„sozialen Marktwirtschaft“ fusionierten. Der neue Ausdruck war glücklich | |
gewählt, wenngleich das Attribut „sozial“ trügt, wie Müller-Armack 1948 | |
klarstellte: „Ihr sozialer Charakter liegt allein schon darin, dass sie in | |
der Lage ist, eine größere und mannigfaltigere Gütermenge zu Preisen | |
anzubieten, die der Konsument durch seine Nachfrage entscheidend | |
mitbestimmt.“ | |
Einige Maßnahmen sollten dennoch die Ungleichheiten mildern, die dem | |
Wettbewerbsmodell innewohnen: Beibehaltung der Bismarck’schen | |
Sozialversicherung, Einkommensteuer, sozialer Wohnungsbau, Hilfe für kleine | |
Unternehmen. Kurzum, das „Soziale“ meint im Grunde die Aufforderung an den | |
Staat, für die „marktgerechte“ Gesellschaft zu sorgen. Damit wurde | |
Nachkriegsdeutschland gleichsam zum neoliberalen Freilandversuch. | |
Der Leiter des Experiments hieß Ludwig Erhard, der während des Kriegs zum | |
Ordoliberalismus konvertiert war. Nach dem Krieg war er zunächst Direktor | |
der Verwaltung für Wirtschaft in der Bizone, also der US-amerikanischen und | |
britischen Besatzungszone. In der Adenauer-Regierung war er von 1949 bis | |
1963 Wirtschaftsminister, und schließlich von 1963 bis 1966 als Nachfolger | |
Adenauers selbst Bundeskanzler. Mit der Einführung der D-Mark am 20. Juni | |
1948 wurden zugleich Strukturreformen eingeleitet, die als Grundlagen des | |
„Wirtschaftswunders“ gelten und tief im kollektiven Gedächtnis der | |
Deutschen verankert sind. | |
## Alles nur ein Spiel | |
Als Vater des Freihandels und der Privatisierungen pflegte Erhard seine | |
Politik mit einem Fußballspiel zu vergleichen, bei dem „der Schiedsrichter | |
nicht mitspielen darf, auch der Staat nicht mitzuspielen hat“. Wie beim | |
Fußball gebe es bestimmte, festgelegte Regeln: „Was ich mit einer | |
marktwirtschaftlichen Politik anstrebe, das ist … die für dieses Spiel | |
geltenden Regeln aufzustellen.“ | |
Den Grundsätzen seines Lehrers Eucken folgend, war Erhard dagegen, dass der | |
Staat die Folgen von Konjunkturschwächen abfedert, weil er befürchtete, | |
dass eine staatliche, auf Vollbeschäftigung fixierte Konjunkturpolitik die | |
Geldwertstabilität bedrohen und die Verantwortung des Einzelnen schwächen | |
würde. | |
Ihren größten Triumph erlebte die Ordopolitik 1957, als Erhard zwei | |
wichtige Vorhaben durchsetzte: die Unabhängigkeit der Bundesbank und das | |
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Damit wurden Geldwertstabilität und | |
unbeschränkter Wettbewerb zu Staatszielen erhoben. Damit sind diese beiden | |
Prinzipien „der regulären demokratischen Abstimmung entzogen“, urteilt | |
Christophe Strassel, Staatssekretär im französischen Bildungs- und | |
Forschungsministerium. | |
Natürlich hat der deutsche Wirtschaftsminister diese Politik nicht im | |
Alleingang betrieben. Seit 1948 umgab sich Erhard mit ordoliberalen | |
Experten aus der Freiburger Schule, die dem wissenschaftlichen Beirat der | |
Bizone angehörten: Franz Böhm, Walter Eucken, Alfred Müller-Armack. Den | |
erstaunlichsten Durchbruch schaffte der Ordoliberalismus jedoch im | |
parlamentarischen Raum. Mit dem Begriff „soziale Marktwirtschaft“ und dem | |
Slogan „Wohlstand für alle“ bot er der noch jungen CDU die Gelegenheit, den | |
Sozialdemokraten ihr ureigenes Terrain streitig zu machen. | |
## Die Anbetung der schwarzen Null | |
Der Sirenengesang des „Sozialen“ im CDU-Motto rief einige SPD-Vordenker auf | |
den Plan. 1955 propagierte Karl Schiller in seiner Schrift „Sozialismus und | |
Wettbewerb“ das Leitbild: „So viel Wettbewerb wie möglich, so viel Planung | |
wie nötig.“ Diese Formel übernahm die SPD 1959 ins Godesberger Programm, | |
mit dem sie endgültig ihren Frieden mit Privateigentum und Marktwirtschaft | |
machte. | |
Dieser Anpassungskurs wäre schier undenkbar, hätte sich nicht zuvor der | |
Ordoliberalismus in der deutschen Gesellschaft eindeutig durchgesetzt: als | |
praktizierte „soziale Marktwirtschaft“, als Mixtur aus Eucken und Bismarck, | |
also Marktregeln Freiburger Machart und Sozialversicherung. | |
Erst Erhards Sturz von 1966 kündigte eine wirkliche „soziale“ Wende an, die | |
sich 1969 mit der Regierung des Sozialdemokraten Willy Brandt vollzog. Zu | |
den ordoliberalen und Bismarck’schen Einflüssen trat nun eine | |
keynesianische Perspektive hinzu: mittelfristige Finanzplanung, höhere | |
Löhne, Ausbau der Mitbestimmung, öffentliche Investitionen in Bildung und | |
Gesundheit. Die Bundesrepublik der 1970er Jahre bastelte sich ein „Modell | |
Deutschland“, das sich weiterhin zur sozialen Marktwirtschaft bekannte, ihr | |
aber eine kräftige Dosis klassischer Staatsinterventionen verpasste. | |
Mit dem Regierungswechsel von 1982 gelang es Helmut Kohl, diese | |
wirtschaftspolitische Zwischenzeit zu beenden. Die Waage senkte sich wieder | |
in Richtung der haushaltspolitischen „schwarzen Null“, obgleich in den | |
1990er Jahren die Kosten der deutschen Vereinigung die Rückkehr zu den | |
ordoliberalen Wurzeln verzögerten. | |
## Massive Deregulierung | |
Erst dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder sollte 1998 die Rolle zufallen, | |
die Wirtschaftsordnung der 1950er Jahre durch massive Deregulierung im | |
Arbeitsrecht und das Ausdünnen der sozialen Sicherungssysteme auf | |
zeitgemäße Weise zu restaurieren. Diese Politik besiegelte Angela Merkel, | |
die schon 2011 den Begriff der marktkonformen Demokratie geprägt hatte, mit | |
dem Satz: „Die soziale Marktwirtschaft ist unser Kompass, weil ihre | |
Prinzipien zeitlos gültig sind.“ | |
Achtzig Jahre nach seiner Gründung lebt der deutsche Ordoliberalismus in | |
wichtigen Institutionen fort: im 1957 geschaffenen Bundeskartellamt, in der | |
Monopolkommission und im Stabilitätsrat, der seit 2010 die Einhaltung der | |
Schuldenbremse bei Bund und Ländern überwachen soll. Die ordoliberale | |
Ideologie durchzieht die wirtschaftspolitische Sprache, als wäre sie ein | |
deutsches „Kulturgut“, das jeder auf seine Weise ausdeuten darf. | |
Ob Konservative oder Liberale, ob SPD, Grüne oder gar die Alternative für | |
Deutschland, deren Mitgründer Starbatty Assistent von Müller-Armack war: | |
Die deutschen Parteien haben viele Erben Euckens in ihren Reihen, und jeder | |
beschuldigt die anderen, das ordoliberale Denken zu missbrauchen. „Ich bin | |
ein Ordoliberaler, aber von links“, versichert Gerhard Schick, der seit | |
2005 für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag sitzt. | |
Der promovierte Ökonom, ehemals Mitarbeiter am Walter-Eucken-Institut der | |
Uni Freiburg, würde sich jedoch „auf keinen Fall“ als neoliberal | |
bezeichnen: „Bei den Grünen ist der Begriff ‚soziale Marktwirtschaft‘ | |
allgemein anerkannt, wenngleich wir gern das „Ökologische“ hinzufügen. In | |
jedem Fall teile ich die kritischen ordoliberalen Analysen zur | |
Marktbeherrschung. Und ich finde es wichtig, dass der Staat Regeln setzt, | |
damit der Wettbewerb funktionieren kann.“ | |
## Suggestion für Linke | |
Bei den Grünen gibt es heute mehr oder minder interventionistische | |
Strömungen. Für Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, ist der | |
Ordoliberalismus keine geschlossene Doktrin. Sein Leitbild der | |
„Verantwortung“ könne die Regulierung der Finanzmärkte und Umweltsteuern | |
ebenso begründen wie die Ablehnung eines gemeinsamen europäischen | |
Schuldentilgungsfonds: „Im Grunde ist der Ordoliberalismus ein dritter Weg | |
zwischen Laissez-faire-Kapitalismus und Etatismus. Das ist gerade für die | |
Grünen ein interessanter Ansatz, der sie von traditionellen | |
links-sozialistischen Konzepten und zugleich vom heutigen Neoliberalismus | |
abgrenzen kann.“ | |
Herbert Schui sieht das anders. Der Ökonom und ehemalige Linken-Abgeordnete | |
im Bundestag sieht in der sozialen Marktwirtschaft einen rein „suggestiven“ | |
Begriff, „der verbreitet wurde, um die Leute von sozialistischen Ideen | |
abzuhalten. Seine suggestive Kraft ist offensichtlich so groß, dass sogar | |
ein paar Linke darauf hereinfallen.“ Das vieldeutige Leitbild versprach | |
zudem eine „Neubegründung“ vertrauter Prinzipien – was in etwa der Rolle | |
des Gaullismus in Frankreich entspricht. | |
Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund übernahm den Begriff 1996 in sein | |
Grundsatzprogramm: „Die soziale Marktwirtschaft hat einen hohen materiellen | |
Wohlstand bewirkt“ und „bedeutet gegenüber einem ungebändigten Kapitalism… | |
einen großen historischen Fortschritt“. Er räumt aber ein: „Aber auch die | |
soziale Marktwirtschaft hat weder Massenarbeitslosigkeit noch | |
Ressourcenverschwendung verhindert; auch sie hat soziale Gerechtigkeit | |
nicht hergestellt.“ | |
Während ein Teil der deutschen Linken im Ordoliberalismus eine Form des | |
Interventionismus als mögliche Alternative zum heutigen Neoliberalismus | |
sieht, besetzt die Arbeitgeberseite den Begriff im streng | |
wirtschaftsliberalen Sinne. So kämpfte die vom Arbeitgeberverband | |
Gesamtmetall finanzierte „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ gegen | |
die staatliche Förderung der erneuerbaren Energien, gegen die | |
Erbschaftsteuerreform und noch bis zum Schluss gegen den 2015 eingeführten | |
gesetzlichen Mindestlohn. | |
## Blaupause für Maastricht | |
Als jüngster Ableger der 1953 gegründeten „Aktionsgemeinschaft Soziale | |
Marktwirtschaft“ lobt die „Jenaer Allianz zur Erneuerung der Sozialen | |
Marktwirtschaft“ alljährlich den „ORDO-Preis für ordnungspolitische | |
Innovationen“ aus. Der Kronberger Kreis, ein Zirkel von | |
Wirtschaftswissenschaftlern, der als „wissenschaftlicher Beirat“ der | |
Stiftung Marktwirtschaft fungiert, sieht sich als „Vordenker notwendiger | |
Reformen“, dessen Vorschläge „die wirtschaftspolitische Diskussion in | |
Deutschland maßgeblich geprägt haben“. | |
Insgesamt verfügt die Ordopolitik über ein mächtiges Netzwerk, das bis in | |
die Kirchen hineinreicht. Das mit Abstand einflussreichste Organ, das | |
Ludwig Erhard 1963 als Beratungsgremien der Bundesregierung gründete, ist | |
der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen | |
Entwicklung“. Nur einer seiner fünf derzeitigen Mitglieder ist Keynesianer: | |
Peter Bofinger, der im Economist vom 9. Mai 2015 klagte: „Egal welches | |
Thema, ich bin immer allein gegen vier.“ | |
Bofingers Kollegen sehen sich vor allem als Pragmatiker. „Die meisten | |
Mitglieder erkennen die Vorzüge ordnungspolitischer Konzepte an. Aber wenn | |
Sie genauer hinschauen, ist es doch ziemlich heterogen“, erklärt Lars Feld, | |
einer der „Weisen“ und Präsident des Freiburger Walter-Eucken-Instituts. | |
Die Ordoliberalen seien nicht grundsätzlich gegen eine expansive | |
Fiskalpolitik in der Wirtschaftskrise. Das gelte auch für heutige | |
Ordoliberale wie ihn selbst und Clemens Fuest: „Wir haben in der | |
Finanzkrise 2008 gemeinsam einen Brief an Herrn Steinbrück geschrieben. Da | |
haben wir klar empfohlen, ein größeres Konjunkturpaket vorzulegen und eine | |
expansive Fiskalpolitik zu betreiben. Wir haben aber natürlich auch | |
reingeschrieben: Wenn Ihr Angst habt, dass sich danach Eure | |
Refinanzierungsbedingungen verschlechtern, dann führt die Schuldenbremse | |
ein.“ | |
Beiden Empfehlungen sei die Bundesregierung damals gefolgt. Der | |
Wirtschaftswissenschaftler Ralf Ptak sieht es anders: „Die Deutschen | |
pflegen in ihrer Mischung aus Ordoliberalismus und Neoklassik eine | |
besondere Art des Dogmatismus. Für mich ist es manchmal unfassbar, wie | |
wenig beweglich Deutschland ist. Und das zieht sich durch alle | |
Institutionen.“ | |
Über ihre eigenwillige deutsche Lesart hat die Ordoideologie Einzug in die | |
Europäische Union gehalten. Im Februar 2013 bekannte Bundesbankpräsident | |
Jens Weidmann in aller Offenheit: [2][“Der gesamte Maastricht-Rahmen | |
spiegelt zentrale Prinzipien des Ordoliberalismus und der sozialen | |
Marktwirtschaft wider.“] Entsprechend klingt Artikel 2.3 des Ende 2009 in | |
Kraft getretenen Lissabonner Vertrags wie die Passage einer Erhard-Rede, | |
beschwört er doch „eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale | |
Marktwirtschaft“ auf der Basis von ausgewogenem Wirtschaftswachstum und | |
Preisstabilität. | |
Das ist kein Zufall. Von Walter Hallstein, 1958 bis 1967 erster Präsident | |
der Europäischen Kommission, über Alfred Müller-Armack bis Hans von der | |
Groeben, EWG- Wettbewerbskommissar in der Ära Hallstein, waren die meisten | |
deutschen Vertreter, die in den 1950er Jahren den Gemeinsamen Markt mit | |
aufbauten, Anhänger der Eucken’schen Denkschule. Diese europäischen | |
Spitzenbeamten haben, zunächst als Außenseiter, die Wirtschaftsstrategie | |
Erhards und seiner Expertengremien aus der Bundesrepublik auf die | |
europäische Gemeinschaftsebene übertragen. Dabei zielten sie vor allem auf | |
die Schaffung eines rechtlichen Rahmens für Wettbewerb und | |
Geldwertstabilität, was die Großmächte während des Kalten Kriegs für | |
zweitrangig hielten. | |
Dennoch war ihr Triumph zunächst nicht gesichert. Denn das europäische | |
Gebäude wurde in den 1950er Jahren auf zwei sehr unterschiedlichen | |
ideologischen Pfeilern errichtet. Die französische Regierung verfolgte eine | |
eher interventionistische, planwirtschaftliche Strategie und wollte ganze | |
Wirtschaftsbereiche (die Landwirtschaft und nationale Schlüsselindustrien) | |
mithilfe von Ausnahmeregeln und Subventionen aus dem Wettbewerb | |
heraushalten. Die andere, ordoliberale Strategie drängte die europäischen | |
Partner, alle Handelsbarrieren auch über die EG hinaus einzureißen; schon | |
1956 machte sich Bundeskanzler Erhard für einen übergreifenden | |
transatlantischen Markt stark. | |
Obwohl das französische Konzept in den 1960er Jahren den Ton angab, war der | |
Trend zur Deregulierung, zum uneingeschränkten Wettbewerb und einer | |
restriktiven Finanz- und Haushaltspolitik nicht aufzuhalten. Am 23. März | |
1983 dankte Frankreich symbolisch ab, als François Mitterrand seine | |
„Politik des Bruchs“, für die er gewählt worden war, aufkündigte und die | |
Bindung des Franc an das Europäische Währungssystem aufrechterhielt. Die | |
damit eingeleitete Austeritätspolitik der französischen Linken ist von | |
ähnlicher symbolischer Bedeutung wie das Spardiktat, das Alexis Tsipras am | |
6. Juli 2015 in Brüssel schlucken musste. | |
## Das Ende von Keynes | |
Damals gestand Mitterrand: „Ich bin zwischen zwei Zielen hin- und | |
hergerissen: zwischen dem Aufbau Europas und der sozialen Gerechtigkeit.“ | |
Vor dieselbe Alternative wurde der griechische Regierungschef gestellt, | |
wobei der Druck, den Kohl und der französische Finanzminister Jacques | |
Delors seinerzeit ausübten, weniger hart war als die wütenden Ultimaten an | |
die griechische Adresse. | |
Fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer prägt die „Ordo“-Doktrin nach | |
wie vor das Denken in der Brüsseler „Generaldirektion Wettbewerb“ und hat | |
zahlreiche EU-Kommissare inspiriert: vom Belgier Karel van Miert, Träger | |
des Ludwig-Erhard-Preises von 1998, bis zum Italiener Mario Monti. Doch die | |
schier uneinnehmbare Ordofestung bleibt Frankfurt. In der Funktionsweise, | |
der Unabhängigkeit von den demokratischen Institutionen und der | |
Verpflichtung auf das zentrale Ziel der Geldwertstabilität ist die | |
Europäische Zentralbank fast ein Ebenbild der Bundesbank. Zu Recht hat die | |
französische Wirtschaftszeitung Les Echos 2003 den scheidenden | |
EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet als „glaubwürdigsten Vertreter des | |
Geistes wie auch der Praxis der Bundesbank“ gewürdigt. | |
Heute ist der Kampf der zwei Schulen in Europa beendet: Es gibt nur noch | |
eine. Die Volkssouveränität ist trockengelegt, ersetzt durch immer neue | |
kalt-effiziente Steuerungsmechanismen, die in den Brüsseler Büros und im | |
Frankfurter EZB-Turm ausgeheckt werden: von den demokratisch nicht | |
legitimierten Maastricht-Kriterien (mit der berühmten 3-Prozent-Grenze für | |
das Staatsdefizit) bis zur der im März 2012 eingeführten Schuldenbremse für | |
die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten. | |
Zehn Tage nach dem griechischen Referendum erklärte Hans-Werner Sinn, der | |
einflussreichste rechtsrheinische Ökonom, Schäuble-Berater und zugleich ein | |
besonders starrsinniger Vertreter der herrschenden Lehre: „Die gegenwärtige | |
Krise in Europa schließt die Anwendung keynesianischer Rezepte aus. Das ist | |
nicht einmal besonders ordoliberal, das ist ganz einfach ökonomisch.“ Auf | |
dem Weg in die autoritäre Marktgesellschaft ist Euckens Denkgebäude zum | |
ehernen Gehäuse geworden. | |
29 Aug 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Audio/Alternativtexte/2012… | |
[2] http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Reden/2013/2013_02_11_weidmann.html | |
## AUTOREN | |
François Denord | |
Rachel Knaebel | |
Pierre Rimbert | |
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