| # taz.de -- Auftakt des Berliner Theatertreffens: Spiegelung der Verhältnisse | |
| > Das Berliner Theatertreffen beginnt mit der Forderung nach | |
| > Gendergerechtigkeit in der Branche. Ausgezeichnet wird das Kollektiv She | |
| > She Pop. | |
| Bild: Szene aus „Unendlicher Spaß“ nach dem Roman von David Foster Wallace | |
| Mit den Arbeiten von zwei Regisseuren, Simon Stone und Thorsten Lensing, | |
| und der Verleihung des Theaterpreis Berlin an She She Pop, begann am | |
| Wochenende das Theatertreffen in Berlin. Unter den zehn Inszenierungen, die | |
| eine Kritikerjury als bemerkenswert ausgewählt hat, stammen zwei von | |
| Regisseurinnen und eine von [1][Kollektiv She She Pop]. | |
| „Im Theatertreffen gibt es ein großes Missverhältnis zwischen männlichen | |
| und weiblichen Regisseuren. Und das seit den 1960er Jahren“, hatte Yvonne | |
| Büdenhölzer, die Leiterin des Theatertreffens, wenige Tage vorher | |
| konstatiert und für wenigstens zwei Jahre [2][eine Frauenquote als | |
| Hilfsmittel] der Korrektur verordnet. | |
| Bei der Eröffnung am Freitag hielt allerdings nicht Yvonne Büdenhölzer, | |
| sondern Thomas Oberender, der Direktor der Berliner Festspiele, die | |
| Eröffnungsrede. Sie steuerte auf die Frage der Gendergerechtigkeit im | |
| Theaterbetrieb zu, um noch einmal die Quote von 50 Prozent Regisseurinnen | |
| zu verkünden. Das Publikum applaudierte. | |
| She She Pop, das Theaterkollektiv aus sieben Frauen und einem Mann, ist mit | |
| seinem Stück „Oratorium“ über Eigentumsverhältnisse eingeladen. Sie rett… | |
| dem Theatertreffen in diesem Jahr ein wenig den Arsch, erhielten sie doch | |
| den Theaterpreis Berlin. Seit ihrer Gründung vor 25 Jahren haben sie sich, | |
| wie es in der Jury-Begründung heißt, an einer „solidarischen Arbeitspraxis�… | |
| und einem „feministischen Gegenentwurf zu den herkömmlichen Strukturen am | |
| Stadttheater“ geübt. | |
| ## Im „Hotel Strindberg“ tobt die Beziehungsschlacht | |
| Die Einsicht in die Notwendigkeit der Emanzipation der Frauen steht schon | |
| lange auf der Agenda, die Geschichte der Abwehrbewegungen ist ebenso alt. | |
| Davon erzählte [3][die Inszenierung „Hotel Strindberg“ von Simon Stone] | |
| nach Motiven aus Texten Strindbergs viel. „Jetzt schreibe ich die Dialoge | |
| und du lernst den Scheiß auswendig“, haut auf dem Höhepunkt ihrer Empörung | |
| Caroline Peters als Ehefrau ihrem Mann, Autor und Drehbuchschreiber (Martin | |
| Wuttke) entgegen. | |
| Seine Abwehrhaltung, mit der er gegen die Performance-Kunst seiner | |
| erfolgreichen Tochter anstänkert, macht ihn zum Giftzwerg. „Die wollen | |
| nicht Gerechtigkeit, die wollen Rache“, vertraut er seinem Schwager an. | |
| Aha, denkt man, Rache, da wird er schon wissen, wofür? | |
| „Hotel Strindberg“ spielt in vier bis sechs durch große Fenster einsehbaren | |
| Zimmern parallel, überall tobt die Beziehungsschlacht, es geht um Betrug, | |
| Sex, Machtverhältnisse. Und selbst dort, wo gleiche Rechte scheinbar offen | |
| ausgehandelt sind, Seitensprünge numerische Ausgewogenheit vorgeben, aber | |
| bitte immer davon erzählen, ist mit der vermeintlichen Offenheit nur eine | |
| neue Bühne für Demütigungen geschaffen. | |
| Das alles haben Stone und das großartige Ensemble in Zeiten von Tinder und | |
| den Hype um Polyamorie verlegt, allein die Oberflächlichkeit der | |
| Beziehungen schützt nicht vor der Tiefe der Verletzungen. Das Format | |
| täuscht Boulevard-Theater an, die Dialoge sind pointenreich, aber unter den | |
| Wortgefechten lauern Vergewaltigung, Missbrauch und Kindsmord. | |
| ## Frauen spielen Männer, Männer spielen Frauen | |
| Simons Stone ist mit dieser effektvollen Inszenierung, koproduziert vom | |
| Theater Basel und vom Burgtheater Wien, zum dritten Mal zum Theatertreffen | |
| eingeladen, das in diesem Jahr vor allem bekannte Namen aufweist. Mehr | |
| Abweichung von diesem Schema verspricht eine Frauenquote allemal. | |
| Dass statistischer Ausgleich aber nicht die einzige Strategie der | |
| Gendergerechtigkeit ist, dass auch unter ungleichen Verhältnissen die Kunst | |
| auf vielen Wegen diese zu thematisieren wusste, ist allerdings auch eine | |
| lange Geschichte. Frauen spielen Männer, Männer spielen Frauen, das macht | |
| jeweils aus unterschiedlichen Gründen Sinn, Spaß oder schönes Dekor. Es | |
| wäre zu viel, dies generell als eine List des Theaters zu überhöhen. Es ist | |
| vielmehr alltäglich gewordene Praxis, mit mal mehr, mal weniger Potenzial | |
| zur kritischen Spiegelung der Verhältnisse. | |
| In Thorsten Lensings Inszenierung von „Unendlicher Spaß“ nach dem Roman von | |
| David Foster Wallace spielt Ursina Lardi den Jungen Hal Incandenza, der | |
| Wörterbücher liebt, seinem behinderten Bruder Mario durch schlaflose Nächte | |
| hilft, vom Selbstmord des Vaters traumatisiert ist und auf einer | |
| Tennisakademie gedrillt wird. | |
| ## Eine Kette von Monologen, Fallstudien und Erzählungen | |
| Einerseits passt Lardis Zartheit gut zur Verletzlichkeit dieser Rolle, | |
| andererseits ist sie, die bei Milo Rau auch schon Lenin spielte, ein Star | |
| nicht nur von Lensings Ensemble, und eine weibliche Figur steht eben nicht | |
| im Mittelpunkt des um Neurosen, Depressionen und Drogen kreisenden Romans. | |
| Thorsten Lensing ist ein freier Regisseur, der lange an großen Stoffen, | |
| immer wieder mit Ursina Lardi, Devid Striesow und André Jung arbeitet, und | |
| dafür bis zu neun koproduzierende Theater in sein Boot holt, darunter immer | |
| wieder die Sophiensäle in Berlin. Ursina Lardi ist also nicht nur eine | |
| tolle Spielerin in seinem Team, sondern auch Teil des Kapitals, mit dem er | |
| von seinen Projekten überzeugen kann. | |
| Sein „Unendlicher Spaß“ ist eine Kette von Monologen, Fallstudien und | |
| Erzählungen, die den Sprachreichtum und die angstbesetzen Visionen einer | |
| Zukunft von [4][David Foster Wallace] aufleuchten lassen. Eine Leistung ist | |
| es auf jeden Fall schon, in vier Stunden Theater so viel und so | |
| verständlich, so berührend und oft so komisch aus diesem labyrinthischen | |
| Roman auf die Bühne zu stellen. Allein, es bleibt ein Bild von grotesken | |
| Einzelschicksalen, das sich nicht verbindet zu einem Panorama einer | |
| Gesellschaft, die sich mit ihrer Ideologie von Stärke und | |
| Leistungsbereitschaft in Heuchelei, Krankheit und Wahnsinn hineintreibt. | |
| 5 May 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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