| # taz.de -- Gentrifizierungsdrama in Berlin: Brechtelndes Weihespiel | |
| > She She Pop gastieren mit „Oratorium“ im Berliner HAU2. Trotz Tragik und | |
| > ironischer Leitplanken stellt das Stück niemals das System infrage. | |
| Bild: She She Pop wagen die „kollektive Andacht zu einem wohlgehüteten Gehei… | |
| Wie bringt man einen ganzen Saal gewiefter Theaterzuschauer*innen zum | |
| Mitsprechen? Es reicht, eine kursiv getippte dramatis persona – hier | |
| zunächst der Chor „Alle“, dann „Einer“ – mit Doppelpunkt und Text au… | |
| Screen zu projizieren und in den Repliken mit trockenem Humor die Gedanken | |
| des Publikums vorwegzunehmen. Schon läuft Partizipation wie am Schnürchen. | |
| Beherzt ergreifen einzelne Männerstimmen insbesondere in den Solopassagen | |
| das Wort, doch auch der auf dem Screenskript behauptete „Chor der nicht | |
| abgesicherten Mütter“ klingt erstaunlich kräftig. So jedenfalls in der | |
| Berlin-Premiere von She She Pops groß vernetzter Koproduktion „Oratorium“ | |
| im Berliner HAU2, wo das versammelte Checker-Publikum sich nun wirklich | |
| nicht lang bitten ließ. Zumindest, was das semianonyme Ablesen im dunklen | |
| Saal betrifft. | |
| Der (Sprech-)Chor, der schon im antiken Drama die Rolle der Öffentlichkeit | |
| erfüllte und dem demos eine Stimme gab, hat im Theater seit einiger Zeit | |
| wieder Konjunktur und eine meist ausdrücklich politische Funktion. Der wie | |
| das Kollektiv She She Pop in Gießen ausgebildete Theatermacher René | |
| Pollesch etwa hat immer wieder Chöre in seine Stücke eingebaut, die | |
| polnische Regisseurin Marta Gornicka inszeniert vielstimmige Chor-Körper, | |
| und die Musikerin Bernadette La Hengst lud zwölf Bürger*innen samt Publikum | |
| zum „Bedingungslosen Grundeinsingen“. | |
| Auch She She Pop verfolgen mit ihrer tonlosen Einladung zum Mitsprechen | |
| mehr als nur theaterästhetische Absichten: Es geht um Haben und Nichthaben, | |
| um die Auswirkungen von Eigentum auf die Gesellschaft, verdeutlicht | |
| insbesondere am Beispiel von Grund- und Immobilienbesitz. | |
| Junge Männer ohne festes Einkommen | |
| Der Gedanke, den dramatischen Unterschied zwischen Mieter*innen und | |
| Eigentümer*innen (die leider pauschal mit Erben gleichgesetzt werden) | |
| direkt im Publikum zu inszenieren, ist schlagend, bleibt jedoch nur | |
| Rahmenhandlung. Nachdem das Skript die immer kleinteiligere Spaltung des | |
| Publikums ad absurdum getrieben hat (neben den „jungen Männer ohne festes | |
| Einkommen“, „Theaterwissenschaftler*innen“, dem „Chor der Wohlhabenden�… | |
| anderen werden etwa „Menschen, die schon als Jugendliche im Osten bei | |
| Straßenparaden Worte sprechen mussten, die nicht ihre eigenen waren“ etc. | |
| unterschieden), betreten Lisa Lucassen, Mieke Matzke und Berit Stumpf von | |
| She She Pop feierlich mit einem handverlesenen Chor lokaler Delegierter das | |
| Lichtquadrat auf der Bühne. | |
| Sie tragen prächtige Fahnen aus gebrauchten Kleidern und Stoffresten, die | |
| sich später in prachtvolle Kostüme oder bunte Parzellen auf kollektivem | |
| Grund verwandeln lassen (Kostüme: Lea Søvsø). Zwei Musiker steuern mit | |
| Xylophon und Trompete einen betont kargen Soundtrack bei. Im Zentrum des | |
| nun anhebenden Weihespiels steht eine brechtelnde „Fabel von der | |
| Entmietung“, wie sie die Berliner Autorin Annett Gröschner erzählt haben | |
| könnte: „Die Schriftstellerin“ wohnt seit Jahrzehnten in einem | |
| Prenzlauer-Berg-Altbau zur Miete und muss eines Tages den eigenen Wohnraum | |
| zur Besichtigung durch potenzielle Käufer, darunter ausgerechnet ein | |
| ehemaliger Praktikant, freigeben. | |
| Das Gentrifizierungsdrama verliert zwar trotz formal ironischer Leitplanken | |
| nicht an individueller Tragik, kriegt aber an keiner Stelle die Schlagkraft | |
| eines Schlüsselereignisses, das das System infrage stellt. Denn She She | |
| Pop interessieren sich lieber für die spaltenden Emotionen, die sich auf | |
| beiden Seiten einstellen: ohnmächtige Wut und Neid bei den Mieter*innen, | |
| bestenfalls schlechtes Gewissen oder zynische Empathie bei den | |
| Eigentümer*innen. | |
| ## Bitte kurz die Differenz aushalten | |
| Hier kommt die wissend um die eigene Mittelschichtswohlstandsblase | |
| kreiselnde Inszenierung an ihre Grenze: Der Aufforderung an die Erben, auf | |
| die Bühne zu gehen, leisten nur zwei mutige Frauen Folge (zwei Statisten | |
| sind hörbar eingepreist). Der offen ermittelte Eigentumswert des | |
| Bühnengrüppchens einschließlich der Protagonistinnen beläuft sich auf rund | |
| 6,5 Millionen Euro – atemberaubend, wenn man sich ausmalt, wie viel | |
| Vermögen allein der halbe Zuschauersaal zusammenbringen würde, in dem von | |
| Kultursenator Klaus Lederer bis Promianwalt Peter Raue viel Berliner | |
| Kulturprominenz sitzt. „Alle: Wie könnte die denn aussehen, Eure | |
| Solidarität?“ | |
| Hier bricht die Fantasie des Abends ab; Umverteilungsideen und | |
| Revolutionspläne werden keine geschmiedet. Ein Choreute „mit polnischem | |
| Akzent“ schlägt kurz vor Schluss vor, sich von dem Gedanken zu befreien, | |
| „dass Euch etwas zusteht“. Dann erst fange das Denken an. Das Publikum wird | |
| abschließend aufgefordert, gemeinsam einen Ton zu summen, sich dann in | |
| verschiedene Töne aufzuspalten – und diese Differenz kurz auszuhalten. Ob | |
| das ein utopisches Klangbild ist oder abschließende Fügung ins | |
| Unvermeidliche, bleibt uns überlassen. | |
| 13 Feb 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva Behrendt | |
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