# taz.de -- Wahlkampf in Berlin-Kreuzberg: Die drei Linken vom Kotti | |
> Canan Bayram ist die Favoritin in Berlin-Kreuzberg. Die Grünen haben in | |
> ihrer Hochburg aber mit starker Konkurrenz zu kämpfen. | |
Bild: Was Kreuzberg bewegt: bezahlbarer Wohnraum | |
Anfang Juli, zweieinhalb Monate vor der Bundestagswahl, beginnt im | |
alternativsten Wahlkreis der Republik der Wahlkampf ohne die Grünen. Wo ist | |
Canan Bayram? In ein paar Minuten soll in einem backsteinroten | |
Familienzentrum das Politiker-Speeddating losgehen – Wähler treffen und | |
interviewen ihre Kandidaten. Die Themen: Wohnungsnot und Kinder, die sich | |
kein Fahrrad leisten können. Doch um kurz nach drei ist die grüne | |
Kandidatin noch nicht da. | |
In dem Café des Familienzentrums hat sich eine Handvoll Frauen um Tische | |
verteilt, die man gut abwischen kann. Fast alle haben ihre Kinder an der | |
Hand. Sie wohnen im Kiez, kommen aus der Türkei, dem Libanon, engagieren | |
sich als Stadtteilmütter in der benachbarten Schule. Nicht alle dürfen | |
wählen. Fragen haben sie trotzdem. | |
Ihnen gegenüber sitzt Cansel Kiziltepe, die Kandidatin der SPD. Klein und | |
im roten Blazer. Sie kennt viele der Frauen persönlich. Hier ist sie nicht | |
Frau Kiziltepe, sondern Cansel. Cansel aus Kreuzberg. Die benachbarte | |
Schule: Dort hat sie Abitur gemacht. Die Stadtteilmütter: ein Projekt, das | |
sie seit Langem begleitet. | |
Sie schüttelt Hände, verteilt Küsschen, fragt nach der Familie. Pascal | |
Meiser, Kandidat der Linken, kommt etwas später. Die Leiterin des | |
Familienzentrums verhaspelt sich, als sie ihn vorstellt. Aus Meiser wird | |
Meier. Aber Kiziltepe, das sitzt. Canan Bayram kommt nicht mehr. | |
## Das einzige Direktmandat der Grünen steht auf dem Spiel | |
Später wird sich herausstellen: Sie saß im Innenausschuss im Berliner | |
Abgeordnetenhaus zum Fall Anis Amri, dem Terroristen vom Breitscheidplatz. | |
Bayram wird in den kommenden Wochen öfter Wahlkampfveranstaltungen absagen, | |
weil sie Termine im Abgeordnetenhaus hat. Bayram, die pflichtbewusste | |
Anwältin, steigt später in den Wahlkampf ein als ihre Kontrahenten. | |
Als Kiziltepe längst ein Hashtag etabliert hat, [1][#Kiezregiert], ist die | |
Kampagne für Bayram noch nicht richtig losgegangen. Im Juli erzählen | |
Parteifreunde von den Grünen, dass ihre Kandidatin an Wahlständen im | |
bürgerlichen Teil von Kreuzberg noch weitgehend unbekannt sei, und geben | |
zu: In den Medien ist sie auch nicht wirklich präsent. | |
Dabei hat Bayram viel zu verspielen. Das erste und einzige Direktmandat der | |
Grünen und [2][das Erbe des bekanntesten Direktkandidaten Deutschlands, | |
Hans-Christian Ströbele]. Im Dezember letzten Jahres hatte der 78-Jährige | |
erklärt, nach 19 Jahren im Bundestag nicht wieder anzutreten. Viermal | |
hintereinander hatte er das Mandat gewonnen. | |
Die Fußstapfen, oder besser: die Fahrradspur, die er hinterlässt, ist tief. | |
Das macht den Kampf um das Direktmandat für den Wahlkreis 83, | |
Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost, in diesem trägen Wahlsommer | |
zu einem der spannendsten im ganzen Land. Nirgendwo sonst kämpfen gleich | |
drei linke Kandidaten mit guten Chancen um ein Mandat. Eine Prognose sieht | |
die SPD im Bezirk bei etwa 20 Prozent, die Linke bei 24 und die Grünen bei | |
25 Prozent. | |
## Schimpfen auf die Mietpreisbremse | |
Die erste Runde Speeddating beginnt, die Kandidaten verteilen sich an die | |
Tische. Pascal Meiser, Pferdeschwanz und Kapuzenpullover, verteilt seine | |
Broschüren. Rot. Mit der Überschrift: Bewerbung. Vier Frauen wollen von ihm | |
wissen, wie die Linke zum Thema Wohnungsnot steht. Eine erzählt, dass sie | |
keine Wohnung für ihre Familie findet. „Ich wohne auch in Kreuzberg, kenne | |
das Problem also“, sagt Meiser und schimpft auf die Mietpreisbremse, die | |
nicht funktioniert. Zustimmendes Nicken bei seinen Zuhörerinnen. Er rät: | |
„Gehen Sie wählen, wenn sich was verändern soll.“ | |
Gong, die nächste Runde. Kiziltepe rückt auf Meisers Platz und sitzt nun | |
vor den vier Frauen. „Mein Name ist Programm“, beginnt sie. Kiziltepe heißt | |
auf Türkisch roter Berg. Sie erzählt von ihren zwei Kindern, von ihrer Zeit | |
an der benachbarten Schule und dass Bildung ihre Chance zum Aufstieg war. | |
„Mein Vater hat uns jeden Tag zu dieser Schule gebracht“, eine der ersten | |
Ganztagsschulen in Berlin. „Das war unsere Rettung.“ | |
Kiziltepes Eltern sind Gastarbeiter der ersten Generation. Sie sei immer | |
mit dem Gefühl aufgewachsen: Morgen geht es zurück in die Türkei. Ihre | |
Eltern wohnen noch immer in Kreuzberg. Viele ihrer Freunde von damals haben | |
das Abitur nicht geschafft, sind stecken geblieben auf dem Weg nach oben. | |
Kiziltepe nicht. Das macht sie für die Frauen hier interessant. Sie ist | |
Vorbild, Kiziltepe weiß das. Ihr Wahlkampf basiert auf ihrer Geschichte. | |
Das Kind aus dem Kiez, das es nach ganz oben geschafft hat. Eine gute | |
Geschichte. | |
Wenn Berlin die Spielwiese für die privilegierte Jugend der Welt geworden | |
ist, dann ist der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg das Miniatur-Wunderland | |
der deutschen Linken. Hier leben Altlinke und Neulinke und Exlinke, Linke | |
aus dem Osten und dem Westen. Es gibt türkische und kurdische Linke, genau | |
so wie Grüne, Kommunisten, Antifas. SPD, Grüne und Linke bekamen 2013 hier | |
über 70 Prozent der Stimmen. | |
## Wo Kreuzberg kein Szenebezirk, sondern noch Grenzstadt ist | |
Auf kleinstem Raum lässt sich beobachten, wie sich die gesellschaftliche | |
Linke in Deutschland verändert – und was das für die drei großen Parteien | |
mit irgendwie linkem Anspruch bedeutet: Cansel Kiziltepe kämpft darum, jene | |
Wähler zurückzugewinnen, die ihre Partei erst an die Grünen und dann an die | |
Linken verloren hat. Wenn sie scheitert, bleibt die SPD auf ewig die | |
20-Prozent-Partei. Sie sagt: „Kreuzberg soll wieder rot werden.“ | |
Pascal Meiser kämpft in dem Bezirk um die Stimmen der vielen Berliner, die | |
nicht Meiser oder Meier heißen. Wenn er scheitert, bleibt seine Partei eine | |
für den Osten. Er sagt: „Das Mandat wäre ein riesiger Erfolg.“ Canan Bayr… | |
muss beweisen, dass es auch linke Grüne noch schaffen, Wahlen zu gewinnen. | |
Wenn sie scheitert, bleibt ihrer Partei nur das Modell Kretschmann. Sie | |
sagt: „Klar, ich muss die retten.“ | |
Sechs Wochen nach dem Speeddating sitzt die selbsternannte Retterin der | |
Grünen in einem kleinen Versammlungsraum in der Otto-Suhr-Siedlung am Rande | |
Kreuzbergs und spricht über Wärmedämmung. Hier ist Kreuzberg kein | |
Szenebezirk, sondern immer noch Grenzstadt. Das Viertel ist der ärmste Kiez | |
der Stadt, 70 Prozent der Kinder leben von Hartz IV. Hier zeigt sich das | |
drängende Thema des Wahlkampfs: die hohen Mieten. Einst gab es hier | |
sozialen Wohnungsbau am Mauerstreifen, dann wurden die Wohnungen unter | |
Rot-Rot privatisiert. Sie liegen im Herzen Berlins, in Laufweite zur | |
Friedrichstraße. Investoren würden sagen: Toplage. | |
Etwa 20 Bewohner der Siedlung sind in den kleinen Versammlungsraum | |
gekommen. Sie treffen sich regelmäßig, seit ihr Vermieter, der | |
Immobilienriese Deutsche Wohnen, Sanierungen und Mieterhöhungen angekündigt | |
hat. Hier sitzt das alte, weiße Kreuzberg. Die Frauen tragen geföhnte | |
Frisuren, die Männer Karohemden und Schirmmützen auf roten Köpfen. Es geht | |
um Wasserschäden und Mietminderungen. Keine Revolution, aber echte Politik. | |
Die Mieter reden wild durcheinander, sagen „Ach, halt die Klappe“ | |
zueinander. Die Protokollantin schüttelt den Kopf und resigniert. | |
## Stiller Wahlkampf im Stuhlkreis | |
Bayram sitzt am Rand und hört lange still zu, bis sie angesprochen wird. | |
Ihre Augen sind so wach, als gebe es nichts Schöneres, als am Montagabend | |
nach einem langen Tag noch eine Mieterversammlung zu besuchen und über | |
Schimmel zu reden. Bayram beantwortet Fragen zum Mietrecht, sie sagt, dass | |
es wichtig sei, sich zu wehren, und bietet ihre juristische Hilfe beim | |
Verfassen eines Briefs an. | |
Die Mieter nicken. Das ist der Wahlkampf, der Bayram liegt. Eher leise als | |
laut. Nicht auf dem Podium, sondern im Stuhlkreis. Konkret etwas machen, | |
nicht reden. Das ist ihre Stärke, das ist auch ihr Nachteil. Denn Bayram | |
nutzt die Gelegenheit nicht, um nach der Mieterversammlung noch Flyer zu | |
verteilen. „Das ist nicht meine Art“, sagt sie später. Nur das grüne | |
T-Shirt unter ihrem Blazer verrät, zu welcher Partei sie gehört. | |
Seit elf Jahren sitzt sie im Abgeordnetenhaus. Bayram ist | |
Friedrichshainerin, dort wird sie von Passanten auf der Straße umarmt. In | |
Kreuzberg ist sie weniger bekannt. Bayram, 1966 geboren, kam mit sechs | |
Jahren aus Anatolien ins Rheinland. Erst als Anwältin kam sie aus Bonn nach | |
Berlin. „Trotzdem halten mich alle für eine Kreuzberger Türkin“, sagt sie. | |
Im März hatten die Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg sie als Kandidatin | |
nominiert. [3][Die „neue Ströbelin“, schrieb die taz.] | |
Bayram ist nicht die Erste, die als Nachfolgerin im Gespräch war. Schon vor | |
vier Jahren wollte Ströbele aufhören und fragte in seiner Partei, wer sich | |
vorstellen könne, ihm nachzufolgen. Doch andere Grüne schlugen das Angebot | |
aus. Während für die Linke oder die SPD das Direktmandat eine Überraschung | |
wäre, hat Bayram viel zu verlieren. Angst vor dem Erbe habe sie trotzdem | |
nicht, sagt Bayram. „Es ist eine Ehre, nach Ströbele anzutreten.“ Wie | |
Ströbele steht sie innerhalb der Partei weit links. Zu weit für einige. | |
## Wie geht Erfolg? Die Partei klein-, seine Person großmachen | |
Erst distanzierte sich die Parteiführung von einem Plakat Bayrams mit dem | |
alten Hausbesetzerspruch „Die Häuser denen, die drin wohnen“. Dann wurde | |
öffentlich, dass Realo-Grüne in einem internen Diskussionsforum davon | |
abrieten, die eigene Kandidatin zu wählen. Die Begründung: Ein Direktmandat | |
für Bayram würde bei einem schlechten Zweitstimmenergebnis für die Grünen | |
dafür sorgen, dass Renate Künast nicht über die Landesliste in den | |
Bundestag einziehen kann. | |
An Bayrams Wahlkampfstand im Betonschatten des Kottbusser Tors regen sich | |
die jungen Wahlkämpfer auf: „Vollkommen bescheuert“ sei der Aufruf der | |
Realos. Ein gutes Ergebnis für Bayram sei auch gut für die Zweitstimmen und | |
damit für Künast. Bayram tut, als würde sie der Gegenwind aus der eigenen | |
Partei nicht stören. Die Mail habe sie gar nicht gelesen, sagt sie, und | |
Renate Künast, „deren Mann ich sehr schätze, einer der besten | |
Strafverteidiger in Berlin“, sei die Geschichte sicher genauso peinlich. | |
Nicht nur Teile der Partei distanzieren sich von der Kandidatin. Auch die | |
Kandidatin bemüht sich um Abstand zur Partei. Das Parteilogo der Grünen | |
sucht man lange auf den Wahlbroschüren und Flyern, die das Team von Canan | |
Bayram im Stadtteil verteilt. Statt einer Sonnenblume sieht man einen | |
stachligen Igel, das Symbol der Grünen im Bezirk. | |
Bayram betont, dass sie nicht über die Landesliste abgesichert ist. Die | |
Botschaft: Wer Bayram wählt, wählt nicht die Grünen. Schon Ströbele hat so | |
Wahlkampf gemacht. Vielleicht ist das die größte Nähe Bayrams zu ihrem | |
inhaltlichen Gegenpol bei den Grünen, zu Winfried Kretschmann. Für seinen | |
Erfolg machte auch er die Partei klein und seine Person groß. | |
## Die Krux mit den Privilegien | |
Wer in diesem Wahlkampf Sonnenblumen sucht, findet sie in Kreuzberg nicht | |
bei den Grünen, sondern bei der Linken. Anfang September steht Pascal | |
Meiser im Abendlicht auf der Kottbusser Brücke. Den Kapuzenpullover von | |
seinem Wahlplakat hat er abgelegt, er trägt ein gebügeltes weißes Hemd. | |
Seine Genossen vom Arbeitskreis Rote Beete haben hinter ihm auf einen | |
Grünstreifen, der vorher als Pissoir für Junkies herhalten musste, | |
Sonnenblumen gepflanzt. | |
Meiser verteilt Blumensamen an Passanten, mittelerfolgreich. Die einen | |
Passanten nehmen ihre iPhone-Stöpsel nicht aus den Ohren, andere schütteln | |
mit dem Kopf und sagen: „Darf nicht wählen.“ Der Ausländeranteil liegt hi… | |
bei über 30 Prozent, und jene Kreuzberger Türken, die einen deutschen Pass | |
haben, wählen vielleicht lieber eine Bayram oder eine Kiziltepe. | |
Selbst die CDU und die FDP haben Kandidaten mit Migrationshintergrund | |
aufgestellt. Es gibt Kreuzberger, die sagen: Die Linke würde ich wählen, | |
aber nicht diesen „weißen Dude“. Glaubt Meiser selbst, dass er dadurch | |
einen Nachteil hat? Er zögert, dann findet er seine Antwort nicht | |
zitierfähig. Verständlich: Wer will schon darüber jammern, Privilegien zu | |
haben. | |
Meiser, 1975 geboren, stammt aus dem Saarland und lebt seit Ende der 90er | |
in Kreuzberg. Er machte schnell in Gewerkschaft und Partei Karriere und | |
leitet heute die Kampagnenabteilung der Linken. Von den drei linken | |
Kandidaten in Kreuzberg ist er der größte Wahlkampfprofi. Für die letzten | |
Wochen vor der Wahl wurde er freigestellt, um sich auf das Direktmandat zu | |
konzentrieren. Und trotzdem: Am Wahlkampfstand auf der Kottbusser Brücke | |
fragen Leute: „Ich kenn dich nicht, warum soll ich dich wählen?“ Einer | |
sagt: „Dich würde ich ja wählen, aber das mit der Stasi.“ | |
## In ihrer Hochburg viele Anhänger verloren | |
Für die Linke wäre der Gewinn des Direktmandats ein großer Sieg: Es wäre | |
das erste in einem Bezirk, der auch im Westen liegt. Und ein Symbol dafür, | |
dass die Linke den Grünen die Rolle als Partei der urbanen Mittelschicht | |
abnehmen könnte. Auch wenn man dafür ein paar Sonnenblumen braucht. „Seit | |
ein paar Wochen merken wir: Es könnte ja wirklich klappen“, sagt Meiser und | |
verweist auf eine Prognose für den Wahlkreis, die einen Zweikampf von | |
Bayram und Meiser voraussagt. Er glaubt, dass es am Ende um wenige 100 | |
Stimmen gehen wird. | |
Umso verwunderlicher ist es, dass die Linke keinen bekannteren Kandidaten | |
aufgestellt hat. Das Gerücht: Der Soziologe und Gentrifizierungsexperte | |
Andrej Holm soll als Direktkandidat der Partei im Gespräch gewesen sein. | |
Holm bestätigt das auf Nachfrage der taz. Er sei vor einem Jahr gefragt | |
worden, noch bevor er Staatssekretär in Berlin wurde. Holm entschied sich | |
dagegen, weil er glaubte, in der Berliner Landespolitik mehr bewegen zu | |
können. Meiser sagt dennoch: „Ich habe die Unterstützung meiner gesamten | |
Partei. Und das ist bei uns nicht selbstverständlich.“ | |
Begleitet man die drei Direktkandidaten durch den Wahlkampf, wird deutlich, | |
dass sich die deutsche Linke verändert hat. Die Grünen haben in ihrer | |
einstigen Hochburg viele Anhänger verloren. Am Stand der Grünen hört Bayram | |
immer wieder: Früher standet ihr noch für etwas. Die einen kritisieren die | |
Religiösität von Parteichefin Katrin Göring-Eckardt, andere die | |
Wirtschaftsnähe von Cem Özdemir. Man könnte auch sagen: Die Enkel der 68er | |
wählen nicht mehr die Grünen, sondern die Linke. | |
Die war nach Zweitstimmen bereits 2013 stärkste Partei im Bezirk. Die | |
Grünen verloren über sechs Prozentpunkte, Ströbele konnte sein Direktmandat | |
aber halten, weil er genug Wähler anderer Parteien überzeugen konnte. | |
Bayram muss das Gleiche gelingen. Hoffnung darf sich auch die SPD machen, | |
sie gewann 2013 dazu und wurde hinter der Linken stärkste Kraft im Bezirk. | |
## Vom Kuschelkurs zum Kampfmodus | |
Auffällig ist bei aller Konkurrenz, dass sich die drei Kandidaten | |
inhaltlich nicht besonders unterscheiden. Alle drei stehen innerhalb ihrer | |
Parteien links und wollen sich für bezahlbare Mieten einsetzen. Nur: Meiser | |
ist mit seinen Positionen auf Parteilinie, Bayram und Kiziltepe sind eher | |
Außenseiterinnen. | |
Spricht man die drei auf Unterschiede an, gibt Kiziltepe zu, dass da mehr | |
Verbindendes als Trennendes sei – und viele ihrer SPD-Genossen sie fragten, | |
warum sie nicht bei der Linken sei. Das soll sich jetzt ändern. Sie sei | |
bisher zu kuschelig mit ihren Konkurrenten gewesen, sagt sie. „Ich bin | |
jetzt im Kampfmodus.“ Kiziltepe will sich abgrenzen. Sie will zeigen: | |
Bayram und Meiser sind die Neuen, sie dagegen ist schon immer Kreuzberg. | |
Es ist Mittwochnachmittag, noch drei Wochen bis zur Bundestagswahl, als die | |
Kandidaten in einer Schulaula aufeinandertreffen. Etwa 100 Schüler schauen | |
zu den Kandidaten hoch, die auf der Bühne Platz genommen haben. Viele der | |
Mädchen im Publikum tragen Kopftuch, viele Jungs gehen offenbar gern ins | |
Fitnessstudio. | |
Ein einziger junger Mann mit blonden Haaren sitzt in der Aula, doch der | |
entpuppt sich später als Mitarbeiter des CDU-Kandidaten, der auch auf der | |
Bühne sitzt. „Tschuldigung“, flüstert ein Schüler im Publikum, „geht es | |
hier um den Bürgermeister von Kreuzberg?“ Das ist, betrachtet man Ströbeles | |
Außenwirkung in den letzten Jahren, nicht ganz falsch. | |
## Eine absolute Mehrheit ist gar nicht immer wünschenswert | |
Nico aus der zwölften Klasse moderiert die Veranstaltung. Er ist gerade 18 | |
geworden, für ihn ist es die erste Bundestagswahl. Zu Beginn sollen sich | |
die Kandidaten mit drei Attributen vorstellen. Meiser fängt an, er beugt | |
sich zum Mikro und sagt: „Ich bin extrem ungeduldig, wohne am Kotti und bin | |
Fußballer.“ Die Schüler klatschen laut. Dann ist Bayram dran, sie sagt: | |
„Ich bin Mutter, Politikerin und Anwältin.“ Die Schüler klatschen höflic… | |
Dann kommt Kiziltepe, sie sagt: „Ich bin Mutter, Ökonomin – und habe hier | |
an der Schule mein Abitur gemacht.“ Einige Schüler jubeln. | |
Auf dem Podium zeigen die drei aussichtsreichen Kandidaten in den nächsten | |
eineinhalb Stunden in kondensierter Form, was sie unterscheidet. Pascal | |
Meiser will mit einfach verständlichen, linken Forderungen überzeugen. | |
Canan Bayram, die Kümmererin, will den Bewohnern bei ihren Problemen im | |
Alltag, mit Rassismus und der Miete helfen. Und Cansel Kiziltepe setzt auf | |
ihre Biografie, die sozialdemokratische Erzählung vom Aufstieg durch | |
Bildung: Ich bin eine von euch. | |
Die Schüler fragen, was die Kandidaten tun würden, wenn ihre Partei die | |
absolute Mehrheit im Parlament hätte. Meiser verspricht, Millionären ihr | |
Geld wegzunehmen und keine Waffen mehr zu exportieren, und bekommt dafür | |
Applaus. Kiziltepe spricht über die lokalen Initiativen im Kiez, ohne | |
klarzumachen, was das mit der absoluten Mehrheit zu tun hat. Und Bayram | |
erklärt den Schülern, dass eine absolute Mehrheit für eine Partei gar nicht | |
wünschenswert sei. Das mag demokratietheoretisch sympathisch sein, verfängt | |
aber im Publikum nicht. | |
Bayram wird stark, als es um die doppelte Staatsbürgerschaft geht. Da | |
erzählt sie, wie sie mit sechs Jahren aus Anatolien nach Deutschland kam | |
und dass es zwar auf Deutsch Vaterland heiße, auf Türkisch aber anavatan, | |
Mutterland: „Und warum sollte man nicht einen Vater und eine Mutter haben?“ | |
„Çüş“, murmeln viele Schüler anerkennend. | |
## Gar nicht zu wählen, ist auch eine Option | |
Meiser spricht von den drei Kandidaten am mitreißendsten, Bayram ist | |
zurückhaltend, klingt oft wie die Juristin, die sie ist. Als der | |
CDU-Kandidat auf Sozialisten losgeht, die keine Ahnung von Wirtschaft | |
hätten, legt Bayram ihrem Konkurrenten Meiser die Hand auf die Schulter. | |
Auf die Frage, welchen der Kandidaten sie wählen würden, wenn sie nicht | |
selbst zur Wahl stünden, sagt Kiziltepe, sie würde Meiser wählen. Nur | |
Bayram sagt: „Man kann ja auch nicht wählen.“ Ganz so entspannt, wie sie im | |
Wahlkampf rüberkommen möchte, ist sie nicht. | |
Nach dem Ende der Podiumsdiskussion ist Kiziltepe gleich weg. Bayram gibt | |
einem Lehrer Feedback zur Veranstaltung, dann wendet sie sich einem | |
Parteifreund zu. Nur Meiser wird von Schülern umringt, die ihn fragen, wo | |
sie denn mitmachen könnten. Nico, der Moderator, der in diesem Jahr zum | |
ersten Mal wählen darf, will Meiser wählen. „Obwohl er die einzige | |
Kartoffel ist.“ Dann fahren sowohl Bayram als auch Meiser mit dem Fahrrad | |
davon. Ströbele würde sich freuen. | |
19 Sep 2017 | |
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