| # taz.de -- Architekt über Ideen für die Zukunft: „Was wir als Realität be… | |
| > Pierre-Christophe Gam sammelt als Künstler Träume. Warum und wie aus | |
| > Träumen ein anderes Zusammenleben gedacht werden kann, erzählt er im | |
| > Gespräch. | |
| Bild: Ein Traumfänger in Athen: Pierre-Christophe Gams Video- und Rauminstalla… | |
| taz: Pierre-Christophe Gam, Sie erschaffen Räume für Träume, | |
| beziehungsweise „Dream-Tanks“. Wie kam es, dass Sie sich als studierter | |
| Architekt auf Träume spezialisierten? | |
| Pierre-Christophe Gam: Mich faszinierte die Entdeckung, dass | |
| Kindheitserinnerungen stark an räumliche Komponenten gebunden sind. | |
| Architektur konstruiert also nicht nur den Raum unserer sozialen | |
| Interaktion, sondern auch unserer biografischen Orientierung. Nun bestehen | |
| zwei Grundtendenzen, um Raum zu gestalten: Entweder so, dass er trennt, | |
| oder so, dass er Austausch und Zusammenkommen ermöglicht. | |
| In Bezug auf Letzteres habe ich mich mit den zentralen Gemeinschaftsbauten | |
| in westafrikanischen Orten beschäftigt. So bin ich auf den Toguna der Dogon | |
| im heutigen Mali gestoßen. Er besteht aus einer niedrigen Steinarchitektur | |
| mit einem Dach aus sehr dicken Pflanzenmateriallagen. Es handelt sich um | |
| einen Raum, der eine Verbindung zwischen dem Sichtbaren mit dem | |
| Unsichtbaren ermöglichen soll. | |
| taz: Und somit einen Eintritt in das Reich der Träume und der Ideen? | |
| Gam: Im Griechischen würde man vielleicht sagen: das Reich der Musen. Die | |
| Welt der Erscheinungen, die einerseits unumstrittener Bestandteil des | |
| Lebens sind, die wir sozusagen permanent downloaden, denen wir uns aber nur | |
| annähern können, weil sie nicht vollständig kontrollierbar und begreifbar | |
| sind. | |
| taz: In Athen habe ich einen Workshop in einem Ihrer zeitgenössischen | |
| Toguna-Räume besucht. Wir haben dort nicht zum Selbstzweck geträumt, | |
| sondern für die Zukunft des Planeten. Was treibt Sie an, die Dream-Tanks zu | |
| entwickeln? | |
| Gam: Seit 2019 habe ich mich intensiv mit zwei Fragen auseinandergesetzt: | |
| Was ist Realität? Und wie kann Technologie benutzt werden, um die Zukunft | |
| zu gestalten? Dabei fielen mir ideologische Richtungen auf, die inzwischen | |
| sehr viel deutlicher in Erscheinung getreten sind: die des „Dark | |
| Enlightenment“ und des Technofaschismus – also jene Bewegungen, mit denen | |
| Donald Trump oder [1][Elon Musk und Peter Thiel] verbunden werden können. | |
| In Bezug auf die Zukunft entstehen in diesem Umfeld Perspektiven, die man | |
| im Kern als Eugenik bezeichnen könnte. Diese Ideologien haben sehr viel | |
| Terrain gewonnen, ohne dass sie von einer umfassenden öffentlichen Debatte | |
| begleitet wurden. Aus dieser Situation erwuchs für mich die Frage, wie sich | |
| eigentlich ein Forum für die Gestaltung der Zukunft konstruieren ließe. | |
| taz: Und was ist Realität? | |
| Gam: Eine Folge von praktisch willkürlichen Vorstellungen, die manifest | |
| werden. Wir Menschen haben Gesellschaften und Kulturen entwickelt, die die | |
| Früchte unserer Imagination sind. Darunter gibt es viele Dinge, die | |
| geschaffen wurden, um Systeme funktionieren zu lassen. Es scheint uns heute | |
| oft so, als seien sie alternativlos. Eine kanonische Ausbildung ist ein | |
| Beispiel, oder die Technik des Konsensus, zu der wir erzogen werden. Dabei | |
| handelt es sich bei allem, was wir als Realität bezeichnen, um Vorschläge. | |
| taz: Es kann auch ein Wert darin liegen, dass Funktionierendes | |
| weiterentwickelt wird. | |
| Gam: Ganz klar! Aber nicht als letztgültige Normen. Wenn wir politische | |
| Systeme betrachten, wird das besonders deutlich. Vieles, was den Menschen | |
| auferlegt wurde, konnte sich nicht aus dem Grund durchsetzen, dass es | |
| besonders gut oder wahr wäre. Darum ist es eigentlich umso irrealer, dass | |
| unsere Gesellschaften derzeit den modernen Kapitalismus – Wachstum, BIP, | |
| Konsum etc. – als den einzigen Weg betrachten, auf der Welt zu existieren. | |
| Aber warum muss es so sein, dass unser Wert als Individuum dadurch bestimmt | |
| wird, inwieweit wir in der Lage sind, industriell hergestellte Produkte zu | |
| erwerben? | |
| Welchen Sinn macht es, dass ein Ballon durchs Weltall treibt, auf dem es | |
| Wesen gibt, die, im besten Fall, von neun bis fünf arbeiten? Um in die | |
| Zukunft zu träumen, müssen wir mental zunächst aus unserem Gefangensein in | |
| einer einzigen bestimmenden Realität ausbrechen. | |
| taz: Nachdem wir in Ihrem Workshop in das Konzept von Realität als | |
| Möglichkeitsraum eingetaucht sind, haben wir uns fünf Fragen gewidmet: Wie | |
| wollen wir in der Zukunft arbeiten, lieben, beten, spielen und essen? Die | |
| Fragen wiederum verweisen auf fünf Säulen der Ifa-Tradition. Worum handelt | |
| es sich da? | |
| Gam: In erster Linie war ich interessiert an Systemen, die Realitäten | |
| jenseits von Kapitalismus abbilden und die Verbindung von Menschen und | |
| nichtmenschlicher Natur betonen. Ifa ist gleichzeitig eine Wissenschaft, | |
| eine Philosophie und eine spirituelle Tradition. Sie ist unter den Yoruba, | |
| die heute in Nigeria, Benin und Togo leben, verbreitet, sowie auch in | |
| vielen afrikanischen Diasporakulturen. Elemente daraus sind auch in sehr | |
| vielen anderen weltanschaulichen Traditionen zu finden. | |
| Die Realität besteht, laut Ifa, aus dem, was wir Menschen in einem | |
| kokreativen Prozess mit der Natur erwirken. Der menschliche Input wird | |
| dabei auf Grundlage von fünf Komponenten – ich vereinfache – bestimmt: | |
| Körper, Verstand, Geist, Herz und Seele. Diese fünf Tore zur Realität | |
| verknüpfe ich wiederum mit den fünf zentralen Fragen, die Sie genannt | |
| haben. | |
| taz: Warum ist es für Sie wichtig, an vorkoloniale Lehren von der | |
| Entstehung der Welt anzuknüpfen? | |
| Gam: Als eine Person afrikanischer Herkunft bin ich daran interessiert, | |
| Konzepte und Philosophien, deren Existenz nie als solche anerkannt, von | |
| anderen Narrativen als naiv abgestempelt oder schlicht übersehen wurden, | |
| als Akt der Dekolonisierung verfügbar zu machen. | |
| taz: Die demografische Prognose ist, dass Afrika innerhalb des nächsten | |
| Jahrhunderts der bevölkerungsreichste Kontinent der Erde wird, mit über 40 | |
| Prozent der Weltbevölkerung. Wie wird Afrika mit seiner zentralen Rolle für | |
| die Zukunft umgehen? | |
| Gam: Die Frage wird sein, was bei dieser Transformation zentral steht: das | |
| Trauma der Vergangenheit, die Fortsetzung kolonialer Logiken wie im | |
| Neokolonialismus, oder wird der Kontinent sich neu erfinden können? Um | |
| etwas Neues zu schaffen, muss man es sich zunächst vorstellen können. Nun | |
| ist die Situation aber, generalisierend ausgedrückt, immer noch so, dass | |
| die Art, wie Afrikaner:innen sich selbst sehen, korrumpiert ist durch | |
| Bilder wie Armut, Abhängigkeit von Hilfe, Korruption … Dadurch, dass ich | |
| eine vorkoloniale Tradition hervorhebe, möchte ich dazu ermutigen, einen | |
| optimistischen Ausgangspunkt für den Blick in die Zukunft zu entwickeln. | |
| taz: Welche Welt entsteht durch Ihr Traumprojekt? | |
| Gam: Interessant ist, dass sich bei aller Diversität unserer Existenzen nur | |
| die Nuancen der Träume voneinander unterscheiden, sie sich im Kern jedoch | |
| ähneln. Die Auswertung von mehr als 12.000 Traumprotokollen ist aufwendig, | |
| ich kann daher nur verkürzen, wenn ich einige Aspekte herausgreife: Der | |
| wichtigste ist der Wunsch nach kleinen, im Kern autarken Gemeinschaften. | |
| Was sich außerdem abzeichnet, ist, dass wir eine andere Währung brauchen. | |
| Nicht Geld, sondern Zeit könnte eine Währung sein. | |
| Auch die Entfaltung der individuellen Kreativität ist ein wiederkehrendes | |
| Thema sowie die Befähigung zu einem selbstbestimmten Umgang mit | |
| Technologie. Dazu gehören, um einmal konkrete Beispiele zu nennen, lokale | |
| Server, die aus nachhaltigen Energien gespeist werden, sowie Programmieren | |
| als Unterrichtsangebot in Schulen wie heute Mandarin oder Englisch. Ein | |
| weiterer wichtiger Aspekt ist Diversität. Nicht nur kulturelle sondern auch | |
| persönliche Diversität. Das heißt auch, dass es nicht nur Gemeinschaftsorte | |
| geben muss, sondern auch solche, in die wir uns zurückziehen können. Es | |
| soll keinen Druck von der Gemeinschaft oder Gemeinschaftszwang geben. | |
| taz: Gibt es auch Leute in Ihren Workshops, die zum Beispiel von | |
| rassistischen Weltordnungen oder individuellem Reichtum träumen? | |
| Gam: Bislang hat dies niemand getan. Ich denke, der Hauptgrund hierfür | |
| besteht in der Tatsache, dass es zunächst darum geht, sich mit sich selbst | |
| zu verbinden, und sich nicht aus einer Reaktion heraus zu verhalten – auf | |
| Mangel oder Frust, zum Beispiel. Wenn man jemanden fragt: Wie möchtest du | |
| dich in deiner idealen Zukunft fühlen, wenn es nichts zu verteidigen und | |
| nichts zu erklären gibt, dann verändern sich die Sichtweisen. | |
| 8 Aug 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Astrid Kaminski | |
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