# taz.de -- Gnaoua-Festival in Marokko: Tradition durchdringt Moderne | |
> Klangmuster der Gnaoua-Musik finden sich im Flamenco und im Jazz. Ein | |
> Festival im marokkanischen Essaouira verbindet das Kulturerbe mit der | |
> Gegenwart. | |
Bild: Arabeske Form von TripHop: die marokkanische Sängerin Widad Mjama vom Du… | |
Der Wumms der tbal genannten Fasstrommeln, das leiernde, basslastige | |
Dengeln der Langhalslaute (gimbri) und das blechernde Klappern von | |
Kastagnetten (qarqaba) aus Zinn: Der charakteristische Sound von | |
Gnaoua-Musik ist unüberhörbar, auch ohne Verstärker. Dazu werden Fahnen mit | |
fantasievollen Mustern geschwungen, die Musiker:Innen tragen ebenso | |
farbenfrohe seidene Roben mit applizierten Bordüren. Selbst die schwarzen | |
Bommel der roten Tarbusch haben eine Funktion. Mit rhythmischen | |
Kopfbewegungen werden sie zum Kreiseln gebracht. | |
Insignien der Gnaoua-Kultur haben längst Eingang in die Popkultur gefunden, | |
Vorbild etwa für die Kostüme, die der französische Szenarist Moebius für | |
die Originalverfilmung von Alejandro Jodorowskys Filmprojekt „Dune“ | |
entworfen hat. Das Original hat allerdings nichts mit SciFi zu tun, es | |
dreht sich um ein archaisches synkretistisches Ritual, bei dem Dschinns – | |
Geister – singend, spielend und tanzend beschworen werden, damit sie nicht | |
von Menschen Besitz ergreifen. | |
Dabei können sich die Musiker:Innen in Trance spielen. Das aber findet | |
nur bei den „Lilá“ genannten bis zu dreitägigen Séancen im Abgeschiedenen | |
statt, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Wenn man mit eigenen Augen die | |
alljährliche Parade von Gnaoua-Gruppen in der marokkanischen Hafenstadt | |
Essaouira vorbeiziehen sieht, bekommen Musik und Tanz trotzdem eine | |
spirituelle Dimension. Sie verbindet uralte afrikanische Kosmogonie mit | |
vorreligiösen Sufismus-Praktiken. Klangmuster der Gnaoua-Musik finden sich | |
auch in der DNA von Flamenco und Jazz, während Elemente des Tanzrituals | |
ganz ähnlich im [1][haitianischen Voodookult] vorkommen. | |
In Vergessenheit geratenes Erbe | |
Gnaoua – ein Kulturerbe, das in Marokko in Vergessenheit zu geraten drohte. | |
Auch deshalb wurde an der nordafrikanischen Atlantikküste, in der | |
Küstenstadt Essaouira, 1998 ein Festival ins Leben gerufen, das nun | |
25-jähriges Jubiläum feiert. | |
Für die kleine Stadt sei das eine echte Erfolgsgeschichte, erklärt Naila | |
Tazi, die Festivalproduzentin. Die Unternehmerin sitzt seit 2015 auch als | |
Abgeordnete im marokkanischen Senat. Jeder Euro, der ins Festival | |
investiert wird, würde 17 Euro erwirtschaften, rechnet Tazi vor und | |
verweist auf die Infrastruktur der Stadt, neue Straßen, eine modernisierte | |
Strandpromenade, die teilrestaurierte Medina und Hotelbetten, die für | |
[2][nachhaltigen und kulturinteressierten Tourismus] stünden, nicht für | |
Ballermann. | |
Ihr Festival sei durch TV-Übertragungsrechte so querfinanziert, dass vor | |
Ort der Eintritt zu den Konzerten für die Einheimischen umsonst ist. Jung | |
und Alt, aber auch marokkanische Gäste und solche aus der ganzen Welt | |
strömen deshalb Ende Juni nach Essaouira. | |
Die Stadt und ihre spezifische Kultur wirken seit Langem anziehend. Jimi | |
Hendrix kam Ende der 1960er nach Essaouira, genau wie die Jazzmusiker | |
Pharoah Sanders und Joe Zawinul, die zusammen mit Gnaoua-Musiker:Innen | |
Alben aufnahmen. | |
In den frühen 1970ern fand über einige Jahre ein Hippiefestival statt, das | |
nur am Rande mit der Gnaoua-Kultur zu tun hatte. Das ist heute anders. Im | |
Untertitel nennt sich das Gnaoua-Festival zwar „Musiques du Monde“, | |
Gnaoua-Musik spielt aber die Hauptrolle. | |
Tausende kommen zum Umzug | |
Die drei Festivaltage beginnen traditionell mit dem feierlichen Umzug aller | |
Schwestern- und Bruderschaften. Tausende wohnen dem Spektakel bei. Langsam | |
bewegt sich der Zug Richtung Stadtmauer hinein in die Medina. Jeweils | |
angeführt von den Maalems, den Sufi-Meister:Innen, die wie Derwische den | |
Musikern tänzelnd vorausgehen, dabei eine Strophe vorsingen, die dann von | |
allen wiederholt wird. | |
Entscheidend ist der Moment des Durchgangs unterm Bab-Doukkala-Turm, wenn | |
die Musik im Gewölbe des Stadttors erklingt und mit ohrenbetäubendem Echo | |
in die Altstadt tönt. Die Unesco hat Gnaoua 2019 in die Liste zum | |
immateriellen Weltkulturerbe aufgenommen. | |
Ihre Wurzeln liegen viel weiter südlich, in der westafrikanischen Region | |
des heutigen Ghana, dort soll um das 7. Jahrhundert das Ritual begonnen | |
haben. Sklaven brachten es mit, als sie im 11. Jahrhundert in das Gebiet | |
des heutigen Marokko zu reichen Berberfamilien verschleppt wurden. Erst | |
hier ist Gnaoua um die Ebene des Gesangs erweitert worden, der immer schon | |
auf Amazigh, der Berbersprache, gesungen wurde. | |
Trauer über das alte Leid der Sklaverei bildet noch heute die Basis der | |
Musik, erklärt der Maalem Abdeslame Alikane der taz. Der 66-Jährige, dessen | |
Großeltern einst Sklaven in der Region Essaouira hielten, hat schon mit | |
Gilberto Gil und Peter Gabriel zusammengespielt und ist dankbar für das | |
weltweite Interesse an seiner Kultur. Er ist aber auch erfreut, dass Gnaoua | |
in Marokko selbst wieder zum Thema geworden ist. | |
Gnaoua sei eine Musik des Herzens, sagt Alikane. Sie drücke heute neben der | |
Trauer auch Freude am Dasein aus, vor allem gehe es darum, bescheiden zu | |
bleiben. Nichts darf das Kollektiv von seiner Spiritualität ablenken. | |
Alikane spricht von psychologischem Geschick, um den Nachwuchs zu schulen. | |
Zeitgenössischer Pop am Strand | |
Junge Marokkaner:Innen bevölkern derweil am liebsten die Konzerte der | |
Beachstage, direkt am Strand. Auch hier werden die Abende stets von | |
Gnaoua-Musikgruppen eröffnet. Danach treten jeweils zeitgenössische | |
Popkünstler:Innen auf, etwa das marokkanisch-tunesische Duo Aïta, Mon | |
Amour. | |
Rapperin Widad Mjama gehört der feministischen marokkanischen | |
Cheikhas-Kultur an, so bezeichnet, weil sie sich in Songtexten gegen die | |
Benachteiligung von Frauen wenden. Während Cheikhas-Musik eher dem | |
Folkpop-Genre Chaabi entspricht, machen Aïta, Mon Amour eine arabeske Form | |
von TripHop. Der tunesische Musiker Khalil Epi spielt zwischendurch | |
elektrisch verstärkte Saz, aber meist drückt er an einem Effektpad, während | |
seine Partnerin Widad Mjama rappt, singt und Percussion spielt. Die Fans | |
kennen jede Zeile, singen mit und feiern das Duo frenetisch. | |
Faszinierend am Gnaoua-Festival ist das Durcheinander von Tradition und | |
Moderne. Im Kulturzentrum Dar Souriri in der Altstadt finden allabendlich | |
Konzerte im kleinen Rahmen für 80 Zuschauer:Innen statt, so dass man | |
direkt vor den Musiker:Innen Platz nimmt. | |
Das geht vor der riesigen Mainstage „Moulay Hassan“ natürlich nicht. Dort | |
treten große Namen auf, wie die US-Fusionjazzcombo Brecker Brothers und der | |
afrospanische Flamenco-Superstar Buika. Direkt neben der Mainstage ist | |
eine Moschee, die Gebetsrufe des Muezzin mischen sich manchmal mit der | |
Musik von der Bühne. | |
Proteste in den 2010er Jahren | |
Im Fahrwasser des Arabischen Frühlings, [3][der im Nachbarland Tunesien | |
begonnen hatte] und sich gegen politische Eliten, aber auch gegen religiöse | |
Bevormundung wandte, kam es in den 2010er Jahren in der konstitutionellen | |
Monarchie Marokko zu Protesten und einer neuen Verfassung, wie Naila Tazi | |
erklärt. | |
In der Folge führte das Gnaoua-Festival 2012 ein „Menschenrechtsforum“ ein. | |
Dieses Mal stand es unter dem Motto „Marokko, Spanien, Portugal. Eine | |
Geschichte mit Zukunft“, ein Wink ins Jahr 2030, wenn die drei Länder | |
gemeinsam die Fußball-WM der Männer ausrichten werden. | |
Den Ball nimmt der Keynote-Speaker, der ehemalige spanische | |
Ministerpräsident José Luis Zapatero, dankbar auf und betont, die gesamte | |
Region habe viele Gemeinsamkeiten und sei eine Wiege der Zivilisation. Ganz | |
Altruist, deklamiert Zapatero: „Wir müssen selbstlos sein, um im Leben | |
vorwärtszukommen.“ | |
Er spricht sogar davon, dass künstliche Intelligenz dazu genutzt werden | |
sollte, um Frieden auf Erden zu schaffen. Bald kommt der Sozialist auf die | |
Menschenrechte zu sprechen und klagt Israel ihrer Verletzung in Gaza an, | |
während er die Hamas mit keiner Silbe erwähnt. | |
Nicht alle sind davon ergriffen. Die marokkanische Journalistin neben mir | |
kritzelt Strichmännchen. In der Fragestunde nach seinem Vortrag wird | |
Zapatero kritisch auf die negative Haltung vieler Spanier:Innen gegen | |
marokkanische Arbeitsmigranten angesprochen, dazu fällt ihm nichts ein. | |
Essouira sei eine tolerante Stadt | |
Naila Tazi betont gegenüber der taz ausdrücklich, dass Essouira – im 17. | |
Jahrhundert unter dem Namen Mogador portugiesischer Handelsposten –, eine | |
tolerante Stadt sei, in der Juden, Muslime und Christen seit Jahrhunderten | |
friedlich zusammenleben. | |
Ein bisschen panarabische Soli muss schon sein, ihr Festival hat mehrere | |
palästinensische Künstler eingeladen, darunter den in New York lebenden | |
Geiger Simon Shaheen, der auf dem Dach des Stadtturms Borj Bab Marrakesch | |
spielt. Die westöstliche Fusionmusik seines Quartetts erschöpft sich | |
schnell in allzu virtuosem Solieren. Dem Publikum gefällt genau das, | |
darunter viele junge angloamerikanischen Frauen und Männer, manche mit | |
Stofftaschen, auf denen ein Stück Melone abgebildet ist, nebst dem Spruch | |
„This is not a Melon“. | |
Für das postkoloniale Elend, das nach Marokko importiert wird, kann das | |
Festival aber nichts. Essaouira besticht in diesen Tagen durch | |
widersprüchliches und zugleich gechilltes Ambiente. Und nicht zuletzt durch | |
die Pracht der ritualistischen Gnaoua-Musik, der der Nahost-Konflikt auch | |
in hundert Jahren nichts von ihrem Zauber wegnehmen kann. | |
Die Recherche zu diesem Text wurde von der Unesco unterstützt. | |
6 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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