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# taz.de -- Marokkanisches Roadmovie „Déserts“: Mehr Traum als Wirklichkeit
> Faouzi Bensaïdis poetisches Roadmovie „Déserts“, gedreht im Süden
> Marokkos, beginnt als Sozialsatire. Es endet als melodramatische
> Phantasmagorie.
Bild: Mehdi (Abdelhadi Taleb) und Hamid (Fehd Benchemsi) umrahmt von ihren Geld…
Als die Geldeintreiber eines privaten Inkassounternehmens zu einem kleinen
Ladenbesitzer kommen, um seinen Besitz zu pfänden, lassen sie sich zunächst
aus dem Bestand der noch in den Regalen vorhandenen Lebensmittel
verköstigen. Nach der Mahlzeit fragt einer von ihnen den Mann, ob er etwas
habe, woran man sich die Hände abwischen könne. „Nimm einfach eine von den
Zeitungen da“, deutet der Krämer gleichgültig auf den Verkaufsständer
draußen vor dem Laden, „die kauft sowieso niemand.“
In der nächsten Einstellung sehen wir, dass nicht nur die Zeitungen,
sondern auch er und sein Laden übriggeblieben sind von einer längst
vergangenen Welt; denn die bauliche Hülle des Geschäfts ist das noch
stehengebliebene Rumpfstück eines größeren Gebäudes, das bereits abgerissen
wurde. Und ringsherum nichts als Wüste.
Die Wüste an sich ist, nicht zuletzt dank ihrer vielen visuellen
Qualitäten, eine hervorragende Filmmetapher. Wenn jemand seinem Film auch
noch den Titel „Déserts“ gibt, markiert diese Pluralform deutlich die
semantische Mehrfachfunktion der Szenerie. [1][Regisseur Faouzi Bensaïdi]
(der den Ladeninhaber in der oben beschriebenen Szene selbst spielt) zeigt
in „Déserts“ eine unendlich scheinende Landschaft von grandioser Kargheit,
ohne je in den Bildern zu schwelgen. Sie ist halt da, die Wüste, und in ihr
sehen wir Menschlein in ihrem, von ferne betrachtet, oft rätselhaft
scheinenden Tun.
Der Film wurde zum größten Teil in der Saharaperipherie im Süden Marokkos
gedreht, einer Region, in der menschliche Behausungen, aus Lehm gebaut, oft
so wirken, als seien sie bereit, jeden Augenblick wieder zu Staub zu
zerkrümeln. In dieser Gegend versuchen Hamid (Fehd Benchemsi) und Mehdi
(Abdelhadi Taleb), den eigentlich hoffnungslosen Auftrag zu erfüllen, von
den Ärmsten der Armen Kreditschulden einzutreiben.
Mit einem klapprigen alten Auto durchqueren sie staubige Ebenen, klettern
in den Ruinen halb verlassener Dörfer umher und pfänden, wenn sie säumige
Schuldner gefunden haben, deren letzte Habe – hier einen Teppich, dort eine
Ziege, einmal auch einen Kleintransporter.
## Skurrile Momente und leise Melodramatik
Doch obwohl sie sich größte Mühe geben, ihren Job so hartherzig wie möglich
auszuführen, kommen sie nie auf einen grünen Zweig und werden von der
Chefin auch noch öffentlich abgestraft. Es ist ein rechter Scheißjob, der
sich aber wunderbar als Sujet eines satirisch grundierten Roadmovies
eignet.
In die episodische Struktur der Inkassoerlebnisse sind Szenen aus dem
Privatleben der beiden Geldeintreiber eingefädelt. Während der eine verlobt
ist und sich in der angespannten Situation befindet, die Schwiegereltern in
spe beeindrucken zu müssen, lebt der andere, sozusagen ein paar Level
weiter, im Dauerstreit mit seiner Frau über seine kleine Tochter aus erster
Ehe. Für skurrile Momente sorgt das eine, für leise Melodramatik das
andere.
Die elliptische Erzählweise, die für den Film insgesamt charakteristisch
ist, erlaubt es, Komik und Tragik dicht nebeneinanderzustellen, und lässt
gleichzeitig viel Raum für Imagination – für die poetische Freiheit der
Rezipientin, eigene Bilder und Geschichten im Kopf zu ergänzen.
Und irgendwann gleitet der Film in eine narrative Kurve völlig anderer Art
hinüber und wird [2][zu einer Art Western]: Denn dort unten in den Bergen,
wo noch archaische soziale Strukturen herrschen, lebt ein Geldeintreiber
der ganz anderen Art, ein lokaler Gewaltherrscher, vor dem alle zittern und
der einst seinem Bruder die Geliebte ausgespannt hat, indem er den
Widersacher durch eine Intrige ins Gefängnis brachte.
## Surreal schöne Szenen
Auf einmal ist es diese tragische Liebesgeschichte, die im Fokus des
Geschehens steht; und es ist, als ob zugleich die gesamte Filmsprache das
Genre wechselt: Während zuvor meist in statischen Totalaufnahmen kleine
Menschen in mittlerer Entfernung durchs Bild wuselten, nähert die Kamera
sich nun empathisch den Personen an und wagt sogar ein paar Großaufnahmen.
Im Off erklingt ein Dialog der Liebenden, die im Bild einander weder
ansehen noch berühren. In surreal schönen Szenen, gedreht auf einem
felsigen Bergplateau, gleitet der Film in eine andere visuelle Welt
hinüber, die mehr Traum als Wirklichkeit zu sein scheint.
Und weil es so erstaunlich ist, dass die beiden grundverschiedenen
Handlungsebenen, die skurrile Sozialsatire und das Westerndrama, am Ende
doch wieder zusammenkommen, ist damit schließlich auch jede sichere
Unterscheidung zwischen filmischer Realität und Phantasmagorie aufgehoben.
Aber wer weiß schon, was in der Wüste wirklich ist und was man sich nur
einbildet.
26 Jun 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Spielfilm
Satire
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Filmrezension
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