# taz.de -- Arabische Filme auf der Berlinale: Das leichte Beben der Erde | |
> Neben Dokumentarfilmen zur Revolution gibt es auf der Berlinale auch | |
> arabische Spielfilme. "Death for Sale" und "My Brother the Devil" | |
> erzählen Außenseitergeschichten. | |
Bild: Kleinkriminellentum am Rande der Gesellschaft: "My brother the devil". | |
Eine hübsche junge Frau lässt sich im Auto durch Kairo fahren und spricht | |
in die Kamera: "Wir wissen nicht genau, was wir uns unter Demokratie | |
vorstellen sollen, aber wir wollen sie." Sie heißt Heba Afify und ist die | |
Hauptakteurin in dem Dokumentarfilm "Words of Witness" von Mai Iskander. | |
Afify gehört zu der neuen Generation von Journalistinnen, die die | |
ägyptische Revolution hervorbrachte. | |
Eine Generation, die sich auch nach dem Sturz von Husni Mubarak von der bis | |
heute anhaltenden Repressionswelle nicht einschüchtern lässt. "Words of | |
Witness" zeigt die junge Journalistin Afify bei der Recherche nach | |
Verschwundenen und enthält auch wacklige Aufnahmen aus gestürmten | |
Staatsgebäuden. | |
Auch bei dem Dokumentarfilm, "In the Shadow of a Man" stehen die | |
Umwälzungen der ägyptischen Gesellschaft im Mittelpunkt. Hanan Abdalla hat | |
dafür mehrere Frauen porträtiert. Sie stammen aus unterschiedlichen | |
Schichten und waren mehr oder weniger in die Ereignisse auf dem Tahrirplatz | |
involviert. Tief Verschleierte diskutieren mit moderat Vermummten: "Gott | |
sagt, alle Menschen sind gleich. | |
Wo steht geschrieben, dass wir uns alleine um die Kinder kümmern müssen?" | |
Eine ältere Dame erzählt von ihren Stationen als Hausangestellte und wie | |
sie sich der Zwangsehe wiedersetzt habe: "You have to learn to fight back!" | |
"In the Shadow of a Man" und "Words of Witness" bieten politische | |
Momentaufnahme des Umbruchs im Nahen Osten, mehr aber auch nicht. | |
## Momente des Umbruchs | |
Anders hingegen "The Reluctant Revolutionary". Der Ire Sean McAllister | |
geriet mehr zufällig als geplant in den Aufstand im Jemen. Die Tour mit | |
seinem Touristenführer Kais bricht er ab. Gewehrschüsse in den Bergen, zu | |
gefährlich. Kais unterhält mit Familie ein kleines Hotel in Sanaa. Dank | |
seiner unverklemmten Persönlichkeit erhält der Film fast | |
Spielfilmcharakter. | |
McAllister und Kais unterhalten sich über die Revolte. Kais ist zunächst | |
skeptisch. Das Tourismusgewerbe ist vom Aufstand wirtschaftlich stark | |
getroffen, sein Unternehmen steht vor dem Ruin. Kais hat keine Sympathie | |
für den Diktator, fürchtet aber auch, die Islamisten könnten über die | |
Revolte gestärkt werden. Lieber sitzt er in seinem Hotel und kaut Khat. | |
Khat ist die Alltagsdroge im Jemen. Man schiebt sich die amphetaminhaltigen | |
Blätter des Khatstrauchs in den Mund, kaut sie und befördert sie wie Kais | |
in die Backentasche. Während des Tages wächst das Khat in der Backe so zu | |
einer tennisballgroßen Kugel an, was die Gesichter ziemlich verrutscht | |
aussehen lässt. Kais scheint es dabei aber gut zu gehen. | |
Im Laufe des Films beginnt auch McAllister das Zeug zu kauen und kann Kais | |
überreden, ihn auf die von der Opposition besetzten Plätze zu begleiten. | |
Alleine wäre das für den Iren viel zu riskant. Man kennt sich in Sanaa, mit | |
Kais Hilfe kann der Filmer die Sperren der Demonstranten passieren. Die | |
beiden geraten mitten in den Strudel der Ereignisse. | |
## Volksfestathmosphäre in Sanaa | |
"The Reluctant Revolutionary" dokumentiert das große Pathos und | |
gleichzeitig die große Gelassenheit und Souveränität der Reformbewegung in | |
Sanaa. Und vergisst dabei nicht, dass Politik nicht das ganze Leben ist, | |
auch wenn die Aufnahmen mitunter an die Grenzen gehen, gehen müssen. | |
McAllister und Kais waren dabei, als die Volksfestathmosphäre in Sanaa im | |
letzten Jahr umschlug und allein an einem Tag 52 Menschen durch gezielte | |
Schüsse der Armee starben. Sie stehen in einem Feldlazarett der Opposition. | |
Aufgebrachte Ärzte gestikulieren in die Kamera. Den meisten Opfern wurde in | |
die Oberkörper und Köpfe geschossen, auch Kinder ringen mit dem Tod. | |
McAllisters Aufnahmen haben dennoch nichts Makabres oder Effektheischendes, | |
sie mussten unter diesen Umständen, so bitter sie sind, gemacht werden. | |
McAllister und Kais brachten sich und ihre Umgebung durch die Filmarbeiten | |
in Gefahr. "The Reluctant Revolutionary" dokumentiert auch das verwüstete | |
Hotelzimmer des Regisseurs, dem es aber trotz staatlicher Observierung dank | |
moderner Technologie gelang, dieses wichtige Filmmaterial zu retten und | |
außer Landes zu schaffen. Inzwischen, einige Monate später, hat auch der | |
Jemen einen Diktator weniger, wenn auch Kais bei der Publikumsbefragung in | |
Berlin einräumen musste, dass vor allem der gemeinsame Feind die | |
Reformbewegung einte. Niemand wisse genau, was nun folge. | |
Ein erzählerischer und unideologischer Dokumentarfilm wie der vom | |
zögerlichen (reluctant) Revolutionär bildet einen Übergang vom Dokudrama | |
zum interpretativen Instrumentariums des Spielfilms. Zum Beispiel einem wie | |
"Death for Sale" des Marokkaners Faouzi Bensaidi. Er handelt von jungen | |
Männern in Tetouan, deren Perspektivlosigkeit sie immer mehr in | |
Kleinkriminelle mit immer größeren Problemen verwandelt. | |
## Vermeidung von Klischees | |
Ob er seinen Film nach dem Arabischen Frühling anders gedreht und | |
inszeniert hätte, fragte epd Film den marokkanischen Regisseur auf seinem | |
Berlinale-Blog. "Nein", antwortet Bensaidi. "Ich denke, nicht. Ich habe | |
immer geglaubt und gehofft, dass Künstler bestimmte Wellen spüren können, | |
dass sie bestimmte Dinge fühlen und sie dann in Visionen umwandeln können. | |
Die Charaktere im Film sind wie ein Vulkan vor dem Ausbruch, aber was mich | |
an ihnen interessiert, ist viel mehr das leichte Beben der Erde als die | |
großen Flammen der Explosion." Und, so das schöne Statement Bensaidis: | |
"Alles, was ich bin, liegt in meinen Bildern." | |
Kleinkriminellentum am Rande der Gesellschaft ist auch das Thema von "My | |
Brother the Devil". Nur porträtiert Sally el Hosainis Spielfim zwei Söhne | |
arabischer Einwanderer in London. Die Familie lebt im Block in der | |
Vorstadt, die Mutter ist sehr herzlich, der Vater ein ehrbarer Busfahrer. | |
Ihre beiden hübschen Söhne Mo und Raschid sind zwischen Gangwesen und | |
Tradition, ökonomischem Außenseitertum und unerlaubter Liebe schwer hin und | |
her gerissen. | |
Ein toller Film, keineswegs harmlos, jedoch um Vermeidung gewisser | |
Klischees bemüht. Für das europäische Kino auch immer wieder eine mittlere | |
Arabellion. | |
16 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
Andreas Fanizadeh | |
## TAGS | |
Spielfilm | |
tazlab 2012: „Das gute Leben“ | |
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