# taz.de -- Regisseur über "Captive": "Am Set ist niemand ein Star" | |
> Das Publikum so in den Film verwickeln, dass es das Geschehen riechen, | |
> schmecken und berühren kann: Brillante Mendoza im Gespräch zu "Captive" | |
> mit Isabelle Huppert. | |
Bild: "Die ganze Idee einer Geiselnahme ist bereits so gewalttätig, dass man g… | |
taz: Herr Mendoza, wann hatten Sie die Idee, diesen Film zu machen? 2001, | |
nachdem die Abu-Sayyaf-Separatisten die Geiseln genommen hatten, oder | |
später? | |
Brillante Mendoza: Später. Es war damals nicht die erste Geiselnahme - und | |
bei weitem nicht die letzte. Ich bin seit einer Woche in Berlin, und kurz | |
bevor ich abreiste, hatte sich wieder ein solcher Zwischenfall im Süden der | |
Philippinen ereignet. Ich wusste, wenn ich einen solchen Film machen würde, | |
dann wäre das eine große, teure Produktion, das heißt Neuland für mich. Und | |
vielleicht wäre ich dafür noch nicht bereit. Also drehte ich erst einmal | |
"Serbis", "Kinatay" und "Lola". | |
Und dann? | |
Dann begegnete ich Isabelle Huppert bei einem Filmfestival in São Paulo. | |
Sie hatte die Philippinen vor langer Zeit einmal besucht, 20 Jahre war das | |
her, und ich fragte sie, ob sie nicht noch einmal dorthin reisen wollte, | |
und schlug ihr vor, einen Film zu machen. | |
Seit Ihrem Film "Kinatay" haben Sie den Ruf, vor radikalen | |
Gewaltdarstellungen nicht zurückzuschrecken. Diesmal hatte ich den | |
Eindruck, dass Sie sich eher zurückhalten. | |
Die ganze Idee einer Geiselnahme ist bereits so gewalttätig, dass man gar | |
nicht viel Gewalt zeigen muss. Mir gings um etwas anderes: darum, die | |
Menschlichkeit aller Beteiligten auszuloten. | |
Trotzdem gibt es eine Menge Schießereien. Wie sind Sie an diese Sequenzen | |
herangegangen? | |
Ich habe viel recherchiert, indem ich mit Mitgliedern von Abu Sayyaf, mit | |
Angehörigen des Militärs und mit Überlebenden der Geiselnahme gesprochen | |
habe. Und wenn man mit den ehemaligen Geiseln spricht, spürt man, wie | |
deutlich ihnen das Erlebte noch immer vor Augen steht. Während sie | |
erzählten, war es, als wäre das alles gestern erst geschehen, vielleicht | |
wird sie das niemals loslassen. Mir ging es darum, das, was sie mir | |
erzählten, so realistisch wie möglich wiederzugeben. | |
Die Schießereien sind so gefilmt, dass es dem Zuschauer schwerfällt, sich | |
im Bild zu orientieren. | |
Ich möchte das Publikum in den Film verwickeln; es soll, während es | |
zuschaut, nicht daran denken, dass es einen Film sieht, es soll nachfühlen, | |
was auf der Leinwand vorgeht, das Geschehen beinahe riechen, schmecken und | |
berühren. Kino ist für mich Leben, man bringt Leben auf die Leinwand und | |
nimmt das Publikum mit, und das heißt: In einer solchen Szene weiß es | |
nicht, was geschieht. | |
Wie haben Sie diese Szenen denn gedreht? | |
Ich sage den Darstellern, die Geiseln spielen, nicht, wo und wann die | |
Spezialeffekte zum Einsatz kommen. Was tut eine Geisel, wenn sie im | |
Dschungel einen Schuss hört? Sie weiß nicht, ob sie sich verstecken oder | |
davonrennen soll. Wenn ein Schuss fiel, lag es an den Schauspielern, zu | |
entscheiden, was sie tun würden. Und die Kamera konnte ihnen dann folgen - | |
oder nicht. Sie waren auf sich selbst gestellt. | |
Und welche Regieanweisungen gaben Sie den Darstellern, die die Kidnapper | |
spielen? | |
Nicht viele. Was auf der Leinwand wie eine komplizierte Szene aussieht, ist | |
am Set gar nicht so kompliziert. Denn beim Dreh mussten die Darsteller | |
einfach nur reagieren. Schwierig ist eher die Vorbereitung. Die Darsteller | |
der Kidnapper absolvierten ein mehrwöchiges Training, und die der Geiseln | |
sprachen mit den Überlebenden, um eine Beziehung zu dem aufzubauen, was die | |
Geiseln durchgemacht hatten. | |
Gab es etwas, was sich Ihnen besonders eingeprägt hat, als Sie mit den | |
Überlebenden der Geiselnahme sprachen? | |
Obwohl es schon Jahre her ist, dass sie gefangen gehalten wurden, ist es | |
für sie schwierig, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Es ist, als würden | |
sie es noch einmal durchleben. Die Schauspieler weinten, wenn sie ihnen | |
zuhörten, und auch ich war berührt. Etwas habe ich gelernt: Man ist auf | |
sich allein gestellt im Dschungel, und man hat keine andere Wahl, als ums | |
Überleben zu kämpfen. | |
Stimmt es, dass die Darsteller manchmal gar nicht wussten, ob sie gerade | |
gefilmt wurden? | |
Ja. Und niemand, nicht mal Isabelle Huppert, konnte eine Szene | |
unterbrechen. | |
Sie sagten ja schon, dass Sie Isabelle Huppert in São Paulo begegneten und | |
dass sie Lust hatte, die Philippinen ein zweites Mal zu besuchen. Aber das | |
war vermutlich nicht der einzige Grund, warum Sie mit ihr arbeiten wollten, | |
oder? | |
Ich verfolgte das Projekt ja schon eine Weile, und ich wusste, dass ich ein | |
größeres Budget brauchen würde. Ein Star wie Isabelle Huppert hilft dabei, | |
die Finanzierung aufzutreiben, ganz davon abgesehen, dass natürlich jeder | |
Filmemacher mit großen Künstlern wie ihr zusammenarbeiten möchte. | |
Filme, die einen europäischen Star in ein afrikanisches, | |
lateinamerikanisches oder asiatisches Land versetzen, rücken diesen Star | |
oft in den Mittelpunkt des Geschehens. Bei "Captive" ist das nicht so. | |
Am Set ist sowieso niemand ein Star. Die Arbeitsbeziehung zwischen Isabelle | |
und mir ist von gegenseitigem Respekt geprägt, wir wissen beide, wie wir | |
den Film machen wollen. Es ist wichtig, die richtige Haltung gegenüber dem | |
anderen zu haben, um den Film ohne Schwierigkeiten machen zu können. | |
Ihre Filme umfassen normalerweise eine kurze Zeitspanne, ein paar Tage, | |
eine Woche. Diesmal geht es um eine Zeitraum von über einem Jahr. War das | |
eine Herausforderung? | |
Ja, ich bin daran nicht gewöhnt. Und ich dachte mir: Die Not der Geiseln, | |
jedes Detail, die ganzen 18 Monate - alles ist wichtig. Ich habe versucht, | |
die relevanten Augenblicke und Ereignisse auszuwählen und davon so viel wie | |
möglich zu zeigen. | |
Ging Ihnen je durch den Kopf, Szenen leerer Zeit in den Film | |
hineinzumontieren? Szenen des Wartens, des Nichtstuns? | |
Wir haben solche Einstellungen gedreht, aber ich wusste nicht, wie ich sie | |
einbinden sollte. Als ich den Film gesehen habe, habe ich gedacht, dass ich | |
es hätte versuchen sollen. Denn ich vermisse sie heute. Die Geiseln saßen | |
ja oft nur rum und warteten. Andererseits ging es mir darum, dieses Gefühl | |
des Gejagtwerdens zu betonen, das sie ununterbrochen hatten. Selbst wenn | |
sie sich ausruhten, beherrschte sie der Gedanke, sich aufbruchsbereit | |
halten zu müssen. Sie waren immer auf dem Sprung. | |
16 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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