# taz.de -- "Kid-Thing" im Berlinale Forum: Selbstfindung mit Farbpistole | |
> Krisenstimmung auch im Independentkino: "Kid-Thing" von David und Nathan | |
> Zellner zeigt das amerikanische Hinterland voll verstörender Energie und | |
> Anarchismus. | |
Bild: Kid-Thing: Radikaler Bruch mit der behaglichen Nestwärme. | |
Eine Spur der Verwüstung zieht David und Nathan Zellners "Kid-Thing" durch | |
das wie immer etwas bedächtige Forum-Programm. Ihr Film eröffnet gleich mit | |
einer tollen Zerstörungsorgie, einem Crashcar-Rennen. Wagen krachen | |
ineinander, Metall kreischt, Motoren heulen. Minutenlang geht das so. Der | |
Sport fungiert hier auch als kulturelle Determinante, denn Crashcar-Rennen | |
erfreuen sich gerade im verarmten amerikanischen Hinterland großer | |
Beliebtheit. | |
Filme wie "Kid-Thing" oder das ebenfalls im Forum laufende Drama "Francine" | |
(mit der großartigen Melissa Leo) stehen für einen neuen Sozialrealismus im | |
US-amerikanischen Independentkino, zu dem unbedingt auch die Regisseurinnen | |
Debra Granik ("Winters Bone") und Kelly Reichardt zu zählen sind. Selbst | |
wenn die Auswahl des Forums kaum repräsentativ zu nennen ist, so scheinen | |
die Befindlichkeiten der "Mumblecore"-Bewegung als maßgeblichem | |
Stimmungsbarometer doch ausgedient zu haben. | |
Die Krisenstimmung ist nun auch im Independentkino angekommen (und | |
ausnahmsweise mal nicht als Lebenskrise). Das Amerika jenseits der | |
Metropolen, dessen Zersiedelung sich in Strip Malls und Trailerpark-artigen | |
Fertigbausiedlungen äußert, erfährt endlich auch im Kino die | |
Aufmerksamkeit, die es, sieht man sich die Ergebnisse der amerikanischen | |
Vorwahlen an, demografisch längst einfordert. | |
## Bruch mit der behaglichen Nestwärme | |
Auch die Filme der Zellner-Brüder zeichnet noch ein verstrahlter Witz und | |
die Lakonie der Generation Y aus. Doch "Kid-Thing" stellt einen radikalen | |
Bruch mit der behaglichen Nestwärme der kulturell liberalen Mumblecoreler | |
dar. Von ihm geht eine diffuse, verstörende Energie aus, die stellenweise | |
an den antiautoritären Anarchismus der Siebziger-Jahre-Rappelkiste erinnert | |
- allein ohne deren pädagogischen Anspruch. | |
Die zehnjährige Annie lebt bei ihrem Vater, einem Crashcar-Fahrer und | |
Ziegenfarmer. Die beiden eine Patchworkfamilie zu nennen, wäre übertrieben. | |
Tagsüber streift Annie allein durch den trostlosen Landstrich und | |
hinterlässt eine Schneise der Zerstörung; morsche Baumstämme müssen ebenso | |
daran glauben wie dicke weiße Maden. Irgendwann läuft sie mit einer | |
Farbpistole durch die Gegend und schießt auf alles, was sich bewegt (oder | |
auch nicht bewegt, wie eine tote Kuh). Ein Unrechtsbewusstsein oder | |
Moralvorstellungen hat sie noch nicht ausgebildet. | |
Annie wird aus ihrer Welt gerissen, als sie eines Tages aus einem Loch im | |
Wald die Stimme einer Frau hört. Die Stimme bittet Annie um Hilfe, doch das | |
Mädchen rennt zunächst irritiert davon. Nur zögerlich beginnt sie, eine | |
Beziehung zu der Stimme aufzubauen. | |
Es ist die seltsamste Freundschaft, die das amerikanische Kino seit einer | |
gefühlten Ewigkeit hervorgebracht hat. Annies eigenes Leben droht sich | |
bereits früh in ein dunkles Loch zu verwandeln. Diesem Schicksal stellt sie | |
sich schließlich durch einen beherzten Sprung ins Ungewisse. | |
14.2., 20 Uhr, Colosseum 1; 16. 2., 22.30 Uhr, Cubix 9 | |
14 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Andreas Busche | |
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