# taz.de -- "Gnade" im Wettbewerb: Unter der Schneewehe | |
> Fell, Wolle, Motorschlitten: Alles, was man so braucht in der Kälte nahe | |
> des Polarkreises, ist schwelgerisch dargestellt in Matthias Glasners Film | |
> "Gnade". | |
Bild: Kälte der Landschaft im Kontrast zur Hitze der Existenzintensivierung: B… | |
Im Norden von Norwegen, jenseits des nördlichen Polarkreises, ist es kalt. | |
Noch im Juni liegen Schneereste auf den im Fjord versprengten Inseln, und | |
die Menschen ziehen an, was der Funktionsbekleidungsmarkt an Vliesen und | |
winddichten Jacken anbietet. | |
Im Winter ist die Schneedecke meterhoch, der Wind beißt mit Wolfszähnen ins | |
Gesicht, die Menschen verkriechen sich in Parkas mit einer Krause aus | |
Koyotepelz, und die Sonne schafft es ein paar Wochen lang nicht über den | |
Horizont hinaus. | |
Die Kälte der Landschaft steht in Matthias Glasners Wettbewerbsbeitrag | |
"Gnade" in harschem Kontrast zur Hitze der Existenzintensivierung, die das | |
Drehbuch von Kim Fupz Aakeson den Figuren verschreibt. In ein kleines | |
Küstenstädtchen hat es eine deutsche Familie verschlagen, Niels (Jürgen | |
Vogel) ist Ingenieur und arbeitet in einer Offshore-Gasgewinnungsanlage, | |
seine Frau Maria (Birgit Minichmayr) ist Krankenschwester in einem Hospiz, | |
der Sohn Markus (Henry Stange), vielleicht zehn, elf Jahre alt, geht zur | |
Schule. | |
Sie bewohnen ein hübsches rotes Holzhaus, haben neben ihren aufreibenden | |
Berufen eine Schafherde und viel Zeit zum Eisfischen. Doch miteinander zu | |
reden fällt ihnen schwer, und es vergeht eine ganze Weile, bis man zum | |
ersten Mal sieht, wie sich Niels und Marie berühren. | |
## Kann man auf Vergebung zählen? | |
Die ununterbrochene Dunkelheit macht ihnen zu schaffen, jeder der drei | |
verliert irgendwann die Nerven: Der Junge mobbt einen Klassenkameraden, | |
indem er ihm in den Ranzen spuckt, Niels betrügt Marie mit einer Kollegin, | |
und die lässt sich, als sie nach einer Doppelschicht nach Hause fährt, vom | |
grün flackernden Nordlicht ablenken; ein Mensch oder ein Tier läuft ihr | |
vors Auto, der Wagen schlingert, fängt sich, aus Angst und Verwirrung fährt | |
Marie einfach weiter. Als Niels die Strecke in derselben Nacht absucht, | |
findet er nichts und niemanden. Aber ein paar Tage später steht in der | |
Zeitung, dass ein 15 Jahre altes Mädchen angefahren worden, in ein | |
Schneeloch gefallen und gestorben sei. | |
Glasner geht es also um die großen, existenziellen Fragen, um schuldhafte | |
Verstrickung und wie man damit lebt. Kann man auf Vergebung zählen? Auf | |
Versöhnung? Was geschieht mit dem Schmerz der betrogenen Frau, was mit dem | |
Leid der Hinterbliebenen? | |
Doch der Regisseur unterläuft das Harsche des Sujets, indem er allzu | |
schwelgerisch inszeniert. Kaum ist der Dämmerzustand der Polarnacht vorbei, | |
kaum geht die Sonne wieder auf, kann sich die Kamera am Schnee, an den | |
Bergen, an der windgepeitschten Meeresoberfläche nicht mehr sattsehen. | |
Immerzu muss sie hoch in die Luft und sich im tollkühnen Flug an der | |
eisigen Landschaft ergötzen. | |
## Austattung begräbt existentielle Fragen | |
Und schwelgerisch ist nicht nur das Verhältnis der Kamera zur frostigen | |
Natur, sondern auch das Verhältnis zu all den Winteraccessoires, zu Jürgen | |
Vogels Koyotefell, zu Birgit Minichmayrs Wollpullovern, zum Motorschlitten, | |
zum Four-Wheel-Drive. | |
Wie eine Schneewehe begräbt die Ausstattung die existenziellen Fragen unter | |
sich, und die leicht unglücklich geratenen Diaolge tun ein Übriges. Als | |
Niels seiner Frau die Affäre beichtet, weicht Marie nicht mal das Lächeln | |
aus dem Gesicht. "Ich liebe dich", sagt sie, und man kann nicht umhin zu | |
denken, dass sich der Film aus den Härten, die er selbst beschwört, allzu | |
leichtfertig davonstiehlt. | |
16 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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