# taz.de -- Das Brandenburger Festival NNOI: Im Echo der Bäume | |
> In lauschig-idyllischem Ambiente ergibt sich produktive Reibung. Am | |
> Wochenende fand das experimentelle NNOI Festival in Zernikow statt. | |
Bild: Mit Maske und Laserstrahlen: Liz Kosacks Performance beim NNOI Festival | |
Was man in Sachen Alltagsphysik alles lernen kann! Nicht nur Felswände oder | |
Bauwerke erzeugen ein Echo, sondern auch Bäume. Zumindest wenn sie dicht an | |
dicht stehen wie nahe der Zernikower Mühle, wo von Freitag bis Sonntag die | |
neunte Ausgabe des avantgardistischen NNOI Festivals stattfand. | |
Wenn ihnen ein Klangbrett entgegenschallt, schleudern die Bäume ein paar | |
Fetzen zurück: Am frühen Freitagabend, die [1][Waliserin Elvin Brandhi] | |
spielt ihr knirschend dissonantes Live-Set, kommt es zum eindrücklichen | |
Pingpong. „Disintegrated from nature“ nennen die Veranstalter:innen | |
die Konzerte, Filme, Soundinstallationen und Ausstellungen, die in diesen | |
Tagen um die Mühle herum und im fußläufig erreichbaren Dorf zu erleben | |
sind. Und sind mit dieser Selbstbezichtigung wohl um einiges ehrlicher als | |
die vielen Kulturschaffenden, die ihr Tun gern als gelebten Gleichklang mit | |
der Natur anpreisen. | |
Zernikow ist ein Dorf mit 152 Einwohnern (Stand 2022), nördlich von Berlin | |
im Ruppiner Seenland gelegen. Vom Bahnhof muss man noch ein ganzes Stück | |
Rad fahren oder den Rufbus vorbestellen. Zumindest gefühlt ist man weit weg | |
von Berliner Projekträumen. Und doch kann man sich diese experimentellen, | |
oft obskuren Performances in einem solchen Setting vorstellen – nur dass | |
dort allzu oft die produktive Reibung fehlt, die sich in diesem | |
lauschig-idyllischen Ambiente fast automatisch einstellt. | |
Zwischendurch gibt es immer mal Durchsagen. Etwa, dass Autos umgeparkt | |
werden müssen, der Harvester komme nicht durch. Und wenn diese monströsen | |
Holzeerntemaschinen von ihrer Arbeit abgehalten werden, sei die Polizei | |
bald da. „Disintegration from nature“ allerorten. | |
Organisiert von Robert Schalinski und Ulrike Grittner | |
Programmatisch beschreibt sich das NNOI Festival als Ort für „12756 | |
Tonmusik, Obskure Lehren & Organ der Weltbauchrednerloge“. Auf die Beine | |
gestellt haben es der zwischen Klangforschung und bildender Kunst | |
arbeitende Robert Schalinski (der unter anderem Anfang der Nullerjahre mit | |
der „Sibirischen Zelle“ einen Club für experimentelle Kunst betrieb und mit | |
dem Kollektiv Column One Musik machte) und seiner Frau Ulrike Grittner, die | |
seit 2006 in der Mühle leben. Und natürlich die vielen Helfer: Die sorgen | |
unter anderem dafür, dass die gut 200 Gäste verpflegt sind. Essen ist im | |
Ticketpreis enthalten. | |
Unterstützt wurde Schalinski in diesem Jahr von zwei Co-Kuratorinnen, Ute | |
Waldhausen und Xenia Helms. Zwischendurch sind dann auch Kurzfilme zu | |
sehen, die man ebenfalls eher im Galerie-Setting erwarten würde, die hier | |
aber auf ein bemerkenswert fokussiertes Publikum treffen. Vor allem die | |
surrealen gefilmten Experimente des Schweizer Bildhauers Roman Signer | |
sorgen für Vergnügtheit. | |
Am Samstag dann zaubert der britische Improvisationsmusiker Hilary Jeffery, | |
der am Freitagabend schon einen Auftritt mit seiner Posaune hatte, ein | |
Alphorn auf die Bühne. Er tritt als ein Teil von Organza Ray auf – dem Duo, | |
das er mit Eleni Poulou (vormals Keyboarderin bei The Fall) vor zwei Jahren | |
gegründet hat. | |
Auch Elvin Brandhi tritt am folgenden Nachmittag in der kleinen Zernikower | |
Kirche noch mal auf, diesmal mit ihrem Vater Gustav Thomas – und lässt ihre | |
mal gutturale, mal schrille Stimme über harsche Perkussion mäandern. Ihr | |
Vater ist übrigens Dozent für Musik in Newcastle: Zusammen sind sie Yeah | |
You. | |
Retrofuturistische Performance | |
[2][Christian Gierden aka Karl Marx Stadt] sorgt im Anschluss mit | |
Flummiartigkeit, die er der Kirchenorgel entlockt, für einen schönen | |
Kontrapunkt. Ein Highlight ist am Abend die retrofuturistisch anmutende | |
Performance von Liz Kosack, die – wie immer eine selbst gebastelte Maske | |
tragend – inmitten des Publikums sitzt und ihre Synthesizer bearbeitet, | |
während Laserstrahlen aus ihrer Brust in die Dämmerung schießen. | |
Offenbar sind in dem bunt gemischten All-ages-Publikum viele Wiederkehrer, | |
die genau wissen, wo man auf der Wiese sein Zelt aufschlägt, um morgens | |
auszuschlafen. Die anderen werden schon früh von der knallenden Sonne | |
durchgebritzelt. | |
Immerhin gibt es ein paar Meter weiter den Polzowkanal – an dieser Stelle | |
eher ein lauschiges Bächlein, das als erfrischende Badewanne taugt. Nach | |
einem Spaziergang mit dem Wildkräuter-Experten ist man dann endgültig wach. | |
Und zumindest ein bisschen in die Natur integriert. | |
Der Spaziergang fungierte übrigens als Ersatz für den Programmpunkt | |
Dadærobics, der ja schon die Neugierde der Autorin geweckt hatte. Sich mit | |
Fremden bei motorischen Herausforderungen zum Affen machen hat ja | |
eigentlich immer Unterhaltungswert. Und danach klang es zumindest. Schade, | |
aber nun gut: Dass manche Dinge hier ungelöst bleiben, ist Teil des | |
Konzepts. Ein Lob der praktizierten, produktiven Verwirrung. | |
22 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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