| # taz.de -- Künstlerin über Technik und Kunst: „Unsere Daten sind ein kostb… | |
| > Eine Autonomie des Subjekts gibt es nicht, meint die Künstlerin Agnieszka | |
| > Kurant. Sie untersucht biologische und künstliche Erfahrungswelten. | |
| Bild: Das steinartige Gebilde „Post-Fordite“ besteht aus menschlich hergest… | |
| taz: Agnieszka Kurant, durch Technik kann „natürliches Leben“ erzeugt | |
| werden. Ist das nicht, wenn man die Begriffe trennt, ein Widerspruch in | |
| sich? | |
| Agnieszka Kurant: Wir sind inzwischen in der Lage, komplett synthetische | |
| Organismen zu produzieren, die jedoch lebendig sind und aus organischer | |
| Materie bestehen. Interessanter wird es, wenn wir uns die Frage stellen, | |
| wie es eigentlich dazu kommen konnte. Wer hat die [1][erbgutverändernde | |
| Technologie CRISPR] erfunden? Wie lassen sich Fragmente aus der DNA | |
| eliminieren? Diese Technologien wurden genauso von Bakterien wie von | |
| Wissenschaftler:innen entwickelt – oder zumindest von Bakterien | |
| ermöglicht. | |
| Für meine Arbeit „Adjacent Possible“ habe ich selbst zum Beispiel mit | |
| „lebendigen Pigmenten“ gearbeitet, die ich anhand von manipulierten | |
| Bakterien hergestellt habe. Das Vorbild dazu waren Cyano-Bakterien. Die | |
| sind für die Konservierung von der paläolithischen | |
| „Gwion-Gwion“-Felsmalerei verantwortlich. Sie tun das durch eine permanente | |
| Nachkolorierung, sodass sie die Vorlage in „lebendige Gemälde“ verwandeln. | |
| Das geschieht nicht intentional, aber Fakt ist, dass Bakterien zu unseren | |
| zeitgenössischen Technologien und zum Bild, das wir von der Vergangenheit | |
| haben, beitragen. | |
| taz: Was meinen Sie, wenn Sie Begriffe wie „kollektive Intelligenz“ oder | |
| „plurale Subjektivität“ verwenden? | |
| Kurant: Eine Autonomie des Subjekts gibt es nicht. Nichts in der Welt | |
| funktioniert autonom. Das Erzeugen eines einzigen Gedankens auf Grundlage | |
| der Interaktion von Millionen von Neuronen ist bereits ein Produkt | |
| kollektiver Intelligenz. Auf dieser Basis ist auch unser Zusammenwachsen | |
| mit digitaler Technik zurückzuführen. In dem Buch „Collective Intelligence�… | |
| bezeichne ich diese Entwicklung, im Dialog mit Denker:innen wie | |
| Catherine Malabou und [2][Franco Bifo Berardi], mit dem Ausdruck | |
| „Plastizität des kollektiven sozialen Gehirns“. | |
| Damit beziehe ich mich auf die Tatsache, dass Menschen als Individuen, aber | |
| auch die Menschheit an sich, Verhaltensweisen adaptiert haben, die stark | |
| von digitaler Technologie beeinflusst wird. Das einfachste Beispiel ist der | |
| Gebrauch des Smartphones als Prothese. Menschliche Orientierung ist ohne | |
| GPS nicht mehr vorstellbar, unser Orientierungssinn wurde technologisch | |
| ersetzt. Auch der Erinnerungssinn wurde stark verändert. Wir outsourcen | |
| unsere individuellen Sinne an ein kollektives Gehirn. Dieses kollektive | |
| Gehirn ist aber, da es nur über Technologie funktioniert, die durch | |
| nicht-menschliche Energien und Mineralien gespeist wird, sowohl ein Produkt | |
| menschlicher als auch nichtmenschlicher Intelligenz. | |
| taz: Was bedeutet das in Bezug auf Autonomie? | |
| Kurant: Dass wir ein „hacked animal“ sind. Von innen beeinflussen Bakterien | |
| und Viren unsere Entscheidungen, die Neurotransmitter unseres Gehirns, und | |
| von außen digitale Technologien, Algorithmen. | |
| taz: In Ihrer Installation „Chemical Garden“ benutzen Sie Metallsalze, die | |
| für die Herstellung von Computern benötigt werden. Es handelt sich um | |
| anorganische Materialien, die in flüssigem Glas auf scheinbar organische | |
| Art reagieren. Was leiten Sie daraus ab? | |
| Kurant: Meine Arbeit zeigt, dass auch nicht-lebende Dinge | |
| Handlungsfähigkeit haben. Dies führt uns zu der Frage, was Leben ist. Es | |
| mag verschiedene Definitionen von Leben geben, aber es gibt auf jeden Fall | |
| einige Beweise dafür, dass es nicht-lebende Materie gibt, die eine | |
| Handlungsfähigkeit hat, die der von Lebewesen ähnelt. Nehmen wir als | |
| Beispiel das Verständnis der Entwicklung von Mineralien. | |
| Wissenschaftler wie Robert Hazan vertreten die These einer Ko-Evolution von | |
| Mineralien und Leben. Simpel veranschaulicht, lässt sich das schon an der | |
| Tatsache ablesen, dass wir tagtäglich Mineralien in unseren Stoffwechsel | |
| aufnehmen und dass die Menschheit andererseits die geologische Situation | |
| dramatisch verändert hat. Wenn wir Mineralien zu uns nehmen, nehmen wir | |
| lebende Organismen aus der Vergangenheit zu uns, und die heute lebenden | |
| Organismen werden zur Entstehung von Mineralien in der Zukunft beitragen. | |
| taz: Man vermutet, dass die Mineralsalze, die Sie verwenden, auch für den | |
| Ursprung des Lebens eine Rolle spielten. | |
| Kurant: Ein interessantes Paradox: Die Mineralien, an denen wir, mithilfe | |
| praktisch versklavter Arbeiter:innen, gegenwärtig Raubbau betreiben, um die | |
| Computer zu füttern, sind dieselben Mineralien, die durch ihre Mischung auf | |
| dem Meeresboden das Leben auf der Erde ermöglicht haben. Zumindest soweit | |
| wir das heute wissen. Es gibt also einen gewissen Looping-Effekt, dessen | |
| Bedeutung wir nicht ermessen können. | |
| taz: Sie arbeiten einerseits mit Algorithmen, mit Daten aus der digitalen | |
| Welt, die konkret die Form einiger Kunstwerke bestimmen … | |
| Kurant: Es gab einen deutschen Ingenieur, der für meine Arbeit sehr wichtig | |
| ist, [3][Konrad Zuse. Im Technischen Museum Berlin ist seinem Werk ein | |
| ganzer Raum gewidmet]. Er war ein Computer- sowie | |
| Programmiersprachen-Pionier und der Erste, der die Theorie aufstellte, dass | |
| das Universum ein riesiger Informationsprozessor sei. 1969 schrieb er das | |
| erstaunliche Buch „Rechnender Raum“. | |
| Er sagt, dass der gesamte Kosmos als zellulärer Automat beschrieben werden | |
| könnte, was bedeutet, dass alles – Pilze, Bakterien, Wale, Wälder, | |
| Mineralien, Planeten, Galaxien, Städte, Nationen – Informationen speichert | |
| und verarbeitet. Die Welt kann also als riesiger Computer betrachtet | |
| werden. | |
| taz: Bei anderen Ihrer Arbeiten wie „Risk Management“, einer Landkarte | |
| irrationaler Massenphänomene, sticht gerade Ihre Faszination am | |
| Unberechenbaren hervor. | |
| Kurant: Es gibt immer Formen kollektiver Intelligenz, die auf nicht | |
| berechenbare Weise entstehen und sich verhalten. Obwohl alles auf der Erde | |
| Information verwertet, ist nicht alle Information berechenbar. Ich weiß | |
| nicht, ob das gut oder schlecht ist. Sicher aber ist: Es gibt etwas, das | |
| über eine rein rechnerische Evolution hinausgeht. Es gibt viele komplexe | |
| Phänomene auf der Welt. Wir wissen nicht einmal, wie Wahlen in der Politik | |
| ausgehen. Das ist zum Teil abhängig von irrationalen Faktoren, an welchem | |
| Wochentag sie stattfinden etwa oder wie das Wetter sein wird. | |
| taz: Dazu fällt mir Ihr neues Werk „Lottocracy“ ein. Es ist ein | |
| Kugelziehgerät, das uns auch die Nichtvorhersagbarheit der Dinge vor Augen | |
| führt. Aber der Name ist der politischen Ökonomie entlehnt? | |
| Kurant: Richtig, die Lottokratie als Ersatz für das Wahlsystem, wie wir es | |
| heute kennen, ist ein radikal neuer Gedanke. Die Wahl politischer Vertreter | |
| wird dabei durch Wahlen per Los ersetzt. Diese Maßnahme geht von dem | |
| Erfahrungswert aus, dass man in den meisten Teilen der Welt einigermaßen | |
| wohlhabend sein muss, um Mitglied einer politischen Partei zu sein. Es gibt | |
| kaum Mitglieder, die aus der Arbeiterklasse stammen. Deshalb schlagen | |
| einige radikale Politolog:innen jetzt Wahlen per Los vor. Es würde | |
| sich dabei nicht um ein willkürliches Verfahren handeln. Wählbarer Kandidat | |
| wäre, wer sich in irgendeiner Weise in lokalen Ämtern oder beispielsweise | |
| in der Nachbarschaftsorganisation verdient gemacht hat. | |
| taz: Was bedeutet die Anerkennung einer kollektiven Intelligenz für Sie auf | |
| ökonomischer Ebene, steht beispielsweise Ihnen allein der Gewinn aus Ihrer | |
| Arbeit zu? | |
| Kurant: Künstliche Intelligenz ist das Ergebnis der Ausbeutung der | |
| kollektiven menschlichen Intelligenz, da Algorithmen auf den digitalen | |
| Fußabdrücken von Millionen von Internetnutzern trainiert werden. Unsere | |
| Daten wurden inzwischen zu einem kostbareren Rohstoff als Öl und Gas. | |
| Einige meiner Werke sind Vehikel, mittels derer das Geld des Kunstmarkts | |
| abgezweigt und umverteilt werden kann, zum Beispiel unter globalen | |
| digitalen Arbeiter:innen, die oft für sogenannte microtasks ausgebeutet | |
| werden. | |
| taz: Wenn der Mensch aus einer Vielzahl von Intelligenzen besteht, sind wir | |
| dann überhaupt verantwortlich für unsere Taten? | |
| Kurant: Ethik ist eine zentrale Frage in diesem Abenteuer, das ich plurale | |
| Subjektivität oder auch kollektive Intelligenz nenne. Ein Beispiel: Einige | |
| der Wissenschaftler, mit denen ich zusammenarbeite, waren mit der Frage | |
| beschäftigt, gentechnisch veränderte Mücken in Ökosysteme einzuführen, die | |
| unfruchtbar sind. Damit sollte die Übertragung von Malaria oder | |
| Denguefieber gestoppt werden. Das ist dann tatsächlich passiert, die Mücke | |
| wurde erfolgreich eingeführt. Aber wenn Sie mit einem wirklich versierten | |
| Wissenschaftler sprechen, wird er zugeben, dass völlig unklar ist, welche | |
| langfristigen globalen Konsequenzen die Veränderung dieser einen winzigen | |
| Situation haben wird. Hier könnten wir einer Art Schmetterlingseffekt, wie | |
| ihn die Chaostheorie formuliert hat, ausgeliefert sein. | |
| taz: Wäre es nicht angebrachter, von „kollektiver Dummheit“ als von | |
| „kollektiver Intelligenz“ zu sprechen? | |
| Kurant: Die Welt jenseits der Menschen kennt keine Ethik. Tiere töten sich | |
| gegenseitig, es gibt kein moralisches Dilemma. Ethik ist das Ergebnis einer | |
| evolutionären Entwicklung, die für die Organisation der menschlichen | |
| Gesellschaft notwendig war. Wichtig ist auch, dass es ein Instrument der | |
| Zivilgesellschaft ist. Unverändert ist es so, dass Ethik aus | |
| Überlebensperspektive absolut notwendig ist, wenn wir uns nicht selbst | |
| ausrotten wollen. | |
| 25 Nov 2024 | |
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