# taz.de -- Antisemitismus in Deutschland: „Vom Fluss bis zur See …“ | |
> Wo bleibt die Solidarität? Ein Appell an Politik, Medien und | |
> Wissenschaft: Hört endlich auf, Juden- und Israelhasser in Schutz zu | |
> nehmen. | |
Bild: Auf einer antiisraelischen Demonstration in Köln im Mai 2021 | |
Das Spektrum der Antisemit:innen wird breiter. Auch der Ruf nach Mord, | |
worauf der moderne Antisemitismus hinausläuft, wird deutlicher. Links, | |
rechts und in der Mitte ist der Judenhass identitär aufgeladen und | |
projiziert das schlechte Gewissen oder auch Angst auf eine Wahnvorstellung | |
vom jüdischen Volk, das angeblich eine Gefahr für die eigene Gemeinschaft | |
darstelle. | |
Rechtsradikale wie der Terrorist von Halle, der Ende 2019 betende Jüdinnen | |
und Juden töten wollte, begründen ihren Hass mit der angeblich von Juden | |
organisierten Migration, die das deutsche Volk bedrohe. Sie sprechen von | |
der Bundesregierung als „ZOG“, Zionist Occupied Government, also einer | |
Regierung, die von Juden besetzt sei. | |
Die Rhetorik gegen Zionisten ist bei linken Antiimperialisten noch stärker | |
verbreitet. Sie projizieren auf den Zionismus und den jüdischen Staat all | |
das, was in ihrem Weltbild böse ist, insbesondere Kolonialismus und | |
Imperialismus. Auf der anderen Seite sehen sie sich und die | |
Palästinenser:innen, die sie in ihrer Überidentifikation mit ihnen als das | |
Ursprüngliche, Rebellische und Unschuldige schlechthin sehen. | |
Auch Islamisten beziehen sich auf das Reine und Ursprüngliche, allerdings | |
mit Bezug auf den Islam, nach dem es die Gesellschaft auszurichten gelte. | |
Sie glauben nicht, dass der Islam reformiert oder demokratisiert werden | |
sollte, sondern dass er angegriffen wird und dass wir uns in einem von | |
Juden angeführten weltweiten Religionskrieg befinden, in dem | |
Muslim:innen die Pflicht haben, den Islam zu verteidigen. | |
## In der Mitte angekommen | |
Wenn der Antisemitismus auf einige wenige an den extremen Rändern | |
beschränkt wäre, wäre das schlimm genug, aber wir wären in der Lage, den | |
antisemitischen Wahn einzugrenzen und ihn weitgehend unschädlich zu machen. | |
Die Gesellschaft könnte Jüdinnen und Juden ein Gefühl der Sicherheit geben, | |
dass ihnen im Zweifelsfall Solidarität und Hilfe gewiss sei. | |
Dass dem aber nicht so ist, zeigt sich schon daran, dass Jüdinnen und Juden | |
sich weitgehend allein gelassen fühlen, dass sie Angst haben, sich in der | |
Öffentlichkeit oder auch in der Schule als Jüdinnen oder Juden erkennen zu | |
geben. Es zeigt sich auch daran, dass Versatzstücke der extremen Ideologien | |
bis weit in die Mitte verbreitet sind. So weit, dass sich die Frage stellt, | |
ob die extremen Ränder der Gesellschaft die Mitte beeinflussen oder ob sich | |
nicht vielmehr der weit verbreitete Judenhass einfach nur offener und | |
mordlustiger an den Rändern äußert. | |
„Tod den Juden“ wollen nur wenige brüllen. Die meisten Antisemit:innen | |
geben vor, nichts gegen Juden zu haben, und leugnen den mörderischen Hass. | |
So auch die Mutter des Terroristen aus Halle. Ihr Sohn habe nichts gegen | |
Juden, erklärte sie im Interview. „Er hat ein falsches Vokabular. „Er hat | |
nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der | |
finanziellen Macht stehen – wer hat das nicht?“ Tatsächlich, sie steht mit | |
dieser Meinung nicht allein. Im gleichen Monat, im Oktober 2019, meinten 24 | |
Prozent in einer repräsentativen Umfrage, dass Juden zu viel Macht in den | |
internationalen Finanzmärkten hätten. | |
Nicht nur der Antisemitismus von rechts, auch der Antisemitismus von links | |
hat eine lange Vorgeschichte. Antizionistische Kampagnen begannen schon | |
unter Stalin, einschließlich der Ermordung jüdischer Intellektueller. Sie | |
intensivierten sich nach dem Sechstagekrieg 1967, als diese dann [1][auch | |
unter westlichen Intellektuellen Fuß fassten]. | |
## Die Rolle des Feuilletons | |
Bis heute sind die Auswirkungen spürbar, [2][beispielsweise mit dem alten | |
Slogan, Zionismus sei Rassismus], was auch im Mai 2021 auf zahlreichen | |
antiisraelischen Demos zu sehen und zu hören war. Die auf Verdrehungen und | |
Fälschungen basierenden Verleumdungen Israels findet sich heute aber auch | |
in deutschen Feuilletons, in denen Israel pauschal des Rassismus, eines | |
„Apartheid-Systems“, bis hin zum Genozid bezichtigt wird. Sie legitimieren | |
damit den nur leicht verdeckten Ruf nach Mord, wenn zur Befreiung „ganz | |
Palästinas“ „vom Fluss bis zur See“ aufgerufen wird. | |
Daran beteiligen sich auch deutsche Wissenschaftler:innen, wenn sie | |
versuchen, umzudefinieren, was Antisemitismus ist, und die Infragestellung | |
des Existenzrechts Israels vom Antisemitismusvorwurf per Definition | |
auszunehmen. So geschehen mit einer auffallend großen Beteiligung von | |
deutscher Seite an der clever titulierten [3][„Jerusalemer Erklärung zum | |
Antisemitismus“] vom März, die darüber hinaus auch antiisraelische Boykotte | |
in Schutz nimmt. | |
Dschihadisten hingegen sind für fast alle antisemitischen Morde im Europa | |
des 21. Jahrhunderts verantwortlich, insgesamt 18, die meisten davon in | |
Frankreich. [4][Antisemitismus ist allen islamistischen Bewegungen | |
inhärent], von der Muslimbruderschaft über Millî Görüş und Erdoğans AKP … | |
zu dschihadistischen Bewegungen wie al-Qaida, Isis und Hamas. | |
Aber auch unter Muslim:innen zeigt sich, dass der Antisemitismus nicht | |
nur an den Rändern unter Islamisten zu finden ist, sondern von vielen | |
übernommen wird, die kein kohärentes islamistisches Weltbild haben. In | |
Ländern wie Algerien, dem Irak oder der Türkei hat die Mehrheit der | |
Bevölkerung antisemitische Einstellungen. | |
## Islamistischer Extremismus | |
Eine Durchsicht aller bis zum Jahr 2015 veröffentlichten Umfragen zu | |
Antisemitismus in verschiedenen europäischen Ländern, einschließlich | |
Deutschlands, die unterscheiden zwischen muslimischen und nichtmuslimischen | |
Teilnehmenden, zeigt übereinstimmend, dass Antisemitismus unter | |
Muslim:innen deutlich stärker verbreitet ist als unter denjenigen, die | |
sich nicht muslimisch identifizieren. Alle nachfolgenden Umfragen | |
bestätigen dies eindeutig und belegen auch, dass dies nicht mit der | |
Einkommensschicht, dem Bildungsniveau oder Diskriminierungserfahrungen | |
erklärt werden kann. | |
Das trifft auch für Berlin zu, wo in den letzten Wochen besonders viele und | |
aggressive antisemitische Vorfälle zu verzeichnen waren. Der Berlin-Monitor | |
2019 untersucht auf Basis einer repräsentativen Umfrage Einflussfaktoren | |
für antisemitische Einstellungen. Der bei Weitem größte Einflussfaktor war | |
die Identifizierung als Muslim:in. Etwas abgeschlagen, aber immerhin auf | |
Platz zwei kamen Sympathien für die AfD. Erst dahinter kamen Bildungs- und | |
wirtschaftliche Faktoren. | |
Das heißt, der Prozentsatz der Antisemit:innen ist unter | |
Muslim:innen sogar höher als unter AfD Anhänger:innen. Es ist daher | |
nicht verwunderlich, dass Muslim:innen auch häufig unter den | |
Täter:innen antisemitischer Vorfälle zu finden sind. | |
Wie groß deren Anteil an antisemitischen Vorfällen insgesamt ist, lässt | |
sich aber nur schwer sagen, denn antisemitische Vorfälle werden noch immer | |
nur unzureichend erfasst. Der religiöse Hintergrund wird nur erfasst, wenn | |
die Tat eindeutig aus „religiös-ideologischer Motivation“ erfolgt. | |
Aus Polizeistatistiken lässt sich ein Anteil von über 90 Prozent | |
rechtsextremer Taten an der Gesamtzahl der politisch motivierten, | |
antisemitischen Straftaten herauslesen. Das ist jedoch irreführend, da | |
antisemitische Straftaten, die keiner Ideologie eindeutig zugeordnet werden | |
können, von den Beamt:innen vor Ort meist als „rechtsextrem“ eingetragen | |
werden. | |
## Tatsächliche Bedrohungslage | |
Dennoch lag der Anteil der antisemitischen Gewalttaten, die einer | |
„ausländischen“ oder einer „religiösen Ideologie“ zugeordnet wurden, … | |
letzten Jahren (2017–2019) zwischen 12 und 20 Prozent. Die der rechtsextrem | |
motivierten Gewalttaten lag zwischen 71 und 85 Prozent. | |
Zwei voneinander unabhängige Umfragen unter Jüdinnen und Juden (der | |
Europäischen Union/FRA sowie der Universität Bielefeld) zeigen dagegen | |
übereinstimmend, dass Opfer von Antisemitismus Muslime als größte Gruppe | |
von Tätern noch weit vor Rechts- und Linksextremisten benennen. | |
Die Wahrheit mag irgendwo dazwischen liegen. Muslimischer Antisemitismus | |
ist jedoch keineswegs vernachlässigbar. | |
Wer das immer noch kleinredet oder wer den Judenhass und die Dämonisierung | |
Israels als „Kritik“ an Israel uminterpretiert, macht sich mitschuldig am | |
wachsenden Antisemitismus in unserer Gesellschaft. | |
6 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Augenzeugenbericht-eines-Ex-Guerilleros/!5726548 | |
[2] /Populismus-und-Islamismus/!5754686 | |
[3] /Antisemitismus-und-Israel/!5758775 | |
[4] /Europa-gegen-den-Terrorismus/!5289588 | |
## AUTOREN | |
Guenther Jikeli | |
## TAGS | |
Antisemitismus | |
Juden | |
Israel | |
Islamismus | |
Palästina | |
Hamas | |
Iran | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Politisches Buch | |
Hamas | |
Islamismus | |
Rechtsextremismus | |
Musik | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
Graphic Novel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Buch über Muslimbrüderschaft: Der Dschihad ist ihr Weg | |
Vordenker des Islamismus: Gudrun Krämer legt eine Biografie des Gründers | |
der Muslimbruderschaft Hasan al-Banna vor. | |
Nach antisemitischen Protesten: Hamas-Flagge soll verboten werden | |
Union und SPD einigen sich auf das Verbot. Aber: Eine offizielle Fahne gibt | |
es gar nicht. Das Innenministerium setzt auf eine praktische Lösung. | |
Radikalisierung in der Pandemie: Islamismusprävention stockt | |
Der Lockdown bot islamistischen Menschenfängern gute Bedingungen. | |
Gefährdete Personen ließen sich für Sozialarbeiter:innen kaum noch | |
erreichen. | |
Rechtsextremismus in Deutschland: Schwelbrände sind gefährlich | |
Es ist Sommer in Deutschland. Wie ein Feuer an einer Synagoge und die Wahl | |
in Sachsen-Anhalt zeigen, besteht nicht nur in Wäldern erhöhte Brandgefahr. | |
Gedenken an jüdische Komponisten: Gebührendes Gehör | |
In Hamburg und Dresden haben sich neue Orchester gebildet. Sie bringen | |
Werke von jüdischen Komponisten, die unter den Nazis verdrängt wurden, in | |
die Gegenwart. | |
Buch über Antisemitismus: Eine deutsche Geschichte | |
Vom Kampf für deutsches „Volkstum“ bis zur „Israel-Lobby“: Peter Longe… | |
große Studie über Judenhasser zeigt erschreckende Entwicklungslinien auf. | |
Graphic Novel „Der Araber von morgen“: Multikultur für Anfänger | |
Riad Sattouf erzählt eine Kindheit zwischen Europa und dem Nahen Osten – | |
mit subversivem Witz gegen Antisemitismus und das Patriarchat |