# taz.de -- Gedenken an jüdische Komponisten: Gebührendes Gehör | |
> In Hamburg und Dresden haben sich neue Orchester gebildet. Sie bringen | |
> Werke von jüdischen Komponisten, die unter den Nazis verdrängt wurden, in | |
> die Gegenwart. | |
Bild: Michael Hurshell, Dirigent der Neuen jüdischen Kammerphilharmonie in Dre… | |
Es ist beschämend. Während das Jewish Chamber Orchestra Hamburg kürzlich | |
sein erstes Konzert 2021 spielt, haben sich Israel und die Hamas | |
gegenseitig beschossen. Neben dem Theater mussten Streifenwagen der Polizei | |
die Aufführung beschützen. Bevor das Kammerorchester an jenem Abend zu | |
musizieren beginnt, gibt Geiger Emanuel Meshvinski wie immer eine | |
Einführung in das dritte Streichquartett von [1][Viktor Ullmann, entstanden | |
1943 im Konzentrationslager Theresienstadt]. Ein Jahr später wurde Ullmann | |
zusammen mit seiner Familie und anderen jüdischen Komponisten in Auschwitz | |
vergast. | |
Pjotr Meshvinski ist der Vater von Emanuel und Initiator des Jewish Chamber | |
Orchestra Hamburg. Er hat es 2018 „wiederbelebt“: Ein jüdisches | |
Kammerorchester gab es in Hamburg nämlich schon einmal. 1934 hatte der | |
Geiger, Dirigent und Komponist Edvard Moritz gemeinsam mit jüdischen | |
Musiker:innen das Orchester als Notgemeinschaft gegründet. Nach der | |
Machtergreifung Hitlers entzog das NS-Regime ab 1933 jüdischen | |
Musiker:innen zunehmend die Auftrittsmöglichkeiten. Sie mussten | |
staatliche und private Orchester verlassen – und schlossen sich zusammen. | |
Daher gründeten sie eine Selbsthilfeorganisation, den [2][Kulturbund | |
deutscher Juden]. Hier konnten Jüdinnen und Juden gemeinsam Kultur | |
gestalten und erleben – notgedrungen. Sonst durften sie nicht in | |
Erscheinung treten, weder als Künstler:innen noch als Publikum. Theater, | |
Oper, Konzerte mit klassischer wie populärer Musik – alles wurde | |
ausgegliedert. Die Nazis schufen ein jüdisches kulturelles Getto. Ab 1935 | |
gezwungenermaßen unter dem Namen Jüdischer Kulturbund, weil sie das Wort | |
„deutsch“ als unpassend empfanden. | |
Nachdem der [3][Kulturbund zunächst nur in Berlin zugelassen war], | |
entstanden bald in vielen anderen Städten Pendants. 1935 gab es über 36 | |
lokale Kulturbünde mit etwa 70.000 Mitgliedern. | |
Die programmatischen Inhalte der Kammerorchester beschränkten sich nicht | |
auf ihr Jüdischsein. Den Großteil der Programmhefte füllten die Namen der | |
gängigen klassischen Komponisten. Im Fall des Jüdischen Kammerorchesters | |
Hamburg waren das Händel, Corelli, Mozart oder Tschaikowsky. Natürlich | |
wurden auch Werke jüdischer Komponisten gespielt – aus eigenem Antrieb, da | |
ihre Werke sonst nirgendwo erlaubt waren, aber auch als ausdrückliche | |
Vorgabe der Nazis. | |
## 1941 wurden die Jüdischen Kulturbünde liquidiert | |
Und: Das Jüdische Kammerorchester Hamburg spielte auch Zeitgenossen wie den | |
Franzosen Florent Schmitt, Antisemit und glühender Anhänger des | |
Nationalsozialismus. Im August 1935 belegte die Reichsmusikkammer jüdische | |
Künstler:innen mit einem Berufsverbot. Edvard Moritz musste das Jüdische | |
Kammerorchester in Hamburg nach nur vier Konzerten auflösen. Die Jüdischen | |
Kulturbünde wurden 1941 liquidiert. | |
Das heutige Jewish Chamber Orchestra Hamburg hat es sich zur Aufgabe | |
gemacht, an die verfemten Komponisten zu mahnen. Mindestens eins ihrer | |
Werke steht auf jedem Programm. „Es lastet enorm auf der Seele, diese Musik | |
zu spielen“, bekennt Pjotr Meshvinski. „Das kann man nicht ruhig machen und | |
auch nicht täglich. Ich heule fast jedes Mal, wenn ich das spiele. Aber | |
diese Musik muss unbedingt erklingen.“ In der Reihe „Musikalische | |
Stolpersteine“ hat das jüdische Kammerorchester 2020 Werke verfolgter | |
Komponisten mit klassischen Stücken verbunden. Das jüngste Konzert in den | |
Hamburger Kammerspielen baute darauf auf. | |
Es war der [4][Auftakt einer zwölfteiligen Reihe], die an die Opfer des | |
Nationalsozialismus und das musikalische Erbe jüdischer Komponisten | |
erinnert. Zu Werken von Ullmann, Brahms und Schostakowitsch werden Texte | |
zur jüdischen Kultur gelesen. [5][Lea Rosh, Initiatorin des | |
Holocaustmahnmals in Berlin], hält außerdem eine Rede über alten und neuen | |
Antisemitismus in Deutschland. | |
Der Boden dieser Gedenkveranstaltung ist geschichtsträchtig: 1937 erwarb | |
die Jüdische Gemeinschaftshaus GmbH die heutigen Hamburger Kammerspiele, | |
eine herrschaftliche Villa im klassizistischen Stil. Es entstand ein | |
Theater mit etwa 450 Plätzen und einer Bühne – sie war von einem | |
Silberrahmen umspannt und mündete in einen gemauerten Kuppelhorizont. Mit | |
einem kompletten Schnürboden, einer fahrbaren Brücke und einer | |
Beleuchtungsanlage war die Technik mit dem Wesentlichen ausgestattet. | |
Ein Jahr später spielte das Ensemble des Jüdischen Kulturbunds Hamburg hier | |
ein Konzert. Das Gebäude wurde zum Treffpunkt der jüdischen Gemeinde oder | |
dem, was von ihr noch übrig war. Nach der Liquidierung des Jüdischen | |
Kulturbunds 1941 verwandelte die Gestapo das Haus schließlich in eine | |
Proviant- und Versorgungsstelle für Deportationen. Im Juli 1942 wurde es | |
zur Sammelstelle für einen der Hamburger Transporte nach Auschwitz. | |
## Es geht um das Erinnern der Geschichte | |
Jüdische Kammerorchester gab es nicht nur innerhalb der Kulturbünde, | |
sondern auch da, wo es am Unwirklichsten erscheint: im KZ Theresienstadt. | |
Dort waren mit Viktor Ullmann, Pavel Haas, [6][Hans Krása] und Gideon Klein | |
namhafte Komponisten inhaftiert. Sie komponierten nicht nur Kammermusik, | |
Lieder und sogar Opern, sondern führten einige dieser Werke auch auf. So | |
entstanden auch einige Kompositionen speziell für das dortige | |
Kammerorchester, das in einer Streicherbesetzung spielte. | |
Pjotr Meshvinski ist es wichtig, dass sein Orchester die Musik dieser | |
Komponisten spielt. Es geht ihm um die Geschichte, das Erinnern, das | |
Niemalsvergessen. Genau wie das einstige Orchester mischt das aktuelle | |
klassische Werke mit der Musik jüdischer Komponisten. Beim Jewish Chamber | |
Orchestra Hamburg spielt allerdings der Background der Musiker:innen | |
keine Rolle. Meshvinski erlaubt sich einen seiner trockenen Witze: „Wir | |
sind eine Synagoge – zu uns kann jeder kommen. Vorausgesetzt, es sind gute | |
Musiker.“ | |
## Exil in Hollywood | |
Diesen Ansatz vertritt auch die Neue Jüdische Kammerphilharmonie Dresden. | |
Gegründet hat sie 2007 der Dirigent Michael Hurshell. Seine Biografie liest | |
sich wie ein Weltenbummlerroman: Geboren in Wien, zur Schule gegangen in | |
München und Köln, studiert in New York, Seattle und wieder Wien. Obwohl der | |
Sohn zweier Opernsänger:innen die meiste Zeit seines Lebens in den USA | |
gelebt hat, verrät sein wienerischer Akzent seine Geburtsstadt. | |
Der Gedanke zur Gründung der Neuen Jüdischen Kammerphilharmonie kam ihm | |
nach einem Konzert: Auf dem Programm waren große Hollywood-Komponisten | |
gewesen – Hurshell stellte fest, dass alle jüdische Geflüchtete waren. Aber | |
was ihn bestürzte, war, dass in Deutschland zwar alle „Vom Winde verweht“ | |
kannten, aber niemand Max Steiner, Franz Waxman, Erich Zeisl und Miklós | |
Rózsa. In den USA sei das ein bisschen anders, erzählt Hurshell, wobei – | |
wirklich kennen würde man da auch nur Korngold. | |
Ausschließlich jüdische Komponisten bilden in den Konzerten der | |
Kammerphilharmonie das Programm. Es sind teilweise dieselben Namen wie bei | |
dem Jewish Chamber Orchestra Hamburg, aber nicht nur. Auch nach dem | |
Nationalsozialismus hatten jüdische Komponisten es schwer: „Nach 1945 hat | |
sich niemand um diese Komponisten bemüht. Dabei hat man das in anderen | |
Gebieten gemacht, man hat Leute nach Deutschland eingeladen, sodass sie | |
zurückkommen konnten“, bedauert Hurshell. | |
## Desillusionierung im Nachkriegseuropa | |
Viele Betroffene hätten das allerdings gewollt, trotz der grausamen | |
Erfahrungen. Waxman stammte aus Dresden, Korngold aus Wien. 1949 fuhren | |
beide gemeinsam nach Europa, man wollte ihre Werke in Paris aufführen. Auf | |
halber Strecke kam ein Telegramm. Keine Karten verkauft, Konzert abgesagt. | |
Trotzdem blieben sie in Europa. Nach etwa einem Jahr kehrten beide | |
desillusioniert nach Los Angeles zurück. „Die Komponisten wurden zuerst | |
verfolgt und danach wurden ihnen wieder die Türen zugeschlagen. Deswegen | |
ist diese Musik aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden.“ Einige wenige | |
erinnern sich aber doch. Nach manchen Konzerten kamen Holocaustüberlebende | |
zu Hurshell. „Sie hatten Tränen in den Augen und sagten, dass sie sich an | |
diese Musik aus ihrer Kindheit erinnern. Das werde ich nie vergessen.“ | |
Seit ihrem Konzertdebüt 2007 hat die Neue Jüdische Kammerphilharmonie | |
Dresden mehr als hundert Auftritte absolviert. Die Neue Synagoge in Dresden | |
ist die ansässige Bühne. Michael Hurshell ist dort sowieso oft – seit | |
Februar dieses Jahres ist er Vorsitzender der jüdischen Gemeinde. Als er | |
das Orchester gründen wollte, hat er sich in den jüdischen Gemeinden | |
Dresden, Leipzig und Chemnitz erkundigt, ob es professionelle | |
Orchestermusiker:innen gebe. „Es gab fast keine.“ Die Religion der | |
Mitglieder spiele in der Neuen Jüdischen Kammerphilharmonie jedoch keine | |
Rolle. „Natürlich wäre es interessant, mehr Jüdinnen und Juden dabei zu | |
haben.“ | |
Anders als das Jewish Chamber Orchestra Hamburg sieht sich die | |
Kammerphilharmonie in Dresden in keiner Tradition zu den Kulturbünden aus | |
der Nazizeit. Für die Zukunft wünschen sich beide Orchester das Gleiche: | |
Zuerst Frieden, und dann der Musik verfemter Komponisten das ihr gebührende | |
Gehör verschaffen. | |
1 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Beha | |
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