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# taz.de -- Aktivist über den Friedhof Buntentor: „Die Polizisten taten ahnu…
> Auf dem Bremer Friedhof Buntentor liegen NS-Täter und auch Opfer, vor
> allem Sinti und Roma. Das Grab der Familie Dickel hat eine besondere
> Geschichte.
Bild: Bewegende Geschichte: das Grab der Sinti-Familie Dickel auf dem Bremer Fr…
taz: Herr Gerardu, wer liegt auf dem Bremer Friedhof Buntentor begraben?
John Gerardu: Unter anderem Täter und Opfer des [1][NS-Regimes]. Fangen wir
mit den Tätern an. Da wäre zum Beispiel das Grab von Theodor Wehmann,
verstorben am 4. September 1944. Auf seinem Grabstein steht, dass er
Leutnant und Kompanieführer der Wehrmacht war, das Eiserne Kreuz Zweiter
Klasse hatte und in Warschau starb. Als ich das las, wurde ich sofort
hellhörig. Er muss also während des [2][Warschauer Aufstands] – dem
verzweifelten Versuch der Bevölkerung, den deutschen Besatzern etwas
entgegenzusetzen – umgekommen sein. Seine Familie hat auf den Grabstein
geschrieben: „Er lebt mit uns weiter und bleibt unser Stolz.“ Natürlich,
ich habe Verständnis dafür, dass die Familie in erster Linie den Sohn sieht
und sich auf einem Grabstein nicht gleich mit der Geschichte
auseinandersetzt. Aber die Frage ist doch: Worauf ist man eigentlich stolz?
Zumal die Deutschen den Warschauer Aufstand blutig niederschlugen.
Eben. Ein weiteres Tätergrab erinnert an Gustav Schade. Er starb am 4.
Dezember 1938 als Mitglied der [3][„Legion Condor“] in Spanien. Er ist also
bereits vor dem Zweiten Weltkrieg für das Vaterland gefallen, in einem
illegalen Krieg, den Hitler zur Unterstützung des spanischen,
faschistischen Diktators Franco führte. Das deutsche NS-Regime hat damals
Piloten und anderes Personal illegal nach Spanien gebracht. Auch
Flugzeugteile hat man in kleinen Kisten auf die Kanarischen Inseln
gebracht, wo sie zusammengebaut wurden. Das alles war verboten, denn
Deutschland durfte laut Versailler Vertrag keine Luftwaffe haben. Gustav
Schade wurde nur 25 Jahre alt und ist „den Kriegertod in der Blüte seines
Lebens“ gestorben, wie es auf dem Grabstein steht. Weiter steht da: „Du
starbst als Held und treu bis in den Tod.“ Auf dem Stein liegen außerdem
ein steinerner Helm, ein Propeller und ein Dolch. Seine Eltern sollen stolz
darauf gewesen sein, dass er bei der „Legion Condor“ angenommen wurde.
Sprechen wir jetzt über die Gräber der NS-Opfer.
Ja. Wichtig ist zum Beispiel das Grab der Sinti-Familie Dickel. Der als
erster auf dem Grabstein Verzeichnete ist der 1929 verstorbene Johann
Dickel. Auch seine 1943 gestorbene Frau liegt dort beerdigt, außerdem ein
Bruder von Johann mit seiner Frau und deren Tochter. Letztere sind alle
nach 1945 gestorben. Deshalb haben wir – die Initiative „Spurensuche“ und
der „Arbeitskreis Erinnern an den März 1943“…
… damals wurden die Bremer Sinti und Roma deportiert …
… das Grab zunächst nicht beachtet. Es deutete nicht auf eine direkte
Verfolgung dieser Familie durch das NS-Regime hin. Es ist insbesondere dem
Historiker [4][Hans Hesse], der Mitglied in unserem Arbeitskreis ist, zu
verdanken, dass wir inzwischen so viel über die Familie Dickel, aber
darüber hinaus auch über alle verfolgten Sinti und Roma aus
Nordwest-Deutschland wissen. 2021 und 2022 sind diesbezüglich zwei
Gedenkbücher von ihm erschienen.
Was genau macht Ihr Verein „Spurensuche“?
Begonnen hat es mit der Webseite spurensuche-bremen.de. Sie ist inzwischen
Teil des Vereins „Erinnern für die Zukunft“. Ich habe sie vor zwölf Jahren
gemeinsam mit anderen Aktivisten und Interessenten eingerichtet, um Orte,
Personen und Ereignisse in Bremen aufzulisten, die im Zusammenhang mit dem
Nationalsozialismus stehen. Inzwischen machen wir, gemeinsam mit dem
erwähnten Arbeitskreis und der „Denkorte“-Initiative Neustadt, auch
Schülerprojekte und Führungen, zum Beispiel über den Friedhof Buntentor.
Und wie ging die Recherche zur Familie Dickel weiter?
Als der Arbeitskreis 2020 die Gedenkstätte im einstigen
Deportations-Durchgangslager im niederländischen [5][Westerbork] besuchte,
fragte uns einer der dortigen Historiker, ob wir Informationen zu Julius
Dickel hätten. Bei ihm hatte sich Linda Dickel aus Rotterdam gemeldet,
seine Tochter. In dem Bremer Dickel-Familiengrab sind Julius Dickel, seine
Geschwister und Eltern allerdings nicht beerdigt. Denn sie alle sind im
März 1943 von der Bremer Polizei aufgegriffen und mit sämtlichen anderen
Bremer Sinti und Roma ins „Zigeuner-Familienlager“ Auschwitz-Birkenau
deportiert worden. Julius Dickel überlebte als einziger: Er war damals 16,
hatte wohl eine kräftige Statur und wurde als „arbeitstauglich“ eingestuft.
Er ist in verschiedenen Lagern gewesen, unter anderem in [6][Buchenwald].
Zuletzt kam er nach Theresienstadt und von dort nach der „Befreiung“ 1945
zurück nach Bremen.
Was hat Julius Dickel nach Kriegsende gemacht?
Als er erfuhr, dass seine Familie in Auschwitz ermordet worden war, ging er
zum Familiengrab auf dem Buntentor-Friedhof. Dort erfuhr er von einem
Friedhofswärter, dass ein Onkel von Julius Dickel in den Niederlanden
lebte. Er war schon Anfang der 1930er-Jahre dort hingezogen. Auch Julius
Dickel zog jetzt dorthin. Als der Onkel 1951 zurück nach Deutschland ging,
blieb Julius in den Niederlanden, lebte in Den Haag und Groningen. 1968
heiratete er und bekam eine Tochter – Linda. Er blieb allerdings nur drei,
vier Jahre bei der Familie – wobei man sagen muss, dass er durch die
KZ-Haft schwer traumatisiert war. Er musste Antidepressiva nehmen, stand
ständig unter Medikamenten. Er hat wohl ein unstetes Leben geführt, ist
schließlich nach Offenburg in Baden-Württemberg gegangen und 1993
gestorben.
Und seine Tochter wusste nichts von alldem?
Nein. Als ich Linda anrief und ihr das alles erzählte – ich bin
Niederländer und konnte in ihrer Muttersprache mit ihr reden – fiel sie aus
allen Wolken. Es war ja das erste Mal, dass sie so viel über ihren Vater
erfuhr. Denn bis auf die Heirat mit ihrer Mutter wusste sie nichts über
ihn. Und jetzt hörte sie von seinen Geschwistern, Eltern, Großeltern. Da
Julius Dickels Grab in Offenburg aber inzwischen eingeebnet war, fragte
Linda uns vom Arbeitskreis, ob wir einen Stein zur Erinnerung an ihren
Vater legen könnten. Das haben wir im Mai dieses Jahres getan.
Stehen dort inzwischen auch die Namen der im KZ ermordeten
Familienmitglieder?
Nein, dafür war nicht genug Platz auf dem Stein. Das Dickel-Grab steht
unter Denkmalschutz und darf nicht verändert werden. Wir haben aber auf
einem Areal vor dem Grab einen Extrastein für Julius Dickel verlegen
können.
Wer hat das bezahlt?
Die Bremer Senatskanzlei. Sie unterstützt uns genauso wie der Beirat
Neustadt, der weitere Gedenkstelen an NS-Opfer oder Täterorte in der
Neustadt finanziert hat. Unter anderem eine neue, die am 19. November 2022
eingeweiht wird. Sie wird an die verfolgten Sinti und Roma erinnern, die
auf dem gesonderten Gräberfeld des Friedhofs beerdigt sind.
Hat Julius Dickel je Wiedergutmachung für das erlittene Leid erhalten?
Ja, aber es war mühsam. 1961 hat er Strafantrag gegen den Kripobeamten
Wilhelm Mündtrath, Haupttäter der Bremer Sinti- und Roma-Verfolgung,
gestellt. Er hatte Dickels Familie im Wohnwagen in Bremen-Gröpelingen
verhaftet, sie persönlich zum Schlachthof gebracht, von wo aus sie drei
Tage später nach [7][Auschwitz] deportiert wurden. Mündtrath und mehrere
andere Polizisten sind mitgefahren, haben die Menschen am Tor an die SS
übergeben, durften aber nicht in das Lager hinein.
Aber sie wussten schon, was im KZ passierte?
Angeblich nicht. In besagtem Verfahren haben sie es alle abgestritten.
Dabei gibt es in den Akten deutliche Hinweise darauf, dass sie es wussten.
Wurden die Polizisten bestraft?
Nein. Es gab keine Beweise dafür, dass sie von den Morden wussten. Man
konnte ihnen keine Beihilfe zum Mord nachweisen.
Auf dem Buntentor-Friedhof gibt es viele weitere Sinti- und Roma-Gräber.
Was hat es damit auf sich?
Das Dickel-Grab liegt einzeln auf dem historischen Teil des Friedhofs und
ist wahrscheinlich das älteste bekannte Bremer Grab für eine Sinti-Familie.
Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre hat man dann vermutlich
angefangen, den Sinti und Roma einen Platz im hinteren Teil des Friedhofs
zuzuweisen. Das erste Grab in diesem neueren Teil war das einer Sintezza.
Ihre Familie hatte die Gruft übernommen, in der [8][Johann Knief] lag, 1918
Mitbegründer der KPD.
Wie kam das?
Seine Familie hatte die Grabstelle irgendwann aufgegeben, und die
Sinti-Familie übernahm sie. Später haben sie eine eigene Grabstelle
erworben. Die Sinti-Familiengräber sind sehr groß, prunkvoll und haben viel
Blumenschmuck. Inzwischen gibt es in Buntentor etwa 60 Sinti-Gräber und
-grüfte. Sie sind alle mit massiven Marmorplatten bedeckt. Nach der
Bestattung kommen die Familienmitglieder noch ungefähr 40 Tage fast täglich
zum Grab, stellen zum Teil Stühle oder Bänke auf. Sie stellen Aschenbecher
auf, damit sie auch für den Verstorbenen eine Zigarette da lassen können,
legen Erinnerungsstücke, Kuscheltiere und andere bedeutsame Gegenstände auf
das Grab.
Auf dem Friedhof gibt es außerdem ein Mahnmal für die Opfer der
Gasexplosion 2020 in einem Altenheim im Geschworenenweg.
Ja, und auch hier gibt es eine Verbindung zu den Bremer Sinti und Roma. Der
[9][Geschworenenwe]g liegt nur zwei Straßen vom Friedhof Buntentor
entfernt. Auf dem Grundstück, wo die Explosion stattfand, stand früher eine
Schule. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg bei alliierten Bombenangriffen
zerstört. Auf dem Schulhof siedelten sich nach 1945 Sinti-Familien an, die
aus dem KZ kamen. Dann gab es Beschwerden aus der Bevölkerung, und alle
Bremer Sinti- und Roma-Quartiere wurden aufgelöst und ein zentraler Ort
festgelegt.
Wo lag er?
Er lag im ehemaligen [10][KZ Riespott] auf dem Gelände der Bremer
Stahlwerke, direkt an der Weser, weit abseits. 1948 wurden die Sinti und
Roma gezwungen, dort hinzuziehen. 1955 beanspruchten die Stahlwerke das
Gelände dann für sich, weil sie ihren Hochofenbetrieb erweitern wollten.
Außerdem wollte die Stadt dort ein Hafenbecken anlegen. Also wurde das
„Zigeunerlager“ wieder aufgelöst und die Sinti und Roma zurück in die
Neustadt gebracht – an die Wartumer Heerstraße auf eine Mülldeponie.
Blieben sie dort?
Ja, eine ganze Weile, und Ende der 1960er-Jahre löste sich das Lager von
selbst auf, weil die Menschen in andere Stadtteile zogen.
Zurück zum Geschworenenweg und der Gasexplosion …
Ja. Ein weiterer Grund, warum die Sinti und Roma von dort weg sollten, war,
dass die Bremer Heilsarmee das Gelände kaufen wollte. Nachdem die Sinti und
Roma weggezogen waren, hat die Heilsarmee dort ihre Zentrale eingerichtet.
Später kam ein Freizeitheim dazu sowie ein Seniorenheim. Am 20.
November.2000 gab es eine Gasexplosion, nachdem ein Bagger ein
Zuleitungsrohr beschädigt hatte. Zwölf Menschen starben.
16 Oct 2022
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## AUTOREN
Petra Schellen
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