| # taz.de -- Nachruf: Einer der letzten Zeugen | |
| > Im Holocaust verlor Ewald Hanstein einen Großteil seiner Familie, er | |
| > selbst überlebte Auschwitz und Buchenwald nur knapp. In der jungen | |
| > Bundesrepublik kämpfte Hanstein für die Bürgerrechte der Sinti und Roma. | |
| > Nun ist er im Alter von 85 Jahren in Bremen gestorben. | |
| Bild: Der unermüdliche Ewald Hanstein bei einem späteren Besuch auf dem Spiel… | |
| "Unkraut vergeht nicht!" Mit diesem Satz beruhigte Ewald Hanstein seine | |
| Familie und Freunde in den letzten Jahren, wenn er sich wieder einmal von | |
| einem gesundheitlichen Rückschlag erholt hatte. Manchmal setzte er sich | |
| dann sogar wieder an die Gitarre und schmiedete Pläne. Als er Anfang | |
| letzter Woche wieder so schwach war, dass er ins Krankenhaus musste, | |
| rechneten alle damit, diesen Satz bald wieder zu hören. Aber diesmal | |
| reichte die Kraft nur noch für die letzte Flucht seines Lebens. Auf eigene | |
| Verantwortung verließ er die Klinik und starb kurz darauf, in der Nacht auf | |
| Freitag, zu Hause in Bremen-Aumund im Kreise seiner Frau Rosita und seiner | |
| Kinder. | |
| "Unkraut vergeht nicht." Aus dem Munde eines Sinto erhält diese harmlose | |
| Redensart einen bitter-bösen Beigeschmack. "Volksschädlinge" nannten die | |
| Nazis die so genannten "Zigeuner" und verfolgten und vernichteten sie | |
| genauso gnadenlos und systematisch wie die Juden. "Manchmal liege ich | |
| abends im Bett und sehe ihre Gesichter vor mir: das meiner Mutter Maria, | |
| das meines Vaters Peter, der Schwestern Gertrud, Elisabeth, Lydia und | |
| Ramona, meines Bruders Gregor, das von Großmutter und all der anderen. | |
| Niemand von ihnen hat Auschwitz überlebt. Und dann wundere ich mich, dass | |
| ich noch lebe. Warum gerade ich?", schreibt Ewald Hanstein in seiner | |
| Autobiografie "Meine hundert Leben". | |
| 1924 geboren, wuchs er behütet bis 1936 in einer großen Breslauer Familie | |
| auf. Doch bereits kurz nach der Machtergreifung der Nazis wurden die | |
| Lebensbedingungen auch für die kleine Sinti-Gemeinde in Breslau gefährlich | |
| und so beschloss sein Vater, ein Kommunist, den Umzug nach Berlin. Sie | |
| ahnten nicht, dass die Reichshauptstadt wegen der Olympischen Spiele gerade | |
| "zigeunerfrei" gemacht wurde. Aus dem Sammellager Marzahn konnte Ewald | |
| Hanstein sich vor Beginn der reichsweiten Deportationen im März 1943 noch | |
| für kurze Zeit in den Berliner Untergrund absetzen, landete aber nach | |
| seiner Ergreifung wenig später auch im Vernichtungslager | |
| Auschwitz-Birkenau, das für ihn zeitlebens der "größte Friedhof der Welt" | |
| blieb. | |
| Am Tag vor der endgültigen Liquidierung des sogenannten | |
| "Zigeuner-Familienlagers" Anfang August 1944 schaffte er es auf den letzten | |
| Transport nach Buchenwald. "Die im Lager zurückgebliebenen Frauen, Kinder, | |
| Alten und Schwachen sahen uns und liefen zum Zaun. Es waren fast 2.900 | |
| Menschen. Unter ihnen meine Mutter und meine noch lebenden Geschwister. Der | |
| Zug setzte sich in Bewegung, die Schreie wurden mit jedem Meter leiser. | |
| Verstummt sind sie bis heute nicht." Wenn es einen Schlüsselmoment im Leben | |
| von Ewald Hanstein gab, dann war es dieser. Das tief empfundene Bedürfnis, | |
| seine Familie rächen zu wollen, gab ihm die fast übernatürliche Kraft, der | |
| "Vernichtung durch Arbeit" in den KZ Buchenwald und Mittelbau-Dora zu | |
| entgehen und auch den anschließenden Todesmarsch zu überleben. | |
| Nach der Befreiung durch die Amerikaner in einer Scheune des kleinen Ortes | |
| Eggersdorf bei Schönebeck an der Elbe blieb er gleich dort, heiratete seine | |
| erste Frau und baute sich eine eigene Existenz auf. Seine anfängliche | |
| Begeisterung für den neuen Staat erhielt einen schweren Knacks, als er 1950 | |
| als Bahnpolizist in Ost-Berlin Wache schob und denunziert wurde, weil er | |
| angeblich West-Berliner Boden betreten hatte. Für 10 Monate wurde er dafür | |
| im Magdeburger Zuchthaus eingesperrt. | |
| Der tatsächlichen Flucht in den Westen 1954 folgten bewegte Jahre als | |
| Schlosser bei Borgward, Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts im Harz und | |
| immer wieder auch als Musiker. Begleitet haben ihm dabei schwere | |
| Schicksalsschläge wie der frühe Tod seiner drei Söhne aus erster Ehe. Der | |
| Rachegedanke geriet in den Hintergrund. Die persönliche Erfahrung einer | |
| "Zweiten Verfolgung" brachte ihn jedoch immer mehr dazu, sich politisch | |
| einzumischen. | |
| Jahrzehntelang kämpfte er um eine kleine Entschädigung, musste sich dabei | |
| wie die anderen überlebenden Mitglieder seiner Volksgruppe von ehemaligen | |
| Nazis begutachten und verhören lassen. Ein Großteil der Sinti wurde bis in | |
| die 1970er Jahre unter entwürdigenden Lebensbedingungen zusammengepfercht, | |
| wie in Bremen im Riespott und auf dem Warturmer Platz. Gemeinsam mit Romani | |
| Rose aus Heidelberg, Otto Rosenberg aus Berlin und Ricky Adler aus | |
| Frankfurt baute Hanstein die Bürgerrechtsarbeit der Sinti in Deutschland | |
| auf. Er gründete die Sinti-Vereine in Bremen und Bremerhaven mit, deren | |
| Landesvorsitz er bis vor wenigen Jahren ausübte. In der Gedenkstätte | |
| Mittelbau-Dora war er bis zum Schluss Mitglied des europäischen | |
| Häftlings-Komitees. | |
| Den größten Eindruck hinterließ der Träger des Bundesverdienstkreuzes bei | |
| seinen zahleichen Auftritten in Schulen und Kultureinrichtungen. Seine | |
| leise, eindringliche Stimme brachte selbst die größte Aula zum gebannten | |
| Zuhören. Wer Ende letzten Jahres in der Stadtbibliothek Bremerhaven erlebt | |
| hat, wie Ewald Hanstein seiner angeschlagenen Gesundheit ein letztes Mal | |
| einen öffentlichen Lebensbericht abrang, weiß nun, dass die Erinnerung der | |
| Überlebenden mit der Zeit nicht verblasst, sondern schmerzlicher wird. | |
| Die Sinti nannten ihn "Berglein". Nichts trifft diesen menschlichen Riesen | |
| auf dünnen Beinen besser. Er war streitbar und unbequem, versöhnlich und | |
| herzlich. Hungrig nach Leben bis zum Schluss. Und unendlich humorvoll. Bei | |
| dem Leben! Und obwohl er in einem Land lebte, in dem es den Tätern der | |
| Nazi-Zeit und ihren Nachkommen meist besser geht als den Opfern und ihren | |
| oft traumatisierten Kindern. Deren Geschichte müssen nun andere erzählen. | |
| Ewald Hansteins Stimme ist nicht zu ersetzen. Bremen ist ärmer. | |
| 8 Sep 2009 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Lorenzen | |
| ## TAGS | |
| Holocaust | |
| Bremen | |
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