# taz.de -- Aktivismus in Kolumbien: Eine Frage des Überlebens | |
> Der Aktivist Juan Pablo Gutierrez kämpft gegen Kolonialismus und musste | |
> dafür fast mit dem Leben bezahlen. Heute lebt er im Pariser Exil. | |
Bild: Der Kohlegegner und Aktivist Juan Pablo Gutierrez aus Kolumbien in Lütze… | |
Heiß ist es im August 2022 in Hamburg. Die Sonne brennt vom wolkenlosen | |
Himmel, das Gras im Volkspark, wo in diesen Tagen ein [1][Camp der | |
Klimabewegung] stattfindet, ist gelb und vertrocknet. Ein Zirkuszelt | |
spendet zumindest etwas Schatten. Vor Journalist*innen geben dort | |
mehrere Sprecher*innen klimapolitischer Gruppen vorbereitete | |
Stellungnahmen ab, es geht um [2][Klimaschutz, Neokolonialismus und den | |
Globalen Süden]. | |
Dann ist Juan Pablo Gutierrez dran. Er spricht auf Spanisch, laut, schnell | |
und direkt, wählt drastische Worte. „Durch den Bergbau in Kolumbien könnt | |
ihr hier in Wohlstand leben“, sagt er. „Die Energie, die in Deutschland mit | |
kolumbianischer Kohle hergestellt wird, ist mit Blut verschmutzt.“ Er | |
erzählt von Naturzerstörung, von Landverlusten der indigenen Bevölkerung | |
und von Atemwegserkrankungen bei Kindern, die durch den Bergbau verursacht | |
werden. | |
Im deutschen Klimaaktivismus wird momentan viel darüber diskutiert, wie man | |
nicht resigniert, wie man Hoffnung finden kann. Für Juan Pablo Gutierrez | |
stellen sich diese Fragen in einer anderen Dimension. Wegen seiner | |
politischen Arbeit wurden bereits zwei Mordanschläge auf ihn verübt. Woraus | |
schöpft er Kraft in einem Kampf, der ihn fast das Leben kostete und immer | |
wieder aussichtslos scheint? | |
## Sein größter Wunsch ist die Rückkehr in seine Heimat | |
Man findet Gutierrez in letzter Zeit bei allen großen Klimaereignissen: In | |
Hamburg, in Lützerath, auf dem Biodiversitätskongress in Marseille und der | |
Weltklimakonferenz in Ägypten. Er kennt viele Leute dort, es ist schwer, | |
ihn allein zu erwischen. Gutierrez ist kein großer Mann, dennoch ist er | |
nicht zu übersehen. Oft trägt er einen blau-weiß gestreiften Poncho, die | |
braunen Locken zu einem Dutt gebunden, eine Kette und Lederarmbänder. Mit | |
seinen Reden verschafft er sich Gehör, ohne zu schreien, im persönlichen | |
Gespräch ist er offen und freundlich. | |
Schnell lädt er Gesprächspartner*innen zu sich nach Paris ein, wo er | |
seit fünf Jahren wohnt, im Exil. Dort führt er eine Art Doppelleben: Bis | |
zum Mittag lebt er sein Leben in Frankreich. Aber danach, wenn in seiner | |
Heimat der Tag beginnt, stellt er das kolumbianische Radio an, hört die | |
Nachrichten und spricht mit den Menschen in Kolumbien über Signal und | |
Instagram. Sein größter Wunsch ist es, nach Kolumbien zurückkehren zu | |
können. Gleichzeitig empfindet er es als Privileg, nicht dort zu sein: „Die | |
meisten Menschen in Kolumbien haben nicht die Möglichkeit zu gehen, also | |
sind sie dazu verdammt, getötet zu werden.“ | |
Ein dramatischer Satz, der nachvollziehbar wird, wenn man Gutierrez’ | |
Lebensgeschichte betrachtet. Als Teil des Indigenen Volks Yukpa, das um | |
den Gebirgszug Sierra de Perijá in Venezuela und Kolumbien lebt, ist der | |
heute 41-Jährige in einer Zeit aufgewachsen, in der Indigene in Kolumbien | |
kaum Rechte hatten. „Zu sagen, dass man indigen ist, hieß zu akzeptieren, | |
dass man als Sklave behandelt und ausgebeutet wird“, sagt Gutierrez. | |
## In Kolumbien ist es besonders gefährlich für Aktivist*innen | |
Die Yukpa organisierten sich ab Anfang der 2000er Jahre politisch und | |
wurden Teil von [3][ONIC, der nationalen Indigenen-Organisation | |
Kolumbiens]. Gutierrez arbeitete zunächst als Fotograf und dokumentierte | |
Menschenrechtsverletzungen. Später wurde er aufgrund seiner Kontakte zu | |
internationalen Organisationen zu einem von ONICs internationalen | |
Vertreter*innen. | |
Kolumbien gehört zu den gefährlichsten Ländern für Aktivist*innen | |
weltweit. Laut der Ombudsstelle für Menschenrechte, einer unabhängigen | |
Organisation mit Sitz in Bogotá, wurden hier im vergangenen Jahr 215 | |
Aktivist*innen getötet, 2021 waren es 145. „Wenn wir uns entschließen | |
zu kämpfen, dann wissen wir auch, dass wir kämpfen werden, bis wir getötet | |
werden oder den Kampf gewinnen“, sagt Gutierrez. | |
2012 besuchte Gutierrez für die ONIC das Gebiet der indigenen Nukak. Die | |
Nukak leben im kolumbianischen Teil des Amazonasbeckens und stehen laut der | |
Nichtregierungsorganisation Survival International „am Rand der | |
Auslöschung“. Um zu ihnen zu kommen, musste Gutierrez Kokafelder | |
überqueren. Mitglieder der [4][Drogenkartelle, der Narcos,] warnten ihn, | |
Stillschweigen über die Felder zu bewahren. Doch Gutierrez machte Fotos. | |
„Viele Nukak sind auf Kokafeldern versklavt. Die Narcos haben ihr Land | |
genommen und die Nukak gezwungen, dort zu arbeiten.“ | |
Nach der Veröffentlichung der Fotos bekam Gutierrez Drohungen. Als er | |
erneut das Gebiet der Nukak besuchte, sei er von bewaffneten Männern | |
aufgehalten worden, die ihn mitnehmen wollten, „offensichtlich, um mich zu | |
töten“, sagt er. Wer dort gekidnappt werde, kehre nicht zurück. Nur weil er | |
mit einer Gruppe von 50 Leuten unterwegs war, die mit den Männern | |
diskutiert habe und ihn nicht gehen lassen wollte, sei er noch einmal davon | |
gekommen. Danach kehrte er nie wieder in diese Gegend zurück. | |
## Den zweiten Anschlag überlebte er nur knapp | |
Das zweite Mal wurde er mitten in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá nach seiner | |
Arbeit bei ONIC aufgehalten. Vier Männer auf Motorrädern umringten sein | |
Auto und schossen, 16 Mal. „Nur wie durch ein Wunder wurde ich nicht | |
getroffen.“ Dieser Anschlag sei von den Aguilas Negras ausgegangen, | |
paramilitärischen Organisationen, die Umwelt- und | |
Menschenrechtsaktivist*innen in Kolumbien töten. „Sie machen die | |
Drecksarbeit der Regierung“, sagt Gutierrez. | |
Zunächst blieb er trotzdem in Kolumbien. Erst als seine Tochter geboren | |
wurde, spürte er Angst und Verantwortung für ihr Leben. Deshalb entschied | |
er, zusammen mit seiner Familie nach Paris zu gehen. | |
Obwohl er sich als Teil der Klimabewegung versteht, ist die Klimakrise | |
für Juan Pablo Gutierrez eigentlich ein sekundäres Problem. Er betrachte | |
sie als Teil der Krise, die durch den Kolonialismus verursacht wurde und | |
wird. „Im Globalen Süden kämpfen wir seit 500 Jahren gegen die Wurzeln | |
dieses zerstörerischen Systems“, sagt er. „Der Globale Norden dagegen hat | |
erst vor ein paar Jahren begonnen, die Konsequenzen dieses Systems als | |
Bedrohung wahrzunehmen.“ | |
Trotzdem klingt Juan Pablo Gutierrez nicht wütend, wenn er aus seinem Leben | |
erzählt, und vom andauernden Kampf gegen Kolonialismus. Auf Spanisch | |
spricht er schnell, selbstsicher, auf Englisch eher bedächtig. Die Sprache | |
habe er über Twitter gelernt, indem er das, was er twittern wollte, in ein | |
Übersetzungstool geschrieben hat. | |
## Wenn europäisches Privileg zu einer Falle wird | |
Heute, sagt Gutierrez, werde endlich mehr auf Indigene gehört, nachdem ihre | |
Ansichten lange ignoriert wurden. „Zum ersten Mal haben wir die | |
Möglichkeit, nicht als Wilde, Unzivilisierte wahrgenommen zu werden, | |
sondern als diejenigen, die mit der Art, wie wir leben wollen, richtig | |
liegen.“ Gerade im europäischen Exil sei es ihm möglich, Allianzen mit | |
Menschen zu schließen, die nach einer Lösung suchen. „Wenn ich europäische | |
Aktivist*innen als meine Feinde sehen würde, würde ich Feinde suchen, | |
wo keine sind“, sagt Gutierrez. | |
Lützerath besuchte er 2021 zum ersten Mal, [5][auf Einladung der Aktivistin | |
Carola Rackete]. Insgesamt fünf Mal war er dort. „Ich fühlte mich sofort | |
direkt betroffen, als wäre es mein eigener Kampf“, sagt er. Auf dem Gebiet | |
der Yukpa liegt auch eine Kohlemine, 16-mal so groß wie der Tagebau | |
Garzweiler bei Lützerath. | |
Ein Problem sieht Gutierrez in der Zersplitterung der europäischen | |
Klimabewegung in viele verschiedene Gruppen. „Die Organisationen hier | |
verstehen sich noch als Individuum“, sagt er. Im Moment ist er begeistert | |
von den [6][radikalen Protesten in Frankreich gegen ein Wasserreservoir für | |
die Landwirtschaft]. „So sollte Aktivismus hier in Europa sein, das muss | |
weiter gehen als die Aktionen vieler Gruppen, die vor allem Symbolcharakter | |
haben.“ | |
## Aufhören ist keine Option | |
Gutierrez kämpft weiter, weil er keine andere Wahl sieht. Für ihn ist es | |
eine Frage des Überlebens: „Wenn jemand mit einem Gewehr oder einer | |
Maschine versucht, dein Land zu zerstören, kannst du nicht sagen, ich bin | |
gerade zu deprimiert zum Kämpfen. Nein, du kämpfst.“ Die Menschen in Europa | |
seien im Vergleich dazu weniger resilient, weil ihr privilegiertes Leben | |
das nicht wirklich erfordere. „Aber es ist nicht eure Schuld“, betont er. | |
„Das Privileg ist auch eine Falle. Hier ist immer Essen im Kühlschrank und | |
Wasser kommt immer aus dem Wasserhahn. Ihr seid nicht im Überlebensmodus.“ | |
Was Gutierrez will, ist mehr Radikalität. Für ihn steckt die europäische | |
Klimabewegung noch zu viel Hoffnung in einen Systemwechsel durch die | |
Regierenden. „Das ist ein bisschen naiv. Wir brauchen mehr“, sagt er. Was | |
genau das sein könnte? Daran arbeite er. Er erzählt etwas vage von einer | |
„Globalisierung des Widerstands“, von einem „großen Projekt“, das mehr | |
Aktivist*innen in Lateinamerika und Europa vereinen will – bis zu einer | |
weltweiten Revolution. | |
6 Apr 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jelena Malkowski | |
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