# taz.de -- Abschiebung einer Familie in Schwerin: Mit dem Rammbock ins Kirchen… | |
> In Schwerin hat die Polizei am Mittwoch das Kirchenasyl gebrochen. Beim | |
> Abschiebeversuch zweier Afghanen eskalierte die Situation. | |
Bild: Abschiebung in Schwerin: Mit der Spezialeinheit der Polizei ins Kirchenas… | |
BREMEN taz | Der kleine, schmale Junge ist völlig außer sich. In einem | |
Video ist zu sehen, wie er weinend und flehend von einem Polizisten aus | |
einem Einfamilienhaus am Schweriner Stadtrand geschoben und schließlich | |
getragen wird, vorbei an weiteren Polizist:innen und Rettungskräften. | |
Dieses Video wurde am Mittwochvormittag von der Deutschen Presse-Agentur | |
verbreitetet. Ein Polizist in Kampfmontur streicht dem Zehnjährigen über | |
den Kopf, ein anderer klopft seinem Vater auf die Schulter, der hinter ihm | |
aus dem Haus kommt, mit grauem, versteinertem Gesicht. Er trägt eine kurze | |
Hose und Schlappen an den nackten Füßen. | |
Am frühen Morgen war die Polizei in das Haus eingedrungen, in dem eine | |
sechsköpfige, aus Afghanistan stammende Familie seit einer knappen Woche | |
lebte – im Kirchenasyl. Nur sehr selten haben in den vergangenen Jahren | |
Polizist:innen [1][das ungeschriebene Gesetz gebrochen], nach dem | |
Menschen nicht aus Räumen geholt werden, die ihnen von Kirchengemeinden zum | |
Schutz vor Abschiebung zur Verfügung gestellt werden. | |
Doch die Kieler Ausländerbehörde, die die Schweriner Polizei um Amtshilfe | |
gebeten hatte, wollte die vom Bundesamt für Migration angeordnete | |
Abschiebung der beiden volljährigen Brüder des Kleinen nach Spanien | |
vollziehen. Gescheitert ist sie daran, dass die 47-jährige Mutter, [2][eine | |
afghanische Frauenrechtlerin] und TV-Journalistin, drohte, sich, den | |
Zehnjährigen und seine 13-jährige Schwester mit einem Messer zu töten. | |
Laut Polizei hatten die Mutter, der mit 22 Jahren älteste Sohn und das | |
Mädchen Messer versteckt am Körper getragen. Der 22-Jährige soll sich zudem | |
mit Glasscherben Verletzungen im Gesicht zugefügt haben. Die Mutter befand | |
sich am Mittwochnachmittag nach Angaben der Polizei aufgrund ihres | |
„psychischen Ausnahmezustands“ in einem Krankenhaus. Gegen sie wird wegen | |
Bedrohung und Nötigung ermittelt. | |
## Trügerische Sicherheit in Europa | |
„Sie haben so einen langen Weg hinter sich und dachten, sie wären endlich | |
in Sicherheit“, sagt Imogen Canavan, eine britische Anwältin, die die | |
Familie unterstützt, seitdem sie vor der Gewalt der Taliban geflohen ist. | |
Am Mittwochmorgen habe die 13-jährige Tochter sie angerufen, auch sie sei | |
außer sich gewesen. „Im Hintergrund waren Schreie zu hören, die Mutter war | |
nicht ansprechbar, die Kinder hatten Angst.“ | |
Die Polizist:innen, die sich um Deeskalation bemühten, schienen ihren Job | |
gut zu machen, erzählt Canavan, sie habe selbst mit ihnen gesprochen und | |
gehört, wie sie mit den Kindern redeten. Allerdings hätten ihr die Kinder | |
auch erzählt, dass die Polizei morgens erst einmal ohne Dolmetscher im Haus | |
gestanden hätte und die beiden Brüder auf Deutsch aufgefordert habe, | |
mitzukommen. | |
Zum ersten Mal getroffen hat die Anwältin die Familie kurz nach ihrer | |
Flucht in den Iran im Juli 2022. Von dort flogen die Eltern und Kinder im | |
Frühjahr 2023 nach Spanien. Für das Land hatten sie [3][schneller ein Visum | |
bekommen als für Deutschland]. „Sie sind nur nach Spanien gegangen, weil | |
sie im Iran nicht mehr sicher waren und die Mutter dringend operiert werden | |
musste“, sagt Canavan. Der Zehnjährige habe zudem eine Herzerkrankung, die | |
behandelt werden musste. Aufgrund der Dublin-Regelung gilt Spanien jetzt | |
als das europäische Einreiseland, in dem die Familie Asyl beantragen muss. | |
Allerdings hätte sie auch dort weder medizinische noch psychotherapeutische | |
Hilfe bekommen, sagt Canavan – und sie hatte eine [4][Zusage der | |
Bundesregierung im Aufnahmeprogramm] für besonders gefährdete Afghan:innen. | |
Daher reiste die Familie im Juni nach Deutschland weiter, wo die Mutter | |
sofort operiert und psychotherapeutisch betreut wurde. Zunächst landeten | |
sie in Neumünster, lebten zuletzt in Kiel. | |
Die nur moralisch, nicht aber rechtlich bindende Zusage der Bundesregierung | |
war der Grund, warum sich Dietlind Jochims, Flüchtlingsbeauftragte der | |
Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, im Oktober in den Fall | |
einschaltete. „Wir haben versucht, mit Behörden und Politiker:innen zu | |
reden und ihnen die Situation erklärt“, sagt Jochims. Der älteste Sohn sei | |
kognitiv eingeschränkt, dies habe ein Psychiater bestätigt. Der 18-Jährige | |
regle alle Anliegen der Familie und kommuniziere mit Ärzt:innen und | |
Behörden. Auch ein Härtefalldossier habe man zusammengestellt. Aber das | |
Bundesamt für Migration habe auf der Ausreise der volljährigen Söhne nach | |
Spanien bestanden – obwohl es in einem Bescheid zum Asylverfahren im Juli | |
geheißen hatte, die Familie werde nicht getrennt. | |
Nachdem am 10. Dezember die Abschiebung der beiden jungen Männer | |
angekündigt worden war, sei eine Gemeinde für ein Kirchenasyl gesucht und | |
gefunden worden, sagt Jochims. „Das anzurühren, war eigentlich immer ein | |
Tabu und ist beschämend.“ Jochims ist nicht die einzige, die der Vorfall am | |
Mittwoch wütend gemacht hat. Die Bischöfin im Sprengel Schleswig und | |
Holstein der Nordkirche, Nora Steen, sagte in einer gemeinsamen | |
Pressemitteilung mit Jochims: „Solch eine bedrohliche und eskalierende | |
Situation wie heute Morgen in Schwerin hat die Familie massiv | |
retraumatisiert und ist unzumutbar.“ | |
## Kirchengemeinden sind verunsichert | |
Der Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern schrieb in einer Stellungnahme, | |
dies sei das erste Mal, dass in dem Bundesland ein Kirchenasyl gebrochen | |
werde. „Das ist ein erschreckendes Signal an Geflüchtete, die in | |
Deutschland Schutz suchen.“ Es richte sich auch an Kirchengemeinden, die | |
nun verunsichert seien, ob sie Geflüchteten weiterhin Zuflucht und Hoffnung | |
bieten können. | |
Die ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ [5][schreibt | |
auf ihrer Homepage] von 455 aktiven Kirchenasylen mit mindestens 643 | |
Personen, davon etwa 105 Kinder. Es handle sich überwiegend um Menschen, | |
die nach dem Dublin-Verfahren in andere europäische Länder abgeschoben | |
werden sollen, in die sie zuerst eingereist sind. Im Juli sei ein | |
[6][Kirchenasyl in Nordrhein-Westfalen gewaltsam geräumt] worden, um ein | |
kurdisches Ehepaar aus dem Irak nach Polen abzuschieben, heißt es auf der | |
Seite. | |
Eine Sprecherin von Schleswig-Holsteins Sozialministerium Aminata Touré | |
(Grüne) schrieb der taz auf Anfrage: „Wir haben uns der Sache angenommen | |
und prüfen sie“. Das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern wollte | |
sich zu dem Vorgehen der Polizei nicht äußern. | |
Hinweis: In einer früheren Version stand, das Innenministerium habe | |
geantwortet, es wolle sich der Sache annehmen. Das trifft nicht zu, wir | |
haben die Stelle korrigiert. | |
20 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Migrationsabkommen-mit-Georgien/!5977838 | |
[2] /Afghanistan-nach-dem-Abzug/!5942088 | |
[3] /Flucht-aus-Afghanistan/!5924749 | |
[4] /Afghanistan-unter-den-Taliban/!5919010 | |
[5] https://www.kirchenasyl.de/ | |
[6] /Nach-Bruch-des-Kirchenasyls-in-Viersen/!5951116 | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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