| # taz.de -- 80 Jahre Befreiung des KZ Auschwitz: Der Krieg und seine Opfer | |
| > Für viele Menschen endet die Landkarte der NS-Verbrechen in Auschwitz. | |
| > Doch auch östlich davon wurden schlimmste Verbrechen verübt. | |
| „Ich habe ein Werk geschrieben über das schauerliche Pogrom in Hoschtsch.“ | |
| Das notierte Perets Goldstejn 1943 in sein Tagebuch. „Das Werk muss | |
| gedruckt und veröffentlicht werden, mit einer Auflage von gar einer Million | |
| Stück.“ Der jüdische Kaufmann aus Wolhynien in der heutigen Ukraine hoffte, | |
| dass die Nachwelt aus dem Terror der Nationalsozialisten lernen würde. | |
| Seine akribische Dokumentation über die Taten der deutschen Besatzer in | |
| seinem Schtetl verfasste er, während er sechs Monate lang auf einem engen | |
| Dachboden zusammen mit zwei weiteren Juden eingepfercht war. | |
| Für viele Menschen in Deutschland endet die Landkarte der Erinnerung an | |
| NS-Verbrechen in [1][Auschwitz]. Unzählige Geschichten, die noch weiter | |
| östlich stattfanden, in den deutsch besetzten Gebieten der Sowjetunion, | |
| sind bis heute nicht erzählt. Wie beispielsweise die von Perets Goldstejn. | |
| Die Namen vieler Orte, in denen schlimmste Verbrechen verübt wurden, sagen | |
| heutigen Deutschen nichts. Hoschtsch, das heute auf Ukrainisch Hoschtscha | |
| heißt, gehört dazu. Es ist eine Kleinstadt, in der damals etwa 1.000 | |
| Jüdinnen und Juden lebten. Gerade einmal 20 von ihnen haben die Besatzung | |
| überlebt. Dieses Hoschtsch ist nur einer von unzähligen Punkten auf der | |
| Karte des Vernichtungskrieges Deutschlands gegen die Sowjetunion. Es gibt | |
| viele Hoschtschs. | |
| Den Blick gen Osten zu lenken, östlich von Auschwitz, das ist das Ziel der | |
| [2][Scroll-Doku „Der Krieg und seine Opfer“]. Sie wurde von dekoder in | |
| Zusammenarbeit mit der Universität Heidelberg erarbeitet. Es geht um die | |
| Geschichten von mehr als 2,5 Millionen Jüdinnen und Juden und auch um die | |
| Erinnerung an Tausende ermordete Roma und Romnja, an die Menschen mit | |
| Behinderungen oder psychischen Krankheiten, an Zwangsarbeiter:innen, | |
| Hungeropfer, Opfer verbrannter Ortschaften, Kinder und Frauen – es geht um | |
| insgesamt circa 14 Millionen ermordete Zivilist:innen und weitere | |
| Millionen von Menschen, deren Leben durch den Krieg zerstört wurde. | |
| Das Thema ist schwierig und komplex zugleich. Schwierig, weil man sich das | |
| Ausmaß der Brutalität und des Leidens kaum vorstellen kann – und vielleicht | |
| auch nicht will. All die Details der Massenerschießungen, wie oft zunächst | |
| die Kinder und dann die Mütter erschossen wurden, oder wie junge Frauen | |
| Opfer sexueller Gewalt wurden, ehe man sie ermordete. So etwas lässt sich | |
| schwer begreifen. | |
| Komplex ist das Thema, weil sich die Schicksale der Opfer im damaligen | |
| großen Weltgeschehen abspielen und ohne Kontext nicht verstanden werden | |
| können. Oder missverstanden werden. Oder instrumentalisiert werden. | |
| Letzteres lässt sich beispielsweise im [3][Angriffskrieg Russlands] gegen | |
| die Ukraine beobachten, wenn russische Politiker ihre Kriegsrhetorik mit | |
| Referenzen auf den „Großen Vaterländischen Krieg“ 1941 bis 1945 glauben, | |
| rechtfertigen zu dürfen. | |
| Komplex ist das Thema zudem, weil viele Menschen, die unter der Besatzung | |
| leben müssen, nicht in ein binäres Täter-Opfer-Schema passen. Wenn sich das | |
| alltägliche Leben plötzlich unter einem Terrorregime abspielen muss, | |
| schrumpft der Handlungsspielraum besonders für Zivilist:innen auf ein | |
| gefährliches Minimum. Dann handelt jede:r unterschiedlich, entwickelt eine | |
| je eigene Agenda und Überlebensstrategie und muss selbst existenzielle | |
| Entscheidungen treffen – womöglich über Leben und Tod anderer Menschen. All | |
| dies gehört zum wichtigen Kriegskontext. Damals wie heute. | |
| Das Projekt „Der Krieg und seine Opfer“ wagt den Versuch, den | |
| Deutsch-Sowjetischen Krieg aus der Perspektive von dessen Opfern zu | |
| erzählen und diese Menschen in historischen Kontext zu setzen. Es ist ein | |
| Versuch, eine neue „Erinnerungsästhetik“ zu entwickeln, die zugleich | |
| emotional und wissenschaftlich fundiert ist. Es will das Ausmaß der | |
| NS-Verbrechen darstellen und den weit östlich ausgetragenen deutschen | |
| Vernichtungskrieg auf der heutigen Erinnerungskarte platzieren. Angefangen | |
| wird mit dem kleinen Hoschtsch im ukrainischen Wolhynien und mit dem Juden | |
| Perets Goldstejn, der das dokumentiert hat. Es geht weiter mit neun | |
| weiteren, nicht oder nur wenig bekannten Geschichten aus den Regionen | |
| Wynnizja und Smolensk, Minsk und Leningrad, Dnipro, Poltawa und Kyjiw. | |
| Trotz seiner flehentlichen Hoffnung wurde Perets Goldstejns | |
| Besatzungstagebuch nicht in Millionenauflage verlegt. Aber wir wollen es | |
| online für die digitale Ewigkeit festgehalten. | |
| Das Projekt wird im Rahmen der Bildungsagenda NS-Unrecht umgesetzt und von | |
| der [4][Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ)] finanziert. | |
| Die [5][taz Panter Stiftung] als weiterer Kooperationspartner bringt mit | |
| [6][dekoder] 15 Journalist:innen und Wissenschaftler:innen | |
| zusammen, die sich am 27. und 28. Januar im taz-Gebäude austauschen werden. | |
| Im Fokus steht die historische Aufarbeitung an der Schnittstelle von | |
| Wissenschaft und Journalismus. In einem Planspiel wird erörtert, welche | |
| Veränderungen in der Erinnerungskultur notwendig sind und welche Lücken in | |
| Forschung und Erinnerung noch bestehen. | |
| Aus Anlass des 80. Jahrestags der Befreiung des KZ Auschwitz laden wir Sie | |
| herzlich zu einer [7][Podiumsdiskussion] am 27. Januar in das | |
| Redaktionshaus der taz in Berlin ein. Wir stellen uns unter anderem diesen | |
| Fragen: Was bedeutet „östlich der Erinnerung“ heute? Und wie wird | |
| Erinnerungskultur derzeit von der russischen Propaganda instrumentalisiert, | |
| um Mobilisierung und Repression im Kontext Russlands Krieg gegen die | |
| Ukraine zu fördern? | |
| Leonid A. Klimov ist Projektleiter von dekoder. | |
| Tigran Petrosyan leitet die Osteuropa-Projekte der taz Panter Stiftung. | |
| Dieser Text ist entstanden im Rahmen von [8][„Der Krieg und seine Opfer“], | |
| ein Projekt von dekoder, unterstützt von [9][taz Panter Stiftung]. Zwei | |
| Podcastfolgen wurden ebenfalls aufgenommen und unter [10][„Freie Rede“] | |
| veröffentlicht. | |
| 24 Jan 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Auschwitz/!t5009473 | |
| [2] https://war.dekoder.org/ | |
| [3] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
| [4] https://www.stiftung-evz.de/ | |
| [5] /taz-Panter-Stiftung/!v=e4eb8635-98d1-4a5d-b035-a82efb835967/ | |
| [6] https://www.dekoder.org/de | |
| [7] /taz-Talk-zur-Erinnerungskultur/!vn6061484/ | |
| [8] https://war.dekoder.org/ | |
| [9] /stiftung | |
| [10] /stiftung/podcasts | |
| ## AUTOREN | |
| Tigran Petrosyan | |
| Leonid A. Klimov | |
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