| # taz.de -- 50 Jahre Kultclub W71: Autochthone Reben | |
| > Aus der Baracke am Bolzplatz wurde ein Jazzclub. Und die Kleinstadt | |
| > Weikersheim verwandelte sich zum Mekka für Musikfans aus Süddeutschland. | |
| Bild: Hotspot von Freejazz, Punk und Noise: der Club W71 in Weikersheim | |
| Dass dieses Gebäude einmal ein Campingplatz-Kiosk war, sieht man heute kaum | |
| noch. Inzwischen ist es modernisiert und darin befindet sich nach einem | |
| kleinen Anbau nun ein renommierter Musikclub. Am Klavier auf der Bühne | |
| sitzt gerade der griechische Jazzpianist Villy Paraskevopoulos und spielt | |
| zusammen mit den österreichischen Künstlern Uli Winter (Cello) und Fredi | |
| Pröll an den Drums. | |
| Es ist eines der ersten Konzerte im Club W71 in Weikersheim seit Beginn der | |
| Coronapandemie, circa 40 Zuhörer:innen sind anwesend. Nur eine | |
| Minderheit kommt aus dem Ort selbst, der Kleinstadt Weikersheim. Viele sind | |
| von weither angereist: aus Nürnberg, Karlsruhe oder Frankfurt. | |
| Weikersheim im Taubertal am Nordostzipfel Baden-Württembergs gelegen, ist | |
| 150 Kilometer von Stuttgart entfernt. Nächstgrößere Stadt ist das | |
| bayerische Würzburg. Längst genießt der Club W71 einen überregionalen Ruf. | |
| „So eine experimentelle Programmauswahl wie hier gibt es in Frankfurt | |
| nicht“, sagt ein Mittvierziger aus dem Hessischen. Trotzdem, die lange | |
| Existenz des Clubs grenzt an ein Wunder. Der Freejazz-Schlagzeuger Paul | |
| Lovens zeigt sich enthusiasmiert: „Einer der wenigen übriggebliebenen guten | |
| Läden.“ | |
| ## Nähe zum Publikum | |
| Solch eine Nähe zum Publikum erleben Musiker:innen inzwischen selten. | |
| Die meisten Auftrittsorte in der Provinz sind längst eingegangen. Beim Club | |
| W71 hat sich dagegen seit Gründung vor 50 Jahren so gut wie nichts an der | |
| Struktur verändert. Immer noch ist es ein selbstverwaltetes Kulturzentrum. | |
| Nur die Mitgliederversammlung entscheidet, die Programmmacher:innen | |
| agieren ehrenamtlich. | |
| Eine der großen Säulen der Organisation ist Norbert Bach, der beim Konzert | |
| des Trios Paraskevopoulos/Winter/Pröll wie üblich an der Wand neben der | |
| Theke lehnt und sich sichtlich freut, dass endlich wieder Livemusik | |
| stattfindet. „Wir machen nur Konzerte, die wir selber hören wollen!“, | |
| erklärt Norbert Bach zur Programmauswahl. Keine öffentlichen Stellen oder | |
| gar Kulturmanager und Sponsoren von außerhalb reden ihnen rein. | |
| Schüler des Gymnasiums und die kleine ortsansässige Gruppe der Jusos | |
| beschlossen im November 1971, dass hier mal etwas geschehen müsse. Auf der | |
| Suche nach einem Veranstaltungsort stieß man auf eine Baracke neben dem | |
| Fußballplatz: Sie war Anlaufstelle eines Campingplatzes gewesen, der Pleite | |
| gemacht hatte, und stand damals leer. Die Initialzündung kam von Frieder | |
| König, einem der Gründungsmitglieder. | |
| ## Der Sache auf den Grund gehen | |
| Er war vertraut mit der Bigbandmusik von Louis Armstrong und Duke Ellington | |
| und geriet beim Jazzfest Frankfurt 1966 in einen Auftritt des Wuppertaler | |
| Freejazz-Saxofonisten Peter Brötzmann, der ihm [1][den Atem stocken ließ]. | |
| So einen Lärm hatte er noch nie gehört. Und seine erste Reaktion war, er | |
| wollte dieser Sache auf den Grund gehen. Dass es so eine Musik überhaupt in | |
| Westdeutschland gab, ließ ihn nicht mehr los. Neugierde auf das Unbekannte | |
| und Randständige: Da lag etwas in der Luft. | |
| Bald sammelten sich in dieser Hütte an der Tauber sämtliche Freaks und | |
| Fantasten, die im Umkreis von fünfzig Kilometern Alternativen zu Blasmusik, | |
| Gesangsverein und Heimatpflege benötigten. Neben Konzerten fanden auch | |
| Vorträge statt, politische Debatten und Ausstellungen mit kubanischen | |
| Plakaten; im Zentrum stand tatsächlich immer der Jazz. Zu den Fixpunkten | |
| gehörte sehr schnell die Westberliner Gruppe um den Pianisten Alexander von | |
| Schlippenbach; dass Peter Brötzmann mit diversen Formationen gastierte, | |
| verstand sich von selbst. | |
| In der Region selbst wurde der Club W71 lange Zeit sehr skeptisch beäugt. | |
| Die Stadt Weikersheim stellte zwar mietfrei das Campinghäuschen, aber als | |
| Zuschuss gab sie nur symbolische 150 D-Mark – pro Jahr! Das ging so bis in | |
| die 1990er Jahre. Man finanzierte die Veranstaltungen ausschließlich durch | |
| Mitgliedsbeiträge, Getränkeerlöse an der Theke und den ziemlich geringen | |
| Eintritt. Und manchmal gelang es, eigentlich unvorstellbare Konditionen für | |
| einen Auftritt herbeizuführen. | |
| ## Riskantes mit den Lokalreportern | |
| So bei einem der sensationellen Ereignisse der frühen Jahre: ein Auftritt | |
| des Yosuke Yamashita Trios aus Japan. Es führte auch zu einem Höhepunkt in | |
| der Beziehung zur Lokalpresse. Meistens funktionierte es so, dass die | |
| Konzertkritik aus den Reihen des Clubs selbst geschrieben wurde. Damit | |
| konnten alle Seiten leben. Riskant wurde es aber, wenn die Redaktion selbst | |
| einen Reporter schickte. Als Paradebeispiel dafür steht bis heute der kurze | |
| Text, den die Bad Mergentheimer Zeitung 1976 unter ein ziemlich blasses | |
| Foto des Yamashita-Trios druckte: „Für Jazzliebhaber mag das vielleicht | |
| ganz interessant gewesen sein, aber es war nichts für vom Alltagsstress | |
| geplagte Nerven!“ | |
| Neben Norbert Bach stehen heute zwei Gymnasiast:innen aus Bad | |
| Mergentheim an der Theke. Mittlerweile haben sie Interesse an der Art von | |
| Livemusik, wie sie hier gespielt wird, und sie erzählen, dass sie zum | |
| ersten Mal in den Club gekommen seien, als der US-Saxofonist Mars Williams | |
| im W71 gastierte. Sie hatten ihn nur aus Rock-Zusammenhängen gekannt und | |
| wollten wissen, was es mit diesem Quintett unter dem Motto [2][„An Ayler | |
| XMAS“] auf sich hatte: [3][Albert Ayler], der radikal-hymnische | |
| US-Saxofonist aus den Sechzigern. | |
| „Es war total abgefahren“, sagt Lena. „Aber das hier ist ja was ganz | |
| anderes.“ Sie wollen jetzt öfter kommen. „Das passiert inzwischen nicht | |
| mehr so oft“, erklärt Norbert Bach. Generationswechsel war immer ein Thema | |
| im Club. Der jeweilige Abitursjahrgang verschwindet größtenteils zum | |
| Studieren in die Städte und macht dem nächsten Platz. Im Lauf der Zeit hat | |
| sich ein harter Kern von Stammgästen gebildet. Manchmal entsteht eine | |
| Gruppe von Jüngeren drumherum, manchmal eher nicht. | |
| ## Jazz und neue Strömungen | |
| Der markanteste Einschnitt kam Anfang der achtziger Jahre. In dieser Zeit | |
| wechselten viele Institutionen, die mit dem Club W71 vergleichbar waren, | |
| grundlegend ihre Ausrichtung oder lösten sich gleich vollständig auf. | |
| Anders in Weikersheim, dort blieb Jazz immer Bestandteil des Programms. | |
| Aber daneben begann der Club damals auch auf neue Strömungen in der | |
| Popmusik zu reagieren, ohne deshalb seine experimentelle Identität | |
| einzubüßen. Die [4][Sendung „Zündfunk“] vom Bayerischen Rundfunk spielte | |
| bei der Geschmackserweiterung eine große Rolle und natürlich das | |
| Musikmagazin [5][Spex]. | |
| Zum zehnjährigen Jubiläum 1981 traten Uli Hundt und die Betablocker auf, | |
| und am 2. Juli 1982 gastierten auf einem Sommerfest Die Toten Hosen. Punk | |
| und Noise wurden damals wichtiger. Zu den Kuriositäten gehört, dass in | |
| Weikersheim bereits am 13. September 1986 der Kabarettist Helge Schneider | |
| auftrat – vor 35 Zuhörer:innen. Spektakulär gerieten Auftritte der | |
| Postpunkband Mekons aus Leeds und von Half Japanese aus New York, die nicht | |
| mal in allen westdeutschen Großstädten spielten. | |
| 1988 erschienen zum ersten Mal FSK als Vertreter:innen der Neuen | |
| Deutschen Welle, im April 1995 spielten Tocotronic in Weikersheim. Ende der | |
| neunziger Jahre kam wegen der großen Begeisterung gleich zweimal die | |
| Hamburger Gruppe Blumfeld für Konzerte. | |
| In der Anfangszeit war „Schorle rot-süß“ das Kultgetränk, erinnert sich | |
| Norbert Bach: „ein schreckliches Gesöff“ – der übliche | |
| Genossenschaftsrotwein mit süßem Sprudel gemischt. Mittlerweile gibt es | |
| „Tauberschwarz“, eine nur hier angebaute autochthone Rebe, von der Lage | |
| „Röttinger Feuerstein“, sieben Kilometer entfernt, im Fränkischen. | |
| Und auch sonst hat sich einiges getan. Aber nach wie vor macht man in | |
| Weikersheim Entdeckungen. In diesem Jubiläumsherbst gibt es trotz Corona | |
| bislang ein „normales“ Programm, mit einem Höhepunkt pro Monat. Am 20. | |
| November findet mit Kuzu aus Chicago ein heimliches Festkonzert statt – | |
| Bandleader und Saxofonist Dave Rempis war bereits sechs Mal im Club zu | |
| Gast. „Wir machen weiter!“, erklärt Norbert Bach. „Und gerade der Jazz | |
| liefert zurzeit wieder sehr spannende Musik.“ | |
| 7 Nov 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Jazzdrummer-Bennink-ueber-Trommelwirbel/!5811976 | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=sDxluGuByY0 | |
| [3] /Blumen-fuer-Albert/!1317461/ | |
| [4] /Dokumentarfilm-Zuendfunk-Radio-Show/!5027867 | |
| [5] /Musikmagazin-Spex-wird-eingestellt/!5543499 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Böttiger | |
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