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# taz.de -- Ausstellung im Stadtmuseum München: Midnight in Munich
> Münchens Nachtleben bei Tageslicht: Wie es der US-Jazz 1947 wieder
> aufleben ließ und wo heute die feiern, die mit der Wiesn nichts anfangen
> können.
Bild: Gäste in der Münchner Discothetk „Blow Up“ 1969
McGraw Army Base. Wie ist der Name einer Kaserne der U. S. Army in München
zu einem Songtitel in New York geworden? Und was hat er mit dem Nachtleben
der bayerischen Landeshauptstadt nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun?
Namensgeber, GI Francis McGraw, starb 26-jährig im November 1944, nachdem
er Wehrmachtstruppen an einer Gegenoffensive in der Endphase des Kriegs
gehindert hatte.
[1][„McGraw Army Base/Munchen“] heißt ein Brachial-Song des New Yorker
No-Wave-Saxofonisten James Chance. Enthalten auf dem Soundtrack zum
US-Undergroundfilm „Grutzi Elvis“, veröffentlicht 1979. Chance wandelt
zusammen mit seiner Freundin Anya Phillips darin auf den Spuren von Elvis
Presley als Soldat in Westdeutschland. Phillips’ Vater war in den 1960er
Jahren bei der U. S. Army in München stationiert. Ein Exemplar der Platte
ist in der Ausstellung „Nachts. Clubkultur in München“ im Münchner
Stadtmuseum nun zu sehen.
Die Schau umfasst den Zeitraum der späten 1940er Jahre bis zur Gegenwart.
„Rote Sonne“, „Blitz“, „Milla“, die Namen aktueller Clubs kennen
wahrscheinlich alle, die in der bayerischen Landeshauptstadt ausgehen. Aber
wer weiß schon, dass das Münchner Nachtleben bereits ab 1947 wieder
erblühte? Dank der US-Militärverwaltung, die den Deutschen Jazz als
Re-Education vom Nationalsozialismus angedeihen ließ.
In Volkshochschulen wurde Jazzmusik unterrichtet, Tanzwettbewerbe wurden
veranstaltet. Im Offiziersclub in der McGraw-Kaserne und in Läden rund um
den Hauptbahnhof traten Jazzmusiker:innen auf. Es entstand ein
Vergnügungsviertel mit Kaschemmen in ebenerdigen Behelfsbauten auf
Trümmergrundstücken. Sie hießen „Havanna Bar“, „Lido“ oder „Baltim…
Ersatz-Amerika, so der Volksmund.
Im [2][Bürgerbräu-Bierkeller] an der Isar in Haidhausen, wenige Jahre zuvor
Schauplatz von Parteiversammlungen der NSDAP, stieg 1949 das „erste
deutsche Jazzmeeting“. Dancecraze statt Schergen-Gebrüll. „Midnight in
Munich“, so der Titel der Radiosendung des US-Senders AFN, wurde ein Motto,
das Konzertveranstalter in der Stadt übernahmen. Fotos jener Zeit zeigen
schlafende Soldaten vor halbvollen Biergläsern um 6 Uhr morgens.
Eine Sperrstunde wurde erst zur Sommer-Olympiade 1972 eingeführt. Im
Bahnhofsviertel begegneten sich Amis, Deutsche, Frauen, Männer, Soldaten,
Zivilbevölkerung, Sexarbeiterinnen, Kriegsheimkehrer und Displaced Persons,
Schwarz und Weiß. Krieg, Gewalt, Entbehrung, Antisemitismus, Rassismus, all
das war bestimmt nicht vergessen.
Aber es wurde ausgeblendet, wenn alle sich in die Nacht stürzten, gemeinsam
der Musik zuhörten und dazu tanzten. Auf historischen Aufnahmen sind Lionel
Hampton, Billie Holiday und Ella Fitzgerald in München zu sehen. Aber auch
lokale Musiker, wie der jüdische Drummer Freddie Brocksieper und
Bigbandleader Max Greger prägten das Nachtleben. Die Fotografin Inge
Löffler porträtiert 1953 Frauen in der Nachtschicht: viel Arbeit, wenig
Vergnügen.
Die Macher:innen von „Nachts“ haben drei Jahre recherchiert und eine
irre Materialmenge zusammengetragen. So ist das Inventar des in der
Innenstadt gelegenen und 2015 geschlossenen „Atomic Cafe“ fast
originalgetreu wieder aufgebaut. Über 20 Jahre fanden dort Konzerte und
DJ-Abende statt.
Dazu ist die Schau immersiv angelegt: Filmausschnitte, Songs,
Klangschnipsel sind in allen [3][Nischen und Räumen] auf der Tonspur zu
hören. Auf einem interaktiven Stadtplan sind Cluborte verzeichnet, und wie
sie über die Jahrzehnte von der Innenstadt an die Peripherie und wieder
zurück gewandert sind.
Draußen in der City zuckt der Spätsommer in München noch und viele, vor
allem junge Leute, kompensieren die erneute, Corona-bedingte Absage des
Oktoberfests mit dem demonstrativen Ausführen ihrer bayerischen Trachten.
Ein bizarrer, vor wenigen Jahrzehnten undenkbarer Anblick.
In den Clubs sind auch heute Trachten nicht gerne gesehen oder sogar
verpönt. Während Corona lag das Münchner Nachtleben weitgehend brach, erst
seit vergangenem Wochenende darf in Clubs wie „Harry Klein“ und „Rote
Sonne“ unter Auflagen wieder getanzt werden.
Sie seien zwar erst mal über den Berg, meint Peter „Upstart“ Wacha,
Betreiber der auch über München hinaus renommierten „Roten Sonne“, doch d…
Pandemie habe Spuren hinterlassen. Statt rauschenden Clubnächten hat man
brav Jahresausstellungen der Münchner Kunstakademie ausgerichtet.
Staatliche Finanzhilfe wurde buchstäblich in letzter Sekunde gewährt. Die
„Rote Sonne“ kam in die Förderung des Spielstättenprogramms (der
oberbayerischen Bezirksregierung), im zweiten Jahr wurde Neustarthilfe
gewährt.
Die Angestellten gingen in Kurzarbeit, während die Fixkosten (Miete!)
nahezu vollständig weiterbezahlt werden mussten. Auch vor Corona war das
Standing von Clubs in München oft prekär. Papierkrieg mit Behörden,
Schilder, die Gäste eindringlich um Ruhe vor der Clubtür bitten, Fotos von
Polizeieinsätzen, das Klischee vom repressiven Freistaat Bayern gibt es
wirklich und kann in seiner ungemütlichen Penetranz in der Ausstellung
begutachtet werden. Zwischennutzung von Gebäuden zwingt die Clubs zu
häufigen Ortswechseln, Nachhaltigkeit ist so kaum zu erreichen.
„Hard to find“ ist der Satz, den Peter Wacha Interessierten aus dem Ausland
entgegnet, wenn die sich nach dem Nachtleben Münchens erkundigen. [4][Wie
schwer es die Münchner:innen] haben, ihr Nachtleben welthaltig zu
gestalten, das kommt in der Schau etwas zu kurz, die vor allem glamouröse
Momente in Szene setzt. „Die Nacht beginnt, wenn der Abend vorbei ist und
breitet sich aus, bis der Morgen graut“ steht bedeutungsschwanger am
Eingang zu den Ausstellungsräumen. Aber lesen lässt er sich nur tagsüber zu
den Museums-Öffnungszeiten.
Dem Treiben in der Nacht erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken, das sei „schon
ein politischer Akt“, steht im Ausstellungskatalog. Was München betrifft,
hat man damit nicht ganz unrecht. Denn sein Nachtleben gilt zwar als
reizvoll, manchen gar als legendär, so, dass das Nachrichtenmagazin Der
Spiegel München einmal zur „heimlichen Hauptstadt Deutschlands“ titelte,
nur die Wertschätzung für die subkulturelle Wühlarbeit, die kommt in der
Stadt oft zu kurz.
An anderer Stelle wird dafür geklotzt: Weil der Hochkulturtempel Gasteig,
mit Konzertsälen, Bibliothek und Volkshochschulräumen, errichtet an der
Stelle, wo einst der Bürgerbräukeller stand, nun generalsaniert werden
muss, hat die Stadt wenige Kilometer flussaufwärts Behelfsbauten auf dem
Grund eines Heizkraftwerks errichten lassen, dieses Wochenende ist
feierliche Eröffnung.
Für 117 Millionen Euro Baukosten wurden fristgerecht an eine unter
Denkmalschutz stehende Trafohalle in Modulbauweise Konzertsaal und weitere
Gebäude angegliedert. Yasuhisa Toyota, der Akustiker, der schon die
Elbphilharmonie beraten hat, wurde verpflichtet, es fehlt an nichts.
Den Konzertsaal mit 1.800 Plätzen kann man dereinst abbauen und anderswo
wiedererrichten. Vielleicht auf dem Mond, wenn das bayerische
Raumfahrtprogramm bis dahin verwirklicht sein sollte!
Bis dahin ist es aber auf der Erde auch noch ganz schön: in der „Roten
Sonne“ in München etwa und der Ausstellung „Nachts“, in der man sich an …
Slipmat „Himmel der Bayern“ erfreuen kann, die im Club „Harry Klein“ auf
den DJ-Plattentellern dreht.
8 Oct 2021
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=_pvKVkM162w
[2] /Johann-Georg-Elser/!1514391/
[3] /Punk-Ausstellung-in-Muenchen/!5782005
[4] /Alternde-Punks/!5448991
## AUTOREN
Julian Weber
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