| # taz.de -- Musik aus Bietigheim-Bissingen: Zwischen Sunshine und Sparsamkeit | |
| > Warum eine schwäbische Kleinstadt HipHop-Talente hervorbringt, beleuchtet | |
| > eine Schau über Popmusik in Bietigheim-Bissingen seit den 1960ern. | |
| Bild: Fachwerkidylle in der Innenstadt von Bietigheim-Bissingen | |
| Fünf Minuten. Kein Mensch braucht in Bietigheim-Bissingen so lange mit dem | |
| Auto von der McDonald’s Schnellrestaurant-Filiale bis zum Bahnhof. Die | |
| Wochenzeitung Die Zeit hatte das so behauptet, im Text „Aus | |
| Bi€tigh€im-Bi$$ing€n“. | |
| Erschienen war dieser im Jahr 2019, anlässlich des damals neu | |
| veröffentlichten Albums „Drama“ vom Bietigheim-Bissinger Rapper Shindy. | |
| Jedes Kulturressort der Republik zerbrach sich zu der Zeit den Kopf | |
| darüber, was da los war, in jener Kleinstadt an der Peripherie von | |
| Stuttgart. | |
| Zwei Jahre zuvor hatten bereits zwei andere Lokalhelden auf sich aufmerksam | |
| gemacht: [1][Erst RIN mit seinen cloudigen Lyrics über Klamotten und | |
| Ljubav, kroatisch für Liebe, auch der zu seinem Heimatort]; kurz danach kam | |
| der Schmuserapper Bausa und schoss mit seinem Song „Was du Liebe nennst“ | |
| ganz nach oben in die Charts und blieb dort erst mal. | |
| ## Bislang unauffällig | |
| Warum ausgerechnet Bietigheim-Bissingen? Wie konnte es sein, dass mit einem | |
| Mal gleich drei erfolgreiche Rapper aus derselben, bislang unauffälligen | |
| schwäbischen Ortschaft kamen? Und das dann auch noch thematisierten? Und | |
| nicht mal von dort wegwollten? | |
| Eben von jener Nahdistanz zwischen McDonald’s und Bahnhof ist in Shindys | |
| Track „Bietigheim Sunshine“ von dem Album „Drama“ die Rede, davon, dass… | |
| diese mit Kickdown zurücklege. Mit voll durchgedrücktem Gaspedal, in irrem | |
| Tempo also. Lohnt sich eigentlich kaum, siehe oben. | |
| Wahrscheinlich war der Zeit-Autor, der darüber in seinem Texteinstieg | |
| schrieb, nicht extra angereist, sondern hatte per Google Maps recherchiert | |
| und sich dann irgendwo zwischen Poststräßle und Möbelhaus Hofmeister | |
| verfranst. Wo man gar nicht vorbeikommt. Das wissen alle, die in | |
| Bietigheim-Bissingen einmal gelebt haben. Oder so wie ich dort aufgewachsen | |
| sind. | |
| ## Wie einst Camouflage oder Pur | |
| Oder wie Shindy. Oder wie [2][die Synthiepopper von Camouflage, die 1984 | |
| ihre ersten Auftritte bestritten]. Oder wie die Schlagerpop-Barden von Pur | |
| noch etwas früher. Eine Frage der Zeit war es, bis die Stadt selbst einmal | |
| dieses merkwürdige, sich über die Genregrenzen und Dekaden gewucherte | |
| Pop-Cluster aufarbeitete. | |
| Bietigheim-Bissingen hat rund 43.000 Einwohner*innen und liegt 20 | |
| Kilometer von der baden-württembergischen Landeshauptstadt entfernt. Es ist | |
| Sitz mehrerer Zulieferer der Automobilindustrie, Fabriken für | |
| Scheibenwischer unter anderem und schuldenfrei, seit Jahrzehnten. | |
| Es gibt eine niedliche Altstadt, in der alle paar Meter eine Skulptur steht | |
| – jede davon in kommunalem Besitz –, eine Städtische Galerie, die einen | |
| Besuch wert ist, eine gepflegte Fußgängerzone und hübsch hergerichtete | |
| Fachwerkhäuser. In dem schönsten und größten davon, dem Hornmoldhaus, einem | |
| Bürgerhaus aus der Renaissance, befindet sich das Stadtmuseum. Und dort | |
| läuft seit einigen Wochen die Ausstellung „BiBi Pop“. Auf ganze 60 Jahre | |
| lokale Popmusikgeschichte blickt diese zurück. | |
| ## Beathochburg Bietigheim-Bissingen | |
| Die Idee für das Projekt entstand bereits 2020 auf Anregung eines | |
| engagierten Bürgers, wurde wegen der Corona-Pandemie aber zunächst | |
| verschoben – auf ein passendes Datum: 2024, 60 Jahre nachdem das | |
| schwäbische Pendant des Hamburger Star Clubs eröffnete und | |
| Bietigheim-Bissingen zur Hochburg der Beatszene avancierte. | |
| Nach einem Aufruf im Lokalblatt wuchs „BiBi Pop“ immer weiter, kleinere | |
| Ausstellungen und diverse Veranstaltungen kamen hinzu, und eine fast 300 | |
| Seiten dicke Publikation, verfasst von einem langjährigen Redakteur der | |
| Lokalzeitung, Jörg Palitzsch, der selbst in den 1970ern als Jungspund | |
| einmal in einer Band mitgespielt hat. | |
| Wer seine Jugend vor Ort verbracht hat, egal wann in den vergangenen 60 | |
| Jahren, für den entblättert sich in der Ausstellung ein Kaleidoskop von | |
| Erinnerungen, an Orte, Bands und Konzerte. Für alle anderen erschließt sich | |
| ein Stück westdeutsche Popgeschichte mit lokalen Besonderheiten, die aber | |
| exemplarisch für viele weitere Regionen steht. | |
| ## Lokal penetrant, überregional relevant | |
| Regionen, in denen sich in Partykellern, Musikschulen und Jugendzentren | |
| etwas von überregionaler Relevanz zusammengebraut hat oder noch braut. So | |
| wie an einer anderen Ecke des Stuttgarter Speckgürtels, [3][etwa in | |
| Esslingen, im Komma, wo unter anderem die Noiseniks von Die Nerven an ihren | |
| Songs herumschraubten]. | |
| Möglicherweise ist es nämlich ein fataler Irrtum, dass Popmusik die | |
| Großstadt als Reibefläche braucht. Vielleicht kann vielmehr gerade die | |
| kehrwochige Beschaulichkeit eines Ortes Talente seiner Bewohner*innen | |
| erst recht hervorlocken; vielleicht, weil die behütete Provinzjugend | |
| zwischen Vorgärten und Bushaltestelle freier darin ist zu entscheiden, was | |
| cool ist, und viel dringender einen eigenen Soundtrack braucht als die | |
| hoch- wie subkulturverwöhnten Teenager aller Metropolen. | |
| „Man ist in der Nähe von Stuttgart, aber doch relativ weit weg“, so | |
| formuliert es Catharina Raible, die Leiterin des Stadtmuseums. „Man | |
| verliert sich nicht, muss sich nicht groß sorgen, und man hat auch nicht | |
| die Konkurrenz, die man woanders vielleicht hätte. Es ist ein bisschen | |
| langweilig. Aber Langeweile fördert ja bekanntlich Kreativität.“ | |
| ## Dann setzte es drei Monate Hausarrest | |
| Shindys Geschichte zieht sie als Beleg heran: In seiner Autobiografie „Der | |
| Schöne und die Beats“, 2016 erschienen, schildert dieser einen | |
| dreimonatigen Hausarrest, eine Strafe, die er mit 13 von seinen Eltern | |
| aufgebrummt bekam und während der er seine ersten 18 Songs komponierte. | |
| Weil ihm so langweilig war. Wo die großen Acts nicht auftreten und die | |
| Popkultur, nach der man sich sehnt, nicht stattfindet, muss man eben selbst | |
| aktiv werden. [4][Ähnliche Gründe wurden in den 1990ern dafür angeführt, | |
| warum Seattle wie aus dem Nichts so viele erfolgreiche Bands | |
| hervorbrachte.] Und auch die kamen meist aus den Vororten. | |
| Vorteil einer Großstadt ist traditionell ihre Infrastruktur, etwa örtliche | |
| Clubs, Labels und Tonstudios. Die Digitalisierung hat solche | |
| Einflussfaktoren minimiert, schließlich kann man seinen Kram jetzt einfach | |
| im Kinderzimmer produzieren und auf Social Media hochladen und so ein | |
| Publikum finden. Shindy etwa dockte schon in frühen Teenagerjahren über | |
| Foren an die HipHop-Szene an. | |
| ## Das JuZe-Tonstudio als Sprungbrett | |
| Bevor es das gab, waren lokale Jugendzentren wichtiger, die es Talenten | |
| erleichterten, sich auszuprobieren. Die Musikinitiative Neckar-Zaber | |
| (MINZ) war in Bietigheim-Bissingen so ein Sprungbrett, von dem man in | |
| Ausstellung und Buch erfährt. Und das Jugendhaus Farbstraße. Proberäume gab | |
| es dort und ein Tonstudio. | |
| Noch wichtiger aber war, dass Bands dort auftreten konnten. Konzerte wurden | |
| in der Lokalpresse angekündigt, man ging oft hin, ohne überhaupt zu wissen, | |
| wer oder was da spielte. Wenn es einem nicht gefiel, hing man halt | |
| stattdessen am Kicker oder an der Theke herum. Nirvana hätte dort auftreten | |
| sollen, damals, Ende 1990, neun Monate vor der Veröffentlichung ihres | |
| Welthits „Smells Like Teen Spirit“, an der 3.000-Mark-Gage, die sie für | |
| ihren Auftritt haben wollten, sei das gescheitert. | |
| Eigene Legenden wurden stattdessen geschaffen. Anfang der 1990er etwa – | |
| leider aus Notwendigkeit heraus – die Konzertreihe „Rock gegen Rechts“. | |
| Deren dritte Ausgabe am 28. August 1993 auf der Wiese am Berufsschulzentrum | |
| war mein erstes Konzert: italienischer Hardcore von Kina, Deutschpunk von | |
| Heiter bis Wolkig, Ska von No Sports. Ich war 11 und fand es großartig. | |
| ## Das Gebäude wurde abgerissen | |
| Über die Jahre fanden sich in der Farbstraße zahllose Hardcore-, später | |
| Metal-Bands. Oder auch die Indie-Band Elektrolochmann, musikalisch irgendwo | |
| zwischen Riot Grrrls und der Stuttgarter Variante der Hamburger Schule | |
| einzusortieren. 2012 wurde das Gebäude abgerissen. | |
| Ein Parkplatz steht jetzt an seiner Stelle. Im neuen Jugendhaus gibt es | |
| zwar auch die nötige Infrastruktur, aber weniger Bands. Erst jetzt mit | |
| „BiBi Pop“ scheint die Attraktivität wieder zu steigen, erzählt Raible, | |
| sogar ehemalige Bands hätten wieder zusammengefunden. | |
| „Bietigheim-Sunshine, wo das Gras grüner ist“, so lautet eine Textzeile aus | |
| „Bietigheim Sunshine“. Noch nicht mal übertrieben ist das. Im Bürgergarte… | |
| der sich an die Altstadt Bietigheims schmiegt, ist das Gras zweifellos | |
| grüner als auf den vertrockneten Wiesen großstädtischer Parkanlagen. Shindy | |
| ist kürzlich dennoch weggezogen. Nach München, aus persönlichen Gründen. | |
| „Kuhkaff“ hat Rapper RIN einen Song auf seinem neuen, noch | |
| unveröffentlichten Album „Nostalgia“ genannt. Falls er Bietigheim-Bissingen | |
| damit meint, dann bestimmt liebevoll. Seit Anfang August ist er auch in | |
| einem Werbespot der Bausparkasse LBS zu sehen. Der Rapper als spießiger | |
| Musterschwabe, der sein Luxusleben zwischen Kaffee und Kuchen, | |
| Gartenzwergen, Minigolf und Aufsitzrasenmäher genießt. Bietigheim-Bissingen | |
| sei seine Wahlheimat, sagt RIN in einem Interview, das man sich in der | |
| Ausstellung anhören kann, es sei ja seine Wahl, dort zu bleiben. | |
| 20 Sep 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Beate Scheder | |
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