| # taz.de -- 25 Jahre nach dem Genozid von Srebrenica: Die nicht vergessen könn… | |
| > Remzija Suljić ist 72 Jahre alt, Emina Krdzic war damals, als es geschah, | |
| > ein Baby. Beide Frauen eint die Präsenz einer furchtbaren Vergangenheit. | |
| Der 11. Juli ist in das kollektive Gedächtnis der Bosniak*innen fest | |
| eingraviert. Egal ob sie den Schrecken vor 25 Jahren miterlebt haben oder | |
| nicht – jede*r erinnert sich genau, wo er oder sie war, als das Unfassbare | |
| geschah: An diesem Tag vor 25 Jahren begann der [1][Völkermord von | |
| Srebrenica]. Mehr als 8.000 Menschen fielen einer serbischen Soldateska zum | |
| Opfer, die Leichen verschwanden in Massengräbern. Es sei ihr 11. September, | |
| sagen manche Bosniak*innen. | |
| Die 25-Jährige Emina Krdzic lebt in Berlin. Doch jedes Jahr versucht sie, | |
| an diesem Datum mit ihrer Familie nach Bosnien zu fahren, an der | |
| Gedenkveranstaltung teilzunehmen und das Grab ihres Vaters zu besuchen, der | |
| während des Krieges ermordet wurde. Trotzdem fängt sie zu lächeln an, | |
| sobald sie von Bosnien spricht: „Ich liebe es, dort zu sein.“ Bosnien | |
| bedeutet für sie Sommer, Urlaub und endlich mit allen problemlos Bosnisch | |
| sprechen zu können. | |
| Auch die 72-jährige Remzija Suljić lebt im Berliner Exil. Wenn sie an | |
| Srebrenica denkt, hat sie oft dieses Geräusch im Kopf. Tokk, tokk, tokk – | |
| das dumpfe Aufprallen der Bretter, wenn die Leichen in die Massengräber | |
| hinabgelassen werden. Wenn über Nacht wieder gestorben wurde. | |
| ## Ein Geräusch, dass Suljić nie vergessen wird | |
| Dieses Geräusch werde sie nie vergessen, weiß Suljić. Sie hat den Großteil | |
| ihres Lebens in Srebrenica im Osten Bosniens gelebt, auf einem Hügel steht | |
| noch heute ihr Haus – verlassen. Dort harrte sie aus, während Soldaten der | |
| Republika Srpska ab 1992 für drei Jahre die Stadt belagerten, bis sie am | |
| 11. Juli 1995 schließlich Frauen von Männern und Jungen trennten und über | |
| 8.000 von ihnen ermordeten. Auch Suljić hat Freunde und Familie verloren, | |
| hat „ihr Srebrenica“ verloren, wie sie es ausdrückt. Ihr Mann war damals | |
| schon tot, die beiden Kinder lebten zu dieser Zeit in Sarajevo und Belgrad. | |
| Nach dem Massaker floh sie nach Berlin, wo sie bis heute mit ihrer Tochter | |
| wohnt. | |
| Remzija Suljić steht mit ihrem grauen, schulterlangen Haar und dunkelblauer | |
| Kostümjacke in der Kochnische des [2][Vereins Südost Europa Kultur]. | |
| Normalerweise laufen an so einem Nachmittag Menschen die knarzenden Dielen | |
| des Mietshauses in Berlin-Kreuzberg entlang, sprechen ihre gemeinsame | |
| Sprache, die nach dem Zerfall Jugoslawiens mal Serbisch, Kroatisch oder | |
| Bosnisch heißt. Heute ist es still, wegen der Coronapandemie ist das | |
| Zentrum geschlossen. Suljić drapiert Erdbeeren, Heidelbeeren und Aprikosen | |
| in Schälchen – nur für die Gäste, sie selbst fastet noch zwei Tage wegen | |
| des Ramadans. | |
| Wie macht ein Mensch weiter, dem sein bisheriges Leben auf so brutale Weise | |
| genommen wurde? Nachdem Krieg, Tod und Leid alles überschattet haben? | |
| Vergisst man, oder spricht man? Suljić hat sich für das Sprechen | |
| entschieden. | |
| Ihr Schweigen hat sie nach ihrer Flucht das erste Mal im zweiten Stock | |
| dieses Hauses gebrochen. Das war 1995, zwei Tage nachdem der Daytoner | |
| Friedensvertrag den Krieg offiziell beendete und zu einem Zeitpunkt, als | |
| sie wie viele andere Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien wieder | |
| dorthin abgeschoben werden sollte. Die Polizei suchte Suljić’ Wohnung auf, | |
| sie traute sich nicht mehr nach Hause, wanderte drei Tage lang in Berlin | |
| umher, bis Bekannte sie zum Verein Südost brachten. Sie fand Hilfe – und | |
| lernte Bosiljka Schedlich kennen. | |
| ## Ein Ort, wo die Überlebenden endlich erzählen können | |
| Schedlich, gebürtige Kroatin, gründete den Verein im Jahr 1991, als in | |
| ihrer alten Heimat Jugoslawien der Krieg auszubrechen drohte. Es gibt viel | |
| zu tun: Bis 1995 fliehen über 350.000 Menschen aus dem Kriegsgebiet nach | |
| Deutschland, 45.000 von ihnen nach Berlin. Für sie wird der Verein zu einem | |
| wichtigen Anlaufpunkt. Denn so wie Suljić haben viele von ihnen Angst vor | |
| einer Abschiebung. Und sie wollen erzählen, was sie überlebt hatten. „Es | |
| gab keinen anderen Ort, zu dem ich diese Menschen hätte schicken können“, | |
| sagt Schedlich. Also hörte sie zu. Jeden Tag. | |
| [3][Bosiljka Schedlich], die eigentlich als Dolmetscherin bei Gerichten | |
| arbeitete, wird zur Traumaexpertin für ihre Landsleute. Etliche | |
| therapeutische Fortbildungen später ist sie sich sicher, dass Menschen, die | |
| so Schreckliches erlebt haben, offen davon berichten müssen. „Wir müssen | |
| uns mit unseren Altlasten beschäftigen, damit sie unsere menschliche | |
| Software nicht beeinflussen.“ Deshalb sei die therapeutische Arbeit so | |
| wichtig. | |
| Schließlich organisieren Schedlich und ihr Team ab Mitte der 1990er Jahre | |
| wöchentliche Gruppensitzungen. Pro Termin kommen bis zu 80 Menschen, die | |
| endlich ihre Erlebnisse aussprechen wollen. Zu Südost können alle kommen, | |
| egal ob Serbe, Kroatin oder Bosniake: „Wir haben nicht gefragt: Wer bist | |
| und woher kommst du, sondern: Was brauchst du?“, sagt Schedlich, die später | |
| für ihre Arbeit das Bundesverdienstkreuz und den Moses-Mendelssohn-Preis | |
| erhält. Wenn sie erzählt, betont die 71-Jährige jedes Wort mit Ruhe und | |
| Nachdruck. | |
| Und so hat Remzija Suljić begonnen zu erzählen. Von jenem Tag, als die | |
| Menschen in ihrer Nachbarschaft in Srebrenica nach tagelangem Beschuss von | |
| den umliegenden Hügeln beschlossen, für die Kinder vor der Schule ein | |
| kleines Turnier zu veranstalten. „Irgendwann denkst du: Sollen sie doch | |
| schießen“, sagt Suljić. „Wir haben das Verstecken nicht mehr ausgehalten.… | |
| An diesem Tag haben die Belagerer Granaten auf den Schulhof geworfen, 75 | |
| Menschen starben, vor allem Kinder. | |
| Seitdem denkt sie oft an einen 13-Jährigen und rechnet im Kopf aus, wie alt | |
| er heute wäre – 38 Jahre. „Ich frage mich manchmal, ob diese Gedanken | |
| jemals ein Ende nehmen werden“, sagt sie. Sie spricht mit fester Stimme und | |
| drückt dabei ihre Hände an die Brust. Manchmal würde sie gerne einen Ruck | |
| mit ihrem Kopf machen, damit er endlich frei wird. Dass sie manchmal in | |
| depressive Stimmungen verfällt, hat sie akzeptiert. Doch seit Corona kommen | |
| diese Phasen nun alle paar Tage. „Die Enge ist wieder da“, sagt sie. | |
| Was hat ihr geholfen, mit dem erlebten Schrecken umzugehen? Bis heute | |
| trifft sich Suljić jede Woche im Verein oder im interkulturellen | |
| Gartenprojekt „Rosenduft“ im Berliner Gleisdreieckpark mit einer Gruppe von | |
| Frauen, die den Krieg erlebt haben. Für Außenstehende klinge ihr Gespräch | |
| manchmal wie ein Streit, sagt sie und lacht. „Wir stehen manchmal so unter | |
| Druck, dass die Stimme laut wird.“ | |
| Jahrelang hat Remzija Suljić auch die Einzeltherapie besucht. Dort hat sie | |
| gelernt, wie schwierig das Sprechen ist, aber wie sehr es erleichtern kann. | |
| Entscheidend aber sei die Gruppentherapie des Vereins Südost gewesen: | |
| „Anfangs dachte ich, mein Leid ist das allergrößte“, erinnert sie sich. | |
| „Aber durch das Zuhören habe ich erfahren, dass jeder aus dieser Gegend | |
| Schreckliches erlebt hat.“ | |
| Wenn Emina Krdzic’ Familie an Geburtstagen zusammenkommt und sich sämtliche | |
| Neffen und Großtanten zu Kaffee und Kuchen in einem Wohnzimmer versammeln, | |
| fühlt sich die 25-Jährige auch oft in eine Gruppentherapiesitzung versetzt. | |
| „Die Themen Krieg und Genozid poppen früher oder später immer auf“, sagt | |
| sie. Das war schon so, als sie noch ein Kind war. Die Älteren schwelgen in | |
| Erinnerungen an damals, als alles noch in Ordnung schien, im kleinen Dorf | |
| Osmače auf einem Hügel südöstlich von Srebrenica, der reichsten Gemeinde | |
| des Landes. Und manchmal kommen bei ihnen die Wut und die Trauer hoch. | |
| Der Großteil von Krdzic’ Familie ist in den 1990er Jahren aus Bosnien | |
| geflüchtet. Nach der Flucht ihrer Mutter quer durch Europa ist sie in einer | |
| kleinen Wohnung zusammen mit den Großeltern und Großtanten mitten in | |
| Berlin-Kreuzberg aufgewachsen. Erst als Krdzic älter wird, begann sie zu | |
| verstehen, was es bedeutet, dass ihr Vater und viele andere | |
| Familienmitglieder getötet wurden, und was das alles mit ihr selbst zu tun | |
| hat. Von manchen Toten ist ihr nicht einmal ein Foto geblieben, ihre | |
| Gesichter sind ihr fremd. | |
| Als ihre Mutter am 13. Juli 1995 in den Bus der UN-Truppen stieg, der sie | |
| am dritten Tag des Massakers aus Srebrenica bringen sollte, und der | |
| serbische Nachbar sie durch die Scheibe erblickte und laut schrie „Tötet | |
| sie!“, lag Krdzic als Säugling in ihren Armen. Dieser Mann lebt noch, das | |
| weiß sie von Bekannten. Krdzic sitzt im Schneidersitz auf einem grauen | |
| Sofa, die blonden Haare fallen ihr glatt über die Schultern. Wenn sie | |
| erzählt, drückt sie ein Kissen an sich. | |
| „Alles Ikea hier“, hatte sie beim Eintreten ins Wohnzimmer gesagt, wo jeder | |
| Gegenstand seinen eigenen Platz zu haben scheint. Ihr Geschmack sei das | |
| nicht, aber ihrer Mutter gefalle es so. Mit ihr lebt Krdzic in der kleinen | |
| Wohnung in Berlin – bis zu ihrer Hochzeit, denn sie ist nach traditionellen | |
| muslimischen Regeln erzogen worden. Auch ihre Studienzeit hat sie hier | |
| verbracht, ihrer Mutter zuliebe hat sie auf ein Jahr Jobben in Spanien | |
| verzichtet. „Sie hängt sehr an mir“, sagt Krdzic. | |
| „Viele Deutsche verstehen nicht, was damals in Bosnien passiert ist“, fährt | |
| sie fort. Warum ihre religiös geprägte Mutter nach dem Tod ihres Vaters | |
| nicht mehr geheiratet hat und sie die einzige Tochter blieb. Warum es diese | |
| Verbundenheit zwischen ihr und ihrer Mutter gibt. Doch ihre Freunde in | |
| Berlin, allesamt aus Bosnien, verstehen das. Mit ihnen trifft sich Krdzic | |
| jede Woche – und zwar nicht mehr wie früher in der Moschee, sondern in | |
| Cafés oder Bars. | |
| ## Traumata pflanzen sich in die nächsten Generationen fort | |
| Bei vielen ihrer Freund*innen wird zu Hause weniger über den Krieg | |
| gesprochen als in ihrer Familie. Doch auch in ihnen lebt das weiter, was | |
| ihre Eltern und Großeltern vor 25 Jahren erlebt haben. Die Psychoanalyse | |
| hat nachweisen können, dass Traumata durch Verdrängung an die nachfolgenden | |
| Generationen weitergegeben werden können. Manche Kinder und Enkelkinder | |
| haben dann selbst mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu kämpfen. | |
| Forschungen zeigen sogar, dass sich Traumata in den Genen niederschlagen | |
| können. | |
| Vielleicht war es Emina Krdzic’ Glück, dass ihre Familie stets offen über | |
| Leid und Verlust während des Krieges gesprochen hat, so dass sie heute nur | |
| wenig davon in sich spürt. Ihre Mutter geht bis heute zu einem auf | |
| Kriegsverbrechen spezialisierten Therapeuten. | |
| Vor Kurzem hat Krdzic ihr Studium in Medienmanagement abgeschlossen und | |
| arbeitet nun als Jüngste und einzige Frau in einem Start-up für | |
| Personalwesen. Mit ihrem Chef gehe sie eher wie mit einem Onkel um, erzählt | |
| sie stolz. | |
| Nur manchmal färbt die psychische Belastung ihrer Mutter auch auf sie ab. | |
| Krdzic nennt das „Stress“: Etwa wenn sie die Trauer ihrer Mutter spürt, | |
| sobald die von ihrer Heimat spricht und wie sehr sie immer zurück wollte, | |
| aber es dort einfach kein lebenswertes Leben mehr gab. Oder wenn die Mutter | |
| zu Beginn der Coronakrise plötzlich Öl und Salz zu hamstern beginnt, weil | |
| sie genau wisse, wie es damals war, während des Krieges ohne diese Zutaten | |
| kochen zu müssen. Oder wenn sie jedes Jahr im Juli, sobald sich der | |
| Jahrestag des Völkermords nähert, als Krankenpflegerin Überstunden macht | |
| und kaum zu Hause ist. „Bei der Arbeit konnte sie schon immer die bösen | |
| Gedanken ausschalten“, sagt Emina Krdzic. „Ich weiß nicht, ob ich noch bei | |
| Vernunft wäre, wäre mir das alles passiert.“ Andere seien verrückt | |
| geworden, hätten sich das Leben genommen. | |
| ## Wenn alles wieder hochkommt | |
| Wenn die Familie zum Gedenktag nach Bosnien fährt, komme bei ihrer Mutter | |
| alles wieder hoch. Dann schimpfe sie ständig über die Lage dort. Die | |
| Konflikte der 1990er sind in Bosnien noch lebendig, der Daytoner Frieden | |
| existiert vor allem auf dem Papier. Eine Traumatherapie haben dort nur die | |
| wenigsten Menschen gemacht: Über das Leid spricht kaum jemand, auch nicht | |
| die nachfolgende Generation, die trotzdem genau weiß, was damals passiert | |
| ist. Und die Täter leben weiterhin nebenan. | |
| Auch Remzija Suljić kehrt jedes Jahr zurück nach Srebrenica, manchmal nimmt | |
| sie auch ihre Enkelin mit. Doch von vielen Angehörigen kann sie kein Grab | |
| besuchen, denn es wurden bisher nicht einmal ihre Knochen gefunden. Auch 25 | |
| Jahre später gelten rund 1.000 Personen als vermisst. Die Täter hatten ihre | |
| sterblichen Überreste von einem Massengrab zum nächsten gekarrt, um die | |
| Spuren zu verwischen. | |
| Heute noch Opfer zu identifizieren, wird von Jahr zu Jahr schwieriger. | |
| Dieser Umstand wiegt für die Angehörigen besonders schwer: Nach | |
| muslimischem Ritus müssen die Toten begraben werden, damit sie Ruhe finden. | |
| Immerhin wird in diesem Jahr ein Junge aus Suljić’ Verwandtschaft beerdigt | |
| – wenn auch nur ein einziger Knochen. | |
| Doch wegen der Coronapandemie können weder Suljić noch Krdzic in diesem | |
| Jahr nach Bosnien reisen. Suljić verbringt den 11. Juli ohnehin lieber im | |
| Berliner Kreis des Vereins Südost. Dieses Jahr werden sie den Tag im Garten | |
| „Rosenduft“ verbringen, wo sie unter freiem Himmel zusammensitzen können. | |
| „Es gibt Menschen, die sagen, man müsse das alles doch langsam mal | |
| vergessen. Ihnen fällt es schwer, uns zuzuhören“, sagt sie. „Aber wir, die | |
| all das erlebt haben, können das nicht.“ | |
| 10 Jul 2020 | |
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| Jana Lapper | |
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