| # taz.de -- Data-Worker und Drecksarbeit: Raus aus der Unsichtbarkeit | |
| > Damit KI und Social Media nutzbar werden, blicken Data-Worker im | |
| > Verborgenen in Abgründe. In Kenia regt sich nun aber Widerstand. | |
| Bild: Die Contentmodera to r*in nen sorgen dafür, dass Gewaltdarstellungen nic… | |
| Nairobi taz | Nach ihrem früheren Ich sucht Veronica Oduor an manchen Tagen | |
| vergebens. Die Person, die immer jeden gegrüßt hat, ist verschwunden. | |
| Stattdessen schiebt sich das Bedürfnis nach Rückzug in den Vordergrund. | |
| Nach Zeit für sich selbst. Wenn andere sich im Alltag mit ihr unterhalten | |
| wollten, spürt sie die Wut in sich aufsteigen. „Ich bin genervt ohne Grund, | |
| werde wütend ohne Grund, manchmal wache ich schon wütend auf“, sagt Oduor. | |
| Es liegt an ihrer Arbeit, meint sie. Dass sie immer seltener ihre | |
| Freund*innen sieht. Dass sie deren Anrufe ignoriert, weil sie sich nicht | |
| bereit fühlt ranzugehen und denkt: „Ich vermassle alles.“ Dass sie einfach | |
| nur schlafen will und die Bilder vergessen, die sich in den Windungen ihres | |
| Gehirns eingenistet haben. | |
| Die Bilder, die sie an ihren Arbeitstagen sieht, sind so verstörend, dass | |
| sie auf keinen Fall im Internet auf [1][Facebook, Instagram] oder | |
| [2][Tiktok] erscheinen dürfen. Oduor aber muss sie sehen, damit sie sie im | |
| Auftrag der Onlineplattformen aus dem Verkehr ziehen kann. Das ist ihr Job. | |
| Den macht die junge Frau in ihren Zwanzigern seit mehreren Jahren. Und das | |
| hat psychischen Folgen. | |
| Social-Media-Netzwerke schreiben in ihren Richtlinien fest, welche Inhalte | |
| nicht auf ihrer Plattform veröffentlicht werden dürfen. Gewaltdarstellungen | |
| etwa oder Pornografie. Wenn eine Nutzerin einen Post online sieht, der doch | |
| in diese Kategorien fällt, kann sie ihn melden. Die Inhalte, die so | |
| markiert wurden, landen dann zur Überprüfung auf dem Bildschirm von | |
| Contentmoderator*innen. | |
| ## Die Menschen im digitalen Maschinenraum | |
| In Kenia überprüfen Hunderte solcher Moderator*innen für große | |
| Tech-Konzerne gemeldete Beiträge aus verschiedenen afrikanischen | |
| Sprachräumen etwa auf Swahili, Amharisch, Tigrinisch, Hausa oder Zulu. | |
| Dafür rekrutieren sie Arbeiter*innen vom ganzen Kontinent in die | |
| kenianische Hauptstadt Nairobi. | |
| Diese Art von Jobs sind Teil der sogenannten Data-Work, Datenarbeit – einem | |
| globalen, prekären Sektor. Denn auch hinter künstlicher Intelligenz (KI) | |
| steckt im Verborgenen noch viel menschliches Tun. Geisterarbeit haben die | |
| Anthropologin Mary L. Gray und der Informatiker Siddarth Suri das genannt. | |
| Die Arbeiter markieren und generieren Daten, mit denen KI dann später | |
| arbeiten kann. Es sind ihre unsichtbaren Eingriffe, die Inhalte in gut und | |
| böse, sicher und gefährlich, einordnen und manche von ihnen imitieren auch | |
| KIs in Bereichen, in denen sie noch gar nicht zum Einsatz kommen. | |
| [3][Nach Schätzungen der Weltbank arbeiten zwischen 154 und 435 Millionen | |
| Menschen], manche hauptberuflich, andere nur ab und zu als Data-Worker. | |
| Insbesondere Kenia ist ein Hub auf dem afrikanischen Kontinent. Aber es ist | |
| auch einer der Orte, an dem in den letzten Jahren die Stimmen der | |
| Arbeiter*innen lauter werden, die versuchen, die Arbeitsbedingungen und | |
| Branche zu verändern. Dafür legten sie sich auch schon mit Meta vor Gericht | |
| an. | |
| Veronica Oduor heißt eigentlich anders, aber ihr echter Name sowie ihr | |
| Arbeitgeber sollen nicht in der Zeitung stehen, aus Angst vor rechtlichen | |
| Folgen und Konsequenzen am Arbeitsplatz. Wenn sich Veronica Oduor zur | |
| Morgenschicht in Nairobi an ihren Arbeitsplatz setzt, die Kopfhörer auf den | |
| Ohren, ist sie allein mit den Inhalten, die von Nutzern gemeldet werden. | |
| Nächstes Video, die ersten Sekunden laufen. Klick. In die Mitte der | |
| Zeitleiste, das Video geht weiter. Klick. Die Entscheidung: Gefährlich oder | |
| unbedenklich? Oft bleiben ihr nicht mehr als 50 Sekunden für den gesamten | |
| Prozess, sie muss die Quote halten. | |
| Nicht alle Inhalte sind bedenklich, aber immer wieder sieht Oduor „graphic | |
| content“, wie sie ihn nennt. Damit meint sie explizite und verstörende | |
| Inhalte: Pornografie, schwere Unfälle, Mord, brutalste Gewalt, Hetze und | |
| Vergewaltigungen. All das, was gegen die Gemeinschaftsrichtlinien der | |
| Social-Media-Plattformen verstößt. | |
| ## Die Quote halten | |
| Zeit für Pausen oder zum Nachdenken gebe es nicht. „Stattdessen sagst du | |
| dir: ‚Ich muss das schnell vergessen. Weitermachen. Die Arbeit beenden.‘ Du | |
| siehst abgetrennte Gliedmaßen und vor dir die 180 Aufgaben, die | |
| abzuarbeiten sind“, sagt Oduor. Als sie Anfang September davon erzählt, | |
| sitzt sie in der Filiale einer großen Kaffeekette in Nairobi. Ihre Stimme | |
| ist ruhig, fast monoton. Abgeklärt. Aber sie will sprechen, in der | |
| Hoffnung, dass sich dadurch etwas ändert. „Vielleicht nicht für mich, aber | |
| für die, die nachkommen.“ | |
| Veronica Oduor Arbeitgeber ist nicht direkt eine Social-Media-Plattform. | |
| Die Konzerne sourcen Arbeitsprozesse wie die Moderation an andere | |
| Unternehmen aus. Gleiches gilt für Arbeitsprozesse im KI-Bereich. Kenias | |
| Regierung will das Land weltweit zur ersten Adresse für solche Firmen | |
| machen. | |
| In den vergangenen zehn Jahren ist der IT-Sektor des Landes um | |
| durchschnittlich 10,8 Prozent pro Jahr gewachsen. Die Datenarbeit soll als | |
| Lösung für die hohe Arbeitslosigkeit – besonders der Jugend – dienen. | |
| Entsprechend setzt deshalb Präsident William Ruto darauf, die | |
| Rahmenbedingungen anzupassen, um die Plattformen und ihre Subunternehmen | |
| ins Land zu locken. | |
| Das Internet hat Arbeit überall auf der Welt flexibilisiert. Die | |
| entstandene Gig-Ökonomie ist bisher aber ein Sektor, der weitgehend | |
| unreguliert ist, insbesondere in Ländern des Globalen Südens. Das und die | |
| generell niedrigeren Lohnkosten nutzen die Tech-Riesen aus. Die Soziologin | |
| und Informatikerin Milagros Miceli, die seit Jahren zu den Data-Workern | |
| recherchiert, beschreibt immer wieder, wie vor allem die digitalen, | |
| selbstständig Arbeitenden den Launen der Plattformen ausgeliefert sind. Sie | |
| müssen sich überwachen lassen. Sie werden nur pro Aufgabe honoriert, egal | |
| wie lange diese dauert. Sie bekommen ihren Lohn teilweise nicht ausbezahlt | |
| oder verlieren Projekte von einem Tag auf den anderen. | |
| ## Die Bilder, die bleiben | |
| Der hohe Leistungsdruck verschärft die Arbeitsbedingungen. Für Oduors | |
| Arbeit kommen nach Steuern etwa 42.000 kenianische Schilling bei ihr im | |
| Monat an, etwa 275 Euro. Bei einer Arbeitswoche von etwa 45 Stunden | |
| entspricht das nicht mehr als 1,52 Euro pro Stunde. Mehr als Mindestlohn in | |
| Kenia, aber immer noch sehr wenig für solch eine belastende Arbeit, | |
| beklagen die Arbeiter*innen. | |
| Wie wichtig Contentmoderation ist, machen die aktuellen Kriege und | |
| Konflikte der Welt, durch die oft nur mehr brutale Bilder im Netz landen, | |
| deutlich. Denn wenn weniger Menschen Gewalt- und Hasspostings sehen, nimmt | |
| das den Inhalten etwas von ihrer Zerstörungskraft. | |
| Oduor erinnert sich an eine Zeit vor wenigen Monaten, in der sie oft | |
| weinte, ohne zu verstehen, warum. Sie hörte auf, sich um ihr Äußeres zu | |
| kümmern, lag nachts wach. Dann sah sie das Bild wieder vor sich: Ein Kind, | |
| das von dem älteren Mann vergewaltigt wird. Oder ein anderes, das einen | |
| Mann zeigte: Im ersten Moment war er am Leben und blickte sie durch die | |
| Kamera an, im nächsten lag er mit abgetrennten Gliedmaßen da. Oduor, die | |
| gläubige Christin ist, weinte und betete: „Gott, ich bin am Ende. Wenn du | |
| mich nicht wieder in Ordnung bringst, bin ich weg.“ | |
| Damals wollte sie kündigen, will es eigentlich immer noch, sagt sie. Aber | |
| sie habe auch Angst davor. Mit psychischen Problemen sei es noch schwerer, | |
| einen neuen Job zu finden. | |
| Als Oduor all das in dem Café in Nairobi erzählt, sitzt ihre kranke Mutter | |
| neben ihr. Seit einigen Monat sind die Mutter und Oduors Bruder bei ihr | |
| eingezogen, eigentlich kommt die Familie aus einem anderen ostafrikanischen | |
| Land. Zusammen kümmern die Geschwister sich um ihre Mutter. Weil es ihr | |
| heute nicht gut geht, hat Veronica Oduor sie mitgebracht zum Gespräch. | |
| Englisch versteht ihre Mutter nicht, sie denkt, ihre Tochter treffe eine | |
| Bekannte. Dass es um die Arbeit geht und was diese genau ist, weiß sie | |
| nicht. Genau wie Oduors Freund*innen, die nicht selbst in der Branche | |
| arbeiten. Sie darf es ihnen auch gar nicht erzählen. | |
| Wie alle der digitalen Arbeiter hat auch Veronica Oduor eine | |
| Verschwiegenheitserklärung unterschrieben. „Aber auch wenn meine Verwandten | |
| es wüssten, sie könnten es nicht verstehen“, sagt Oduor. | |
| ## Psychische Hilfe muss auch ankommen | |
| Die Isolation hindert viele Data-Worker daran, sich psychische Hilfe zu | |
| holen. Aber das will Kauna Malgwi jetzt ändern. Die Nigerianerin ist | |
| klinische Psychologin und selbst ehemalige Contentmoderatorin bei Sama, | |
| einer Outsourcingfirma, die eigentlich einen Fokus auf [4][KI] hat, aber | |
| bis 2023 auch Aufträge für Facebook übernahm. | |
| Seit Kurzem arbeitet Malgwi nun in einem Forschungsprojekt, das sich der | |
| Gesundheit der digitalen Arbeitnehmer*innen widmet. Sie will | |
| insbesondere erforschen, wie die Einbeziehung der Familie in der Behandlung | |
| helfen kann. Zum einen sei die Familie ein Faktor, der viele zurückhalte zu | |
| kündigen. Malgwi erklärt das so: „Für sie hatte man einen guten Job, | |
| schließlich war er in einem Büro. Und du kannst ihnen wegen der | |
| Verschwiegenheitserklärung nicht sagen, dass der Job schrecklich ist.“ | |
| Durch das Forschungsprojekt erhält sie auch selbst mehr Ressourcen, um | |
| Therapien anzubieten. Bisher hat sie unentgeltlich Betroffenen in | |
| Krisensituationen geholfen, oft eher eine Erste-Hilfe-Maßnahme als eine | |
| richtige Therapie. „Manchmal ist das einzige, was ich tun kann, der Person | |
| Geld zu geben, damit sie beim Arzt Medikamente bekommt.“ | |
| Malgwi kennt die Belastung aus eigener Erfahrung. Eine Zeit lang litt sie | |
| selbst unter Panikattacken, war depressiv, nur helfen konnte ihr niemand so | |
| richtig. Auch ihre Ärzt*innen nicht – aus Angst, ihre | |
| Verschwiegenheitserklärung zu verletzen, erzählte sie nicht von ihrer | |
| Arbeit. | |
| ## Traumata können vermieden werden | |
| Dabei ist es nicht so, als wäre für die großen Outsourcingunternehmen | |
| mentale Gesundheit ein ganz neues Thema. Es gibt sogenanntes | |
| Wellnesspersonal, mit denen die Contentmoderator*innen wöchentlich | |
| sprechen könnten, nur sind diese nicht unbedingt geschult etwa im Umgang | |
| mit Traumata. Kauna Malgwi konnte ihnen nicht vertrauen, nachdem sie ihr | |
| manchmal sagten, was Kolleg*innen vor ihr erzählt hätten. Auch Veronica | |
| Oduor geht nicht mehr zu den Stunden, sie würden ihr nicht helfen. | |
| Besserungen zur mentalen Gesundheit sind eine zentrale [5][Forderung der | |
| globalen Gruppe aus Gewerkschaften für Contentmoderator*innen], die | |
| sich unter dem Dach der UNI Global Gewerkschaft vereinigt haben. Neben | |
| existenzsichernden Löhnen und langfristigen Arbeitsverträgen fordern sie | |
| Zugang zu geschulten und in Bezug auf Traumata ausgebildeten | |
| Psycholog*innen, sowie Traumaschulungen für die Moderator*innen und | |
| ihre Vorgesetzten. Es dürfe keine unrealistischen Quoten und | |
| Produktivitätsziele beim Umgang mit den Materialien geben. Außerdem dürften | |
| Arbeitgeber*innen die gewerkschaftliche Organisierung nicht behindern. | |
| Christy Hoffman, Generalsekretärin der Gewerkschaft UNI Global sagt: „Die | |
| Konfrontation mit belastenden Inhalten mag zum Moderieren dazugehören, aber | |
| Traumata müssen nicht sein.“ Andere Branchen, wie Rettungssanitäter, | |
| Polizeibeamte und Kriegsreporter hätten „seit Langem bewährte Maßnahmen zum | |
| Schutz der psychischen Gesundheit eingeführt. Es gibt keinen Grund, warum | |
| Technologieunternehmen ihre Mitarbeiter in ihren Lieferketten nicht in | |
| ähnlicher Weise schützen sollten.“ | |
| ## Kann das nicht die KI? | |
| Wenn das alles so schlimm ist, könnte die Arbeit dann nicht bald eine KI | |
| übernehmen? Teilweise wird sie schon eingesetzt, aber bisher ist sie | |
| schlicht nicht gut genug. Expert*innen gehen außerdem davon aus, dass | |
| sie den menschlichen Blick nie ganz ersetzen kann. Weil Inhalte zu subtil | |
| sind, sich gesellschaftliche Standards ändern und vielleicht auch weil | |
| Kreativität, auch die der menschlichen Grausamkeit, unermesslich ist. | |
| Algorithmen werden nicht immer sicher Folter oder Missbrauch erkennen. Ein | |
| weiteres Problem ist bisher, dass es zu wenig KI-Systeme gibt, die | |
| kulturell und linguistisch differenzieren können. | |
| Und auch das Training der KI hat eigene Tücken. Veronica Oduor hat in einem | |
| solchen Projekt gearbeitet und Tickets mit Inhalten bekommen, vor allem | |
| viele Fakeprofile. Doch auch dort gab es ab und zu verstörende Inhalte. | |
| Aber statt nur schnell die Aufnahmen zu markieren, musste sie der KI genau | |
| erklären, was auf welche Weise gegen die Richtlinien verstößt. | |
| Diese tiefe Auseinandersetzung mit Daten und Bildern sei einer der | |
| grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Data-Labelern, also Menschen, die | |
| Daten für KI markieren oder beschreiben, und den | |
| Contentmoderator*innen der sozialen Netzwerke, erklärt Joan Kinyua. | |
| Sie ist Präsidentin der seit diesem Jahr eingetragenen | |
| Data-Labeler-Vereinigung. | |
| Zwar hätten die Moderator*innen meist in dichterer Zahl mit | |
| [6][verstörenden Inhalten zu tun, aber auch Data-Labeler,] die sonst zum | |
| Beispiel Luftaufnahmen für Drohnentransporte analysieren und kennzeichnen, | |
| könnten damit in einem Projekt zu tun haben. „Manche von uns haben bei | |
| pathologischen Projekten zum Beispiel tödliche Wunden nachzeichnen müssen, | |
| andere haben sich monatelang Pornos angeschaut und analysiert, um | |
| Kategorien für einen verbesserten Suchalgorithmus zu vergeben“, erzählt | |
| sie. | |
| Die Vereinigung habe Kinyua mit zehn anderen Data-Labelern gegründet, sie | |
| kannten sich aus Projekten, an denen sie gemeinsam gearbeitet hatten. Die | |
| meisten Data-Labeler arbeiten selbstständig und meist isoliert von zu | |
| Hause. Am Anfang der Initiative stand ein Aha-Moment bei einem | |
| Forschungsprojekt einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Universität | |
| Stanford. Immer wieder, wenn die Data-Labeler von ihren alltäglichen | |
| Aufgaben erzählten, sagte die Forscherin: „Aber das ist illegal.“ Erst in | |
| diesem systematischen Abfragen wurde Kinyua klar, dass die Probleme und | |
| Herausforderungen, die sie und die anderen Labeler erleben, systemisch | |
| sind. | |
| ## Gemeinschaft und neue Wege, sich zu organisieren | |
| Das Projekt Kinyuas versucht vor allem, direkt die Leben der | |
| Arbeiter*innen zu verbessern. Viele kämen aus den Slums, sagt sie. | |
| Unternehmen wie Sama betonen, sie wollten Menschen aus der informellen | |
| Arbeit holen und eine Chance auf einen festen Job geben. Aber durch die | |
| fehlenden Schutzmaßnahmen bleibt die Arbeit prekär. | |
| Daher ist es gar nicht so einfach die Mitglieder zu organisieren, denn | |
| viele hätten Angst, öffentlich sichtbar zu sein – auch aufgrund der | |
| Verschwiegenheitserklärungen. „Das ist einer der wichtigsten Gründe, warum | |
| wir uns noch nicht wohlfühlen, einer Gewerkschaft beizutreten, dann würden | |
| wir die Leute exponieren“, sagt Joan Kinyua. Also versuchen sie vorsichtig, | |
| eine Gemeinschaft aufzubauen und die Leute aus der Isolation zu holen. Noch | |
| in diesem Jahr wollten sie ein gemeinsames Treffen vor Ort abhalten. | |
| Zugleich wollen sie aufklären über all die Dinge, die sie selbst Stück für | |
| Stück gelernt haben. Sie arbeiten an einem [7][Code of Conduct]. Eine | |
| Verpflichtung für Unternehmen, die sie freiwillig unterschreiben können. Es | |
| ist ein erster Schritt, solange die Gesetze noch nicht so weit sind. „Ich | |
| habe [8][nicht das Gefühl, dass unsere Regierung für uns Menschen da ist], | |
| sondern sich mehr um die großen Firmen kümmert. Also müssen wir selbst für | |
| uns einstehen“, sagt Kinyua. | |
| Manchmal fühle es sich so an, als würde die Regierung glauben, dass wir | |
| gegen sie kämpfen würden oder die Arbeitsplätze hier nicht haben wollten. | |
| „Aber das ist nicht der Fall. Die Frage ist vielmehr, welche | |
| Schutzmaßnahmen diesen Menschen zustehen. Warum schaffen wir nicht zuerst | |
| Richtlinien und Vorschriften und holen dann die Jobs ins Land?“ | |
| Damit zielt sie auch auf ein neues Gesetz ab, dass die Grundlage für | |
| Geschäfte in Kenia modernisieren soll und gezielt Regelungen für | |
| Subunternehmen der Tech-Firmen umfasst. Bei einer Pressekonferenz im August | |
| warfen sie und andere Gig-Arbeits-Organisationen im Land der Regierung vor, | |
| sie hätte sich nicht an den Gesetzgebungsprozess gehalten und das Gesetz | |
| ohne Aussprache mit der Öffentlichkeit im Senat durchgebracht. | |
| Sie sorgen sich, dass durch das Gesetz die Tech-Giganten in Kenia nicht | |
| mehr zu Verantwortung gezogen werden könnten, sondern nur noch die | |
| Outsourcingunternehmen. Deshalb hat [9][Joan Kinyua zusammen mit 35 | |
| weiteren Petentinnen nun Verfassungsbeschwerde eingereicht]. | |
| ## Vor Gericht gegen die Geister, die sie riefen | |
| Das neue Gesetz berührt zudem einen Fall, der aktuell noch gerichtlich | |
| verhandelt wird und zu einem Präzedenzfall im Umgang mit der Gig-Economy | |
| und der Frage zu werden droht: Können internationale Plattformen | |
| verantwortlich gemacht werden? | |
| Die Klage hat Kauna Malgwis ehemaliger Kollege, der Südafrikaner Daniel | |
| Motaung, ins Rollen gebracht. Im Rahmen einer [10][Recherche des | |
| US-Magazins Time hat er 2022 das Schweigen der Data-Worker gebrochen]. In | |
| dem Artikel und später auch in einer Klage prangerte Motaung die Konzerne | |
| Sama und Meta wegen der niedrigen Löhne, undurchsichtiger | |
| Einstellungspraktiken und seiner posttraumatischen Belastungsstörung, die | |
| sich aus der Arbeit entwickelt habe, an. Außerdem wirft er dem Unternehmen | |
| vor, seine Kündigung sei durch seinen Versuch ausgelöst worden, eine | |
| Gewerkschaft zu bilden. [11][Sama widerspricht diesen Vorwürfen]. | |
| Motaungs Fall brachte die Selbstorganisation und die Gründungen von | |
| Gewerkschaften ins Rollen. Schließlich hatte sich jemand getraut, offen | |
| über die Arbeit zu sprechen, trotz der Verschwiegenheitserklärung. Für | |
| Kauna Malgwi hieß das: Sie könnten es auch tun. Sie und über 150 | |
| Data-Worker gründeten 2023 auf ihren Bereich spezialisierte Gewerkschaften: | |
| die African Content Moderators und Tech Worker Union. Sama beendete 2023 | |
| den Vertrag mit dem Auftraggeber Meta, Malgwi und etwa 260 Kolleg*innen | |
| wurden entlassen. Das Unternehmen sagt, dass die Entscheidung nichts mit | |
| den Whistleblowern zu tun gehabt habe, sondern rein geschäftlich war. | |
| Meta hat sich in Reaktion auf die Klage darauf berufen, gar nicht selbst in | |
| Kenia zu operieren und mit dem Argument die Klage gegen sich angefochten. | |
| Das Netzwerk beauftrage lediglich Sama, für die Arbeitsbedingungen seien | |
| sie nicht verantwortlich. Das kenianische Arbeits- wie auch | |
| Berufungsgericht erteilten dem Argument jedoch eine Absage. Auch Metas | |
| Versuch, die Arbeit in Kenia mit einem anderen Subunternehmen fortzusetzen, | |
| scheiterte. Zunächst müsse der eine Fall geklärt werden, bevor Meta bei | |
| jemand anderen das Geschäft weiterführen könne, argumentierte das Gericht. | |
| In der Folge stellte Meta sich in Westafrika, in Ghana, mit einem neuen | |
| Subunternehmen neu auf. Auch dort, hieß es im April im [12][Guardian,] | |
| würden die Anwält*innen einer britischen juristischen NGO eine Klage | |
| vorbereiten, wieder geht es um Bezahlung und [13][psychische Gesundheit]. | |
| Aus diesem Grund will sich die Data-Labeler-Vereinigung genauso wie die | |
| internationale Gewerkschaftsbewegung über Ländergrenzen hinweg | |
| organisieren. Vereins-Sekretär Michael Geoffrey Abuyabo Asia sagt: „Man | |
| kann als Unternehmen nicht hierherkommen, die Rechte der Menschen hier in | |
| Kenia verletzen und wenn man darüber spricht, nach Ghana flüchten. Das | |
| bedeutet, man weiß, dass man etwas Falsches tut.“ Wenn Meta sein Geschäft | |
| in andere afrikanische Länder verlagere, dann käme die Gewerkschaft dort | |
| eben auch hin. Bis 2028 will sie Zweigstellen in allen 54 Ländern Afrikas | |
| haben. | |
| Die Ansätze zur Vernetzung haben schon jetzt reale Folgen. Veronica Oduors | |
| Unternehmen habe zum Beispiel den Beitrag, den die Krankenversicherung | |
| deckt, erhöht. „Gewerkschaften könnten, wenn sie stark würden, wirklich | |
| durchkommen“, sagt sie. „Unser Druck kann etwas bewirken.“ Zuletzt wurden | |
| auch die Pausenzeiten verlängert. Oduor hat nun täglich fast eine Stunde | |
| mehr, um woanders hinzuschauen als auf die Bilder, die sie so schwer | |
| vergessen kann. | |
| 28 Sep 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://transparency.meta.com/de-de/policies/community-standards/ | |
| [2] https://www.tiktok.com/community-guidelines/de/safety-civility | |
| [3] https://openknowledge.worldbank.org/entities/publication/ebc4a7e2-85c6-467b… | |
| [4] https://www.sama.com/blog/building-an-ethical-supply-chain | |
| [5] https://uniglobalunion.org/news/moderation-alliance/?utm_source=chatgpt.com | |
| [6] https://time.com/6247678/openai-chatgpt-kenya-workers/ | |
| [7] https://www.youtube.com/watch?v=gZHfA2Ufr6M | |
| [8] https://time.com/7201516/kenya-president-meta-lawsuits/ | |
| [9] https://drive.google.com/file/d/1HrJdd4gCrNmu8Rf0OuoAf41hw6_6EM_3/view | |
| [10] https://time.com/6147458/facebook-africa-content-moderation-employee-treat… | |
| [11] https://www.sama.com/blog/ethical-and-sustainable-sourcing | |
| [12] https://www.theguardian.com/technology/2025/apr/27/meta-faces-ghana-lawsui… | |
| [13] https://www.thebureauinvestigates.com/stories/2025-04-27/suicide-attempts-… | |
| ## AUTOREN | |
| Adefunmi Olanigan | |
| ## TAGS | |
| wochentaz | |
| Zukunft | |
| Schwerpunkt Künstliche Intelligenz | |
| Arbeitskampf | |
| Plattformökonomie | |
| psychische Gesundheit | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Arbeitsbedingungen | |
| GNS | |
| Reden wir darüber | |
| EU-Kommission | |
| Fake News | |
| Arbeitskampf | |
| Schwerpunkt Künstliche Intelligenz | |
| Digitalisierung | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neue KI-Strategie: EU will bei Künstlicher Intelligenz aufs Tempo drücken | |
| Mehr KI und vor allem mehr europäische KI will die EU-Kommission in | |
| Unternehmen sehen. Der Branchenverband begrüßt das, erwartet aber mehr als | |
| Worte. | |
| Social-Media-App Sora: OpenAI startet einen KI-Fake-Feed | |
| OpenAI, das Unternehmen hinter ChatGPT, startet eine neue Social-Media-App. | |
| Dort können User*innen ausschließlich KI-Videos posten. | |
| Arbeitskampf in der Games-Branche: Welcome to the Bossfight | |
| Die Bedingungen in der Gaming-Branche sind unterirdisch, lange gab es kaum | |
| Widerstand. Nun vernetzt sich eine neue Generation von | |
| Spieleentwickler:innen. | |
| Ausbeutung im Tech-Sektor: Die KI-Revolution frisst ihre Gig-Worker | |
| Große Firmen lagern das Training künstlicher Intelligenz an Subunternehmen | |
| aus. Für die arbeiten weltweit echte Menschen – zu miserablen Bedingungen. | |
| Meta-Mitarbeitende in Kenia wehren sich: „Ohnmacht, Erbrechen und Schreien“ | |
| Sie moderieren Kommentare auf Plattformen wie Facebook – und werden dabei | |
| übel ausgebeutet. Dagegen klagen nun 140 Mitarbeitende des Meta-Konzerns. |