# taz.de -- Ausbeutung im Tech-Sektor: Die KI-Revolution frisst ihre Gig-Worker | |
> Große Firmen lagern das Training künstlicher Intelligenz an | |
> Subunternehmen aus. Für die arbeiten weltweit echte Menschen – zu | |
> miserablen Bedingungen. | |
Bild: Ein soziales Tauschgeschäft: mehr Flexibilität, weniger Sicherheit | |
Es war im Dezember 2024, als John einen Nebenjob suchte, um seine Promotion | |
in Literaturwissenschaft zu finanzieren. Da fiel dem Anfang 30-Jährigen aus | |
dem britischen Brighton eine Anzeige von Outlier auf, einem Unternehmen für | |
künstliche Intelligenz, das Menschen suchte, die am Training von | |
sogenannten Large Language Models oder kurz LLMs mitarbeiten. | |
Outlier, eine US-amerikanische Firma, ist einer der ganz großen Player am | |
KI-Markt. Hauptfinanzier von Outliers Dachgesellschaft Scale AI ist Peter | |
Thiel, der umstrittene ehemalige CEO von PayPal und einst der erste externe | |
Investor bei Facebook. | |
KI-Systeme sind so gut in der Datenverarbeitung, im Programmieren oder beim | |
Imitieren von Gesprächen, weil Menschen die Modelle zuvor angeleitet haben. | |
Johns Aufgabe würde es sein, Aufträge – sogenannte Prompts – für die | |
KI-Systeme zu formulieren und dann zu bewerten, wie korrekt, prägnant und | |
angemessen die Antworten des Modells waren. Dieser Prozess wird KI-Training | |
genannt und dient dazu, die Ergebnisse der Systeme zu verbessern. | |
Das KI-Training ist eine florierende Branche. John bekam den Job, der wegen | |
des Homeoffice ziemlich angenehm schien. Doch das Einstiegsgehalt für eine | |
so zukunftsweisende Branche war überraschend niedrig: etwa 14,30 Euro pro | |
Stunde, was zum damaligen Zeitpunkt nur ein paar Cent über dem britischen | |
Mindestlohn lag. | |
Outlier bezahlte John nicht in der Anlernzeit. Nach drei Monaten hatte John | |
36 Stunden bezahlt gearbeitet und zwölf Stunden mit Schulungen verbracht. | |
Ein Viertel seiner Arbeitszeit blieb also unbezahlt. Damit lag sein | |
Verdienst sogar noch unter dem Mindestlohn. Wenn er mehr Stunden als | |
vorgegeben arbeitete, wurden die Überstunden zu einem geringeren Satz | |
vergütet. Genauso war es, wenn er zusätzliche Arbeit übernahm. Er ließ sich | |
wiederholt für ein Projekt unbezahlt anlernen, nur um dann zu erfahren, | |
dass es nicht zustande kam. John war frustriert: „Aufgewandte Zeit sollte | |
immer angemessen bezahlt werden, egal ob es eine Schulung ist oder nicht.“ | |
Neue Aufgaben bekam er insgesamt nur wenige, mit langen Pausen dazwischen, | |
Unterstützung gab es kaum. „Ich bin immer noch in ihrem System, aber | |
ehrlich gesagt können die mich mal.“ | |
## Hunderte Millionen Menschen arbeiten als Gig-Worker | |
Nicht nur John ging es so. Sehr viele Gig-Worker, die in Europa und den USA | |
am Training großer Sprachmodelle für generative KI arbeiten, werden für | |
Schulungen, Sitzungen, Toilettenpausen, Gespräche mit Vorgesetzten und | |
Urlaub nicht bezahlt. Überstunden werden nicht voll bezahlt. Die Bezahlung | |
auf ein Minimum zu drücken, ist überall in der sogenannten Gig-Economy | |
üblich, in der Selbstständige und Minijobber über eine Onlineplattform | |
kurzfristig kleine Aufträge erhalten. | |
Online-Gig-Work hat sich in der Weltwirtschaft schnell etabliert. Einem | |
[1][Bericht der Weltbank von 2023] zufolge macht Gig-Work mittlerweile | |
zwischen 4,4 und 12,5 Prozent der weltweiten Erwerbstätigkeit aus. | |
Insgesamt gibt es 154 bis 435 Millionen Gig-Worker. | |
Für diese Recherche haben wir mehr als 200 Gig-Worker auf vier Kontinenten | |
kontaktiert und mehr als 50 ausführliche Interviews mit Menschen geführt, | |
die für Outlier und ähnliche Unternehmen arbeiten. Fast alle, mit denen wir | |
gesprochen haben, waren am Training von KI-Modellen beteiligt, etwa indem | |
sie selbst Prompts schrieben oder die Ergebnisse nach Prompts von anderen | |
auswerteten. Für solche Aufgaben können Spezialkenntnisse nötig sein. | |
Weitere Aufgaben der Gig-Worker bestehen darin, „unangemessene“ Antworten | |
zu identifizieren, zum Beispiel Aufrufe zu Gewalt oder andere sensible | |
Inhalte, sachliche oder grammatikalische Fehler oder Verstöße gegen | |
Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften. | |
Outlier-Gig-Worker aus Portugal, den USA, dem Vereinigten Königreich, | |
Argentinien und Deutschland berichten, dass Schulungen und Besprechungen | |
meist nicht bezahlt werden. „Ich verdiene in etwa den Mindestlohn“, sagt | |
ein portugiesischer Sprachspezialist, „aber das variiert von Projekt zu | |
Projekt.“ Wenn er alle Besprechungen sowie Verwaltungs- und | |
Schulungsarbeiten einbeziehe, liege der Verdienst „mit Sicherheit“ unter | |
dem portugiesischen Mindestlohn. Außerdem gebe es keine Sozialleistungen. | |
Andere Outlier-Gig-Worker schätzen ebenfalls, dass ihre Honorare unter dem | |
Mindestlohn liegen: bei etwa 3,50 Euro pro Stunde in Portugal, bei weniger | |
als 4,50 Euro in den USA und bei 6 Euro in Deutschland. | |
Im Vereinigten Königreich steht in einigen Stellenanzeigen von Outlier | |
sogar offen, dass das KI-Training mit weniger als dem Mindestlohn von 12,21 | |
Pfund, etwa 14 Euro, bezahlt wird. Das Unternehmen erklärt zwar, dass für | |
die Einarbeitung oder Überstunden niedrigere Sätze gelten können, lässt | |
aber unter den Tisch fallen, dass diese niedrigeren Sätze im Einzelfall | |
gegen null tendieren können. | |
## Lohndiebstahl, seit Jahren | |
Die Soziologin und Informatikerin Milagros Miceli leitet eine | |
Forschungsgruppe am Weizenbaum-Institut in Berlin, das auf Digitalisierung | |
spezialisiert ist. Miceli hat beobachtet, dass Outsourcingunternehmen schon | |
immer so taten, als ob Schulungen eine Form der beruflichen Qualifikation | |
seien, weshalb Gig-Worker sie als Bonus betrachten sollten, für den sie | |
nicht noch extra bezahlt werden müssten. In etwa wie bei einem unbezahlten | |
Praktikum. Der Unterschied: Die bei den Schulungen erworbenen Fähigkeiten | |
seien außerhalb der jeweiligen Projekte meist nutzlos und könnten nicht auf | |
andere Projekte übertragen werden. „Da Gig-Worker für diesen Teil ihrer | |
Arbeit nicht bezahlt werden, werden sie von den Unternehmen ausgebeutet“, | |
sagt Miceli. | |
Antonio Casilli, Soziologieprofessor am Institut polytechnique de Paris und | |
Autor des Buchs „Waiting for Robots. The Hired Hands of Automation“, | |
spricht in diesem Zusammenhang von Lohndiebstahl, den die Unternehmen und | |
Plattformen seit Jahren begehen. | |
Für eine [2][Studie haben Forscher*innen des Oxford Internet Institute | |
2022 Gig-Worker im Globalen Süden interviewt]. Die Befragten arbeiteten im | |
Durchschnitt 22,7 Stunden pro Woche auf den Plattformen, von denen 7,8 | |
Stunden unbezahlt waren, also etwa ein Drittel. Ein Outlier-Gig-Worker in | |
Indien, den wir interviewten, arbeitete drei Tage lang fünf Stunden pro | |
Tag: „Ich musste zwei Antworten von zwei verschiedenen KI-Modellen | |
analysieren, validieren und vergleichen, die sie auf einen bestimmten | |
Prompt ausgegeben hatten. Als ich ungefähr 5 Dollar verdient hatte, war das | |
Geld nach einer Woche noch nicht bei mir angekommen. Trotzdem habe ich | |
weitergearbeitet, bis ein Honorar von 20 bis 30 Dollar fällig war. Ich | |
wartete auf die Überweisung, bekam aber eine E-Mail, in der ich beschuldigt | |
wurde, gegen die Richtlinien verstoßen zu haben, weshalb mein Konto | |
gesperrt werde. Als ich dagegen protestierte, bekam ich keine richtige | |
Antwort. Meine Arbeit wurde nicht bezahlt.“ | |
Wir haben Outlier darum gebeten, zu den Lohndiebstahlvorwürfen Stellung zu | |
beziehen. Das Unternehmen hat auf unsere Anfrage zwar geantwortet, ist aber | |
nicht auf die von uns gestellten konkreten Fragen eingegangen. | |
Outliers Dachgesellschaft ist Scale AI. Sie wurde 2016 von Alexandr Wang, | |
der damals als amerikanisches Techwunderkind galt, gegründet, um | |
Arbeitskräfte zu vermitteln, die Daten kommentieren und annotieren. | |
Inzwischen ist der Unternehmensschwerpunkt aber das Training von großen | |
Sprachmodellen. | |
## Das Sytem schaut ständig über die Schulter | |
Ein wichtiger Investor von Scale AI ist Peter Thiel, dessen Founders Fund | |
im August 2019 100 Millionen Dollar in Scale AI steckte. Inzwischen sind | |
auch Mark Zuckerbergs [3][Meta] und Jeff Bezos’ Amazon als Investoren | |
eingestiegen. Das Unternehmen war 2024 bereits 14 Milliarden Dollar wert | |
und [4][strebte im März dieses Jahres eine Bewertung von 25 Milliarden | |
Dollar] an. Zu seinen Kunden gehören der europäische | |
Unternehmensberatungsriese Accenture, SAP und das britische Unternehmen | |
Deloitte. Wir haben alle drei Unternehmen um eine Stellungnahme zu ihrer | |
Beziehung zu Scale AI und Outlier gebeten. Keines hat geantwortet. Auch | |
OpenAI, Anthropic und Microsoft gehören zum Kundenkreis, daneben das | |
kanadische Unternehmen Cohere, das Weiße Haus und das US-Militär. | |
Outlier wurde 2023 gegründet und „widmet sich der Förderung generativer KI | |
durch spezialisiertes menschliches Fachwissen“, wie der Geschäftsführer | |
Xiaote Zhu sagt. Nach Angaben des Unternehmens biete es Gig-Workern | |
„flexible, unverbindliche Möglichkeiten zu einem zusätzlichen Einkommen“, | |
was ein Euphemismus für prekäre und ungeregelte Arbeit ist. Outlier | |
bezeichnet seine Gig-Worker sogar beschönigend als „Mitwirkende“. | |
[5][Allein im letzten Jahr hätten Zehntausende aus der ganzen Welt Hunderte | |
von Millionen Dollar bei Outlier verdient, sagt Zhu], was den Eindruck | |
erwecken soll, dass die Milliarden aus dem Unternehmensumsatz zu den | |
Gig-Workern durchgesickert seien. Im Jahr 2023 erklärte Scale AI gegenüber | |
dem [6][Forbes-Magazin] stolz, dass die Firma sich verpflichtet fühle, | |
ihnen „einen existenzsichernden Lohn“ zu zahlen. Auf den warten sie | |
allerdings noch immer. | |
Outlier schirmt seine Kund*innen von den Gig-Workern ab. Kund*innen und | |
Projekte verbergen sich hinter Codewörtern wie „Cabbage Patch“, „Jellyfi… | |
Rubrics“ oder „Laurelin Sun“. Meistens wissen die Gig-Worker nicht, wer d… | |
Kund*innen sind. Sie dürfen noch nicht einmal darüber spekulieren, | |
welches Unternehmen zu einem Projekt gehören könnte, wie ein in Westeuropa | |
ansässiger Sprachspezialist bei Outlier uns berichtet hat. | |
Outlier-Gig-Worker müssen Vertraulichkeitsvereinbarungen unterschreiben, | |
wie sie auch bei ähnlichen Unternehmen üblich sind. Und Outlier verbietet | |
den Gig-Workern, außerhalb ihrer Arbeitszeit über die Einzelheiten der | |
Projekte zu sprechen. | |
Wir konnten ein internes Dokument einsehen, in dem Google als Outlier-Kunde | |
aufgeführt ist, vermutlich für das Training des Gemini-Modells. Da die | |
Namen von Meta, OpenAI und Alphabet in einem kalifornischen | |
Gerichtsverfahren genannt werden, [7][scheinen sie allesamt ebenfalls | |
Kund*innen von Outlier] zu sein. | |
## Kein verlässlicher Arbeitgeber | |
Überstunden sind bei Outlier ganz zugunsten des Unternehmens geregelt. Ein | |
automatischer Timer von Hubstaff, einem Softwareunternehmen für mobiles | |
Arbeiten, überwacht die Gig-Worker und erfasst ihre Arbeitszeit. Sie müssen | |
den Timer anhalten, um Pausen zu machen. Selbst Toilettenpausen werden von | |
der Arbeitszeit abgezogen. Die Bezahlung entspricht zudem nicht der den | |
jeweiligen Aufgaben zugeordneten Zeit. Gig-Worker erzählen davon, dass | |
angeblich in einer Stunde zu bewältigende Aufgaben meistens länger dauern, | |
sodass das Honorar dafür verhältnismäßig niedriger ausfällt. | |
Wenn Gig-Worker mehr Zeit benötigen, können sie entweder die Aufgabe | |
abgeben und werden nicht mehr bezahlt, oder sie arbeiten zu einem | |
reduzierten Satz weiter daran. Viele verfahren dann nach dem Motto „Besser | |
weniger als nichts“ und machen weiter. | |
Falls die Aufgabe nach einer bestimmten Frist immer noch nicht | |
abgeschlossen ist, werden die Gig-Worker überhaupt nicht bezahlt, wie | |
Mitarbeitende aus verschiedenen Kontinenten berichten. Das sei allerdings | |
nicht bei allen Projekten so. Ein promovierter Lehrer aus den USA beschrieb | |
eine solche Situation so: „Ich hatte zwei Stunden damit verbracht, ein | |
Dokument zu überarbeiten. Das System zeigte mir zwei Fehler an, die ich | |
beheben musste, bevor die Zeit ablief. Einen konnte ich entdecken, den | |
anderen aber nicht. Da war nichts zu machen. Die Zeit lief ab, und ich | |
bekam für diese Aufgabe kein Geld.“ | |
Milagros Miceli zufolge ist die Praxis „sehr verbreitet“, angeblich nicht | |
erledigte Aufgaben nicht zu bezahlen. Gig-Worker seien so sehr daran | |
gewöhnt, dass sie es inzwischen nicht einmal mehr als Lohndiebstahl | |
wahrnähmen und sich sagten, dass das in der Gig Economy nun einmal so sei. | |
Ein weiteres großes Problem von Gig-Workern ist der Mangel an verlässlichem | |
Einkommen. Durch ihre steigende Zahl seien Aufträge schwerer zu bekommen. | |
Ein Interviewpartner berichtet: „Manche bleiben die ganze Nacht auf, um | |
sich Aufträge zu schnappen. Manchmal kommt gegen 1 Uhr nachts eine E-Mail | |
rein, in der steht, dass Aufträge verfügbar sind. Aber wenn ich morgens | |
aufwache, sind sie schon weg. Es fühlt sich oft wie ein Wettrennen an.“ Es | |
ist die virtuelle Form des allmorgendlichen Gangs von Tagelöhner*innen | |
zum Werkstor: Wer zu spät kommt, wird ausgesperrt. | |
## Der Widerstand wächst | |
Alle Gig-Worker haben damit zu kämpfen, wenn keine Arbeit verfügbar ist. | |
Einer der Interviewten arbeitet für das in Zypern ansässige malaysische | |
Unternehmen Mindy Support am Training generativer KI-Systeme und berichtet: | |
„Die Honorare sind höher als der Mindestlohn in meinem Land, aber das | |
Auftragsvolumen ist so klein, dass ich davon nicht leben kann.“ Andere | |
Mindy-Support-Gig-Worker kennen das: „Ich liebe es, Daten zu annotieren. | |
Aber manchmal ist einen ganzen Monat lang kein Projekt verfügbar. Ich muss | |
mir wohl bald einen anderen Job suchen.“ Auch Outlier-Gig-Worker in | |
Deutschland beklagen Mangel an Arbeit. Sie müssten lange ohne neue Aufträge | |
oder irgendeine Rückmeldung auskommen, was frustrierend sei. | |
Mira Wallis erforscht die Erfahrungen von Gig-Workern am Berliner Institut | |
für Migrationsforschung. „Wenn die KI-Firma sie nicht mehr braucht, kann | |
das Arbeitsverhältnis von heute auf morgen zu Ende sein“, sagt Wallis. | |
Manche Gig-Worker hätten ihr aber auch gesagt: „Dieser Job gibt mir | |
Sicherheit. Wenn die Wirtschaft in der Krise ist, kann ich immer online | |
arbeiten.“ | |
Fragwürdige Beschäftigungspraktiken sind in der KI-Branche weitverbreitet. | |
Zwei Unternehmen müssen sich gerade in drei großen kalifornischen | |
Gerichtsverfahren verantworten. | |
Im Dezember 2024 hat der frühere Outlier-Gig-Worker [8][Steve McKinney vor | |
dem San Francisco County Superior Court wegen Lohndiebstahls und | |
Irreführung Klage gegen Scale AI eingereicht]. Der Kläger sagt, das | |
Unternehmen beschäftige ein Heer von unangemessen entlohnten und faktisch | |
selbstständigen Auftragnehmer*innen, die mit ihrer Arbeit den Boom | |
generativer KI möglich machen würden. Die in der Klage formulierten | |
Vorwürfe decken sich mit den Angaben der Gig-Worker, die wir interviewt | |
haben: Steve McKinney berichtet von unbezahlten Schulungen, zu knapp | |
bemessener Arbeitszeit und unbezahlten Überstunden. | |
Außerdem wird Scale AI einer „Lockvogeltaktik“ im Einstellungsprozess | |
beschuldigt. Steve McKinney sei ein Lohn von 25 US-Dollar pro Stunde | |
versprochen worden, aber davon habe er nur einen Teil erhalten. Scale AI | |
habe deshalb nicht den Mindestlohn nach kalifornischem Recht gezahlt. | |
## Ein „soziales Tauschgeschäft“ | |
Eine weitere [9][Klage wurde im Januar 2025 eingereicht, ebenfalls in | |
Kalifornien]. In der Klageschrift heißt es, Scale AI habe dem Kläger aus | |
San Diego, der 2024 für Scale AI Daten annotierte, die nach kalifornischem | |
Recht fälligen Überstundenzuschläge und bezahlten Ruhezeiten vorsätzlich | |
nicht gezahlt. Schon im Oktober 2024 hatten frühere Gig-Worker Scale AI, | |
Outlier und HireArt verklagt. Sie hätten gegen Bundes- und Landesgesetze | |
verstoßen, als sie mehr als 500 Gig-Worker ohne die vorgeschriebene Frist | |
von 60 Tagen entließen. Der Fall wurde vor das zuständige US-Bezirksgericht | |
gebracht. | |
In den Outlier-Nutzungsbedingungen steht, dass das Unternehmen den | |
Gig-Workern kein verbindliches Arbeitsvolumen verspreche. Sie übernehmen | |
nach ihrem eigenen Ermessen Aufträge, die sie mit eigenen Geräten | |
erledigen. Die Gig-Worker haben so die volle Flexibilität, und das | |
Unternehmen hat keine Verpflichtungen: Es gibt keinen bezahlten Urlaub und | |
keine Elternzeit, keinen Überstundenausgleich und keine der anderen Rechte, | |
für die Gewerkschaften in den letzten 150 Jahren gekämpft haben. | |
Von daher ist es kaum verwunderlich, dass keine*r der Gig-Worker, mit | |
denen wir sprachen, diese Arbeit als Karrierechance betrachtet. „Es ist | |
eine Verzweiflungstat, um während der Arbeitslosigkeit etwas Geld zu | |
verdienen“, sagt eine Outlier-Sprachspezialistin von der iberischen | |
Halbinsel. Besonders alleinerziehende Frauen oder solche, die Verwandte | |
pflegen, lassen sich darauf ein, da sie diese Arbeit besser mit ihren | |
familiären Verpflichtungen vereinbaren können. | |
Mira Wallis sagt: „Diese Flexibilität kann prinzipiell als neues soziales | |
Tauschgeschäft funktionieren, zu dem die Menschen bereit sind.“ Mehr | |
Flexibilität und Freiheit gegen weniger Sicherheit. „Gig-Worker müssen aber | |
alle negativen Folgen der Plattformarbeit in Kauf nehmen, um sich diese | |
Flexibilität zu bewahren.“ Viele hätten trotzdem Probleme damit, Pflege | |
oder Kinderbetreuung mit der Plattformlohnarbeit in Einklang zu bringen. | |
„Das Homeoffice macht es nicht einfacher. Eine Frau erzählte mir einmal | |
ihre ganzen Probleme bei der Plattformarbeit, nur um am Ende zu betonen, | |
wie frei sie doch sei.“ Der Mangel an ausreichenden öffentlichen | |
Sozialleistungen für alleinerziehende Mütter sei einer der Gründe, die | |
Gig-Work-Anbietern wie Outlier in die Karten spielten. „Für manche | |
Gig-Worker ist es die beste von ausnahmslos schlechten Alternativen“, sagt | |
Wallis. | |
## Weltweite Entfremdung | |
Wenn ein Unternehmen wie Outlier eine Plattform in den USA betreibt, | |
während die Gig-Worker über die ganze Welt verteilt sind, fehlt eine | |
Anlaufstelle, um sich zu versammeln, zu organisieren oder Sammelbeschwerden | |
auf den Weg zu bringen. „Selbst Uber-Fahrer*innen oder | |
Essensausliefer*innen treffen sich auf der Straße“, sagt Milagros | |
Miceli. „Gig-Worker kennen sich nicht, außer vielleicht, wenn sie sich in | |
Facebook-Gruppen austauschen. So können keine Tarifverhandlungen | |
stattfinden.“ | |
Die wahren Nutznießer dieses Modells sind die Techkonzerne, denn sie | |
entziehen sich dadurch der Verantwortung, die sie als Endnutzer der Arbeit | |
der Gig-Worker eigentlich übernehmen sollten. Das Outsourcingunternehmen | |
Samasource wurde von Facebook beauftragt, die Analyse sensibler | |
Onlineinhalte durchzuführen, wozu Bilder von Gewalt gehören. Samasource | |
heuerte Menschen in Kenia an, [10][die seither an posttraumatischen | |
Belastungsstörungen leiden] und die Facebook-Muttergesellschaft Meta | |
verklagten. | |
Die [11][EU-Lieferkettenrichtlinie] verpflichtet Unternehmen, notwendige | |
Maßnahmen zu ergreifen, um in ihren Wertschöpfungsketten schwerwiegende | |
Verletzungen der sozialen Grundrechte zu verhindern. Auch ausgebeutete | |
Gig-Worker könnten dieses Rechtsmittel nutzen. In Deutschland müssen alle | |
Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten bestimmte | |
Menschenrechtsstandards in ihrer gesamten Lieferkette sicherstellen. Wenn | |
ein großes deutsches Unternehmen also ein in San Francisco ansässiges | |
Unternehmen für die Datenannotierung oder den KI-Support anheuert, müssen | |
die Rechte der Vertragsarbeiter*innen des Unternehmens in San | |
Francisco gewährleistet sein. Noch. Denn CDU und CSU wollen das | |
Lieferkettengesetz verwässern. Und auch die EU-Kommission, einige | |
EU-Mitgliedstaaten und Parlamentarier*innen [12][sind momentan dabei, | |
Kernelemente aus der Richtlinie herauszuoperieren]. | |
Generative künstliche Intelligenz wird als Motor für globales Lohnwachstum | |
und Produktivität verkauft. Der KI-Guru Marc Andreessen meint, dass „KI die | |
Welt retten wird“. Die Produktivität der Weltwirtschaft werde explodieren | |
und für Wachstum, neue Branchen, neue Jobs und steigende Löhne sorgen. | |
Mit der Realität von KI-Gig-Workern hat das wenig zu tun. Der Soziologe | |
Antonio Casilli sagt, dass die ganze Debatte über KI und Arbeit von einer | |
falschen Vorstellung ausgehe: „Die Gefahr besteht nicht darin, dass Roboter | |
den Menschen die Arbeit wegnehmen, sondern darin, dass die Menschen für | |
Roboter arbeiten müssen.“ | |
John aus Großbritannien hat inzwischen seine Doktorarbeit über | |
Superschurken in der Literatur begonnen, womit er gut vorankommt. „Für | |
Outlier habe ich nicht noch mal gearbeitet“, sagt er. | |
9 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://openknowledge.worldbank.org/entities/publication/ebc4a7e2-85c6-467b… | |
[2] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/glob.12407 | |
[3] https://www.cnbc.com/2024/05/21/amazon-meta-back-scale-ai-in-1-billion-fund… | |
[4] https://www.cnbc.com/2024/05/21/amazon-meta-back-scale-ai-in-1-billion-fund… | |
[5] https://scale.com/blog/new-era-outlier | |
[6] https://www.forbesmiddleeast.com/innovation/artificial-intelligence-machine… | |
[7] https://webapps.sftc.org/ci/CaseInfo.dll?CaseNum=CGC24620481&SessionID=… | |
[8] https://www.sfgate.com/tech/article/sf-tech-startup-scale-ai-sued-wage-thef… | |
[9] https://techcrunch.com/2025/01/09/scale-ai-hit-by-its-second-employee-wage-… | |
[10] https://www.theguardian.com/world/2024/dec/18/why-former-facebook-moderato… | |
[11] https://commission.europa.eu/business-economy-euro/doing-business-eu/susta… | |
[12] /Pflichten-fuer-Unternehmen/!6092983 | |
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