# taz.de -- Choreografin Ursina Tossi: Wege ins Ungewisse | |
> Grenzen ausloten, überschreiten und Exzesse wagen: Die Hamburger | |
> Choreografin Ursina Tossi setzt das Publikum gern mit auf die Bühne. | |
Bild: Empfiehlt Künstler:innen, sich dem Nicht-Wissen auszusetzen: Choregrafin… | |
Es sind Performances zu den Ursprüngen der Welt und zu den Abgründen der | |
Seele. Sinnlich, organisch und aktionistisch. Sie feiern die Jagd und den | |
Instinkt, die Wut und den Widerstand, sind Strategie, Sehnsucht und Exzess. | |
Die Choreografin [1][Ursina Tossi] hat sich dem Ausloten und dem | |
Überschreiten von Grenzen verschrieben. | |
„Excessive showing“ nennt sie ihr Ensemble, mit dem sie Konzepte von | |
Geschlecht, Spezies, Bild und Körper hinterfragt. In „Revenants“, 2020 am | |
Hamburger Produktionszentrum [2][Kampnagel] gezeigt, erweckte Tossi Figuren | |
aus Geschichte(n) und (Pop-)Kultur (wieder) zum Leben und beleuchtete sie | |
aus einer feministischen Perspektive. | |
„Swan Fate“ (2022) war dann eine Auseinandersetzung mit den kanonischen | |
Bildern des klassischen Balletts und der Gewalt, die in ihnen steckt. Und | |
in „Hell – Eine erotische Bejahung von Tod, Dunkelheit und Katastrophe“ | |
(2023) gaben sich die Performer*innen nahezu infernalen Zuständen hin. | |
Die Zuschauer*innen platziert die in Hamburg und Köln arbeitende Tossi | |
oft ebenerdig auf die Bühne, nah am Geschehen, an den Bewegungen und | |
Emotionen, jenen „Wetterlagen und Atmosphären, durch die wir mit dem | |
Publikum reisen und die unsere Körper transformieren“, wie sie es nennt. | |
Aufgewachsen ist Tossi in den 1980er Jahren im Rhein-Neckar-Delta, in der | |
Nähe von Heidelberg. Erst mit 25 begann sie eine klassische Tanzausbildung | |
an der Ballettakademie Rheinland-Pfalz in Ludwigshafen, parallel dazu ein | |
Philosophiestudium. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihr Abitur nachgeholt und | |
war alleinerziehende Mutter einer siebenjährigen Tochter. „Ich hatte zu | |
viel Energie. Die Entscheidung für den Tanz war eine Konsequenz daraus, ich | |
wollte mich den ganzen Tag bewegen“, sagt sie rückblickend. Und auch, dass | |
die Ausbildung eine ziemlich wilde Erfahrung gewesen sei, „mit den | |
Reglementierungen und der Kritik am Körper“, so Tossi. | |
## Arbeit in der Altenpflege | |
Anfang der 2000er Jahre zog sie nach Hamburg, arbeitete zunächst in der | |
Altenpflege, unterrichtete etwa an der Contemporary Dance School Hamburg, | |
an Universitäten und Hochschulen auch in Nordrhein-Westfalen. Schließlich | |
bahnte sie sich ihren Weg zurück zum Tanz selbst und zur Performance: Ihre | |
ersten Produktionen entstanden auf der freien Hamburger Bühne | |
„[3][Sprechwerk]“, später dann auf Kampnagel. | |
2014 absolvierte sie ihren Masterabschluss in Choreografie am ArtEZ – | |
University of Arts in Arnheim, 2019 wählte die Fachzeitschrift tanz sie zum | |
„vielversprechenden Talent“, und im Jahr 2024 wurde „Hell“ mit dem | |
Tanztheaterpreis Köln ausgezeichnet. Regelmäßig ist Tossi eingeladen zu | |
nationalen und internationalen Gastspielen, zu Vorträgen und Residenzen; | |
sie war Stipendiatin beim Vienna Impuls Dance Festival und Residentin etwa | |
am Tanzhaus Zürich. | |
„Was ist eigentlich der Körper in unserer Gesellschaft? Was kann Körper | |
sein und was nicht?“, das sind zentrale Fragen, wie die 52-Jährige sie in | |
ihren Stücken verhandelt; Fragen, die ihre „aesthetics of access“ | |
antreiben. Besonderes Augenmerk auf Barrierefreiheit und Zugänglichkeit | |
sind ebenso Teil ihrer choreografischen Praxis, wie die künstlerische | |
Audiodeskription oder eine Übersetzung in Deutsche Gebärdensprache ihre | |
Arbeiten begleiten. | |
In der jüngsten Vergangenheit entwickelte sie Performances auch für junges | |
Publikum. Darunter „Fux“ (2021), für das sie 2023 den Kindertheaterpreis | |
Hamburg erhielt und „Die Nashörner“ (Theater an der Parkaue Berlin, 2025). | |
Im kommenden Herbst, ab 30. Oktober, wird „Fühler“ auf der Bühne des | |
[4][Jungen Schauspielhauses] in Hamburg zu sehen sein. Ein Abend, den Tossi | |
in Zusammenarbeit mit den Choreografinnen [5][Antje Pfundtner] und Jenny | |
Beyer entwickelt. Er entsteht im Rahmen von „Shared Leadership in Dance“, | |
einem ganz neuen, erklärt kollaborativen Modell, das die drei Künstlerinnen | |
ins Leben gerufen haben: Banden bilden, Ressourcen teilen, Kräfte bündeln. | |
## Tänzerinnen als sich balgende Meute | |
Voller Kraft und Energie sind Tossis Arbeiten und auch voll | |
verschwörerischem Witz, waghalsig und wild. Oft kommen die Tänzer*innen | |
darin als sich balgende Meute zusammen. Sind sie balzende Vögel, sich | |
beschnuppernde Wildkatzen? Oder Wölf*innen, Hyänen, Chimären? „Sie zeigen | |
nicht nur, dass Tanzen an sich Unkontrollierbares erzeugt“, schreibt sie im | |
soeben erschienenen Buch „Die Philosophie des Tanzens“. Und weiter: | |
„sondern auch, dass die Plastizität ihrer Körper, ihre | |
Verwandlungsfähigkeit und Verwandlungslust neue Möglichkeiten des | |
Körperseins und Zusammenseins erschaffen kann“. | |
Auch davon, dass sie 2017 angefangen hat, ihre Arbeitsweisen „wilding“ zu | |
nennen, schreibt sie in dem Band. „Wilding“ versteht Tossi als | |
Handlungsanweisung, „sich als Künstler*in dem Ungewissen, dem | |
Nicht-Wissen auszusetzen und sich dabei nicht aus den Augen zu verlieren“. | |
Auf der Bühne sucht und findet sie – gemeinsam mit den Tänzer*innen – | |
immer wieder Wege ins Ungewisse, überschreitet Grenzen, wagt Exzesse. In | |
faszinierender Bilddichte entstehen auf diese Weise fließend weich | |
komponierte, pulsierende tableaux vivants, in denen die Tänzer*innen | |
sich in einem gemeinsamen Körper aufzulösen scheinen. Raunend, faunisch und | |
herrlich unberechenbar. | |
21 Sep 2025 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Ullmann | |
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