| # taz.de -- Neuer Intendant der Oper in Hamburg: Die entscheidende Gabe | |
| > Tobias Kratzer ist neuer Intendant an der Staatsoper Hamburg. Er beginnt | |
| > mit einem mutigen Zugriff auf Robert Schumanns „Das Paradies und die | |
| > Peri“. | |
| Bild: Vera-Lotte Boecker und der Chor der Hamburgischen Staatsoper in „Das Pa… | |
| Das weltliche Oratorium „Das Paradies und die Peri“ erzählt von Peri, einem | |
| engelsgleich geflügelten Zwitterwesen zwischen Paradies und Welt: Aus dem | |
| Himmel verstoßen, versucht Peri wieder ins Paradies zu gelangen. Dafür | |
| sucht sie nach einer Gabe, die die Himmelspforten öffnet. Robert Schumann | |
| hat zusammen mit seinem Textdichter Emil Flechsig Anfang der 1840er Jahre | |
| auf dies orientalische Märchen aus Thomas Moores Versepos „Lalla Rookh“ | |
| zurückgegriffen. | |
| Peris Fahnden nach der entscheidenden Gabe führt sie in den Krieg, in | |
| Seuchenzeiten und schließlich zu einem Moment, in dem die ältere Generation | |
| erkennt, was sie nachfolgenden Generationen angetan hat. Naheliegend, dass | |
| [1][Regisseur Tobias Kratzer], neuer Intendant an der [2][Staatsoper | |
| Hamburg], zusammen mit seinem Ausstatter Rainer Sellmaier aus diesen drei | |
| Minidramen in Gestalt einer Nicht-Oper viel zeitgenössische Bezüge | |
| destilliert: Den Krieg, den führen hier Gegenwartsmenschen von der Straße, | |
| angestachelt von einem weißen Mann. | |
| Der sterbende Jüngling aus Schumanns Oratorium ist ein Schwarzer, der es | |
| wagt, sich dem Anführer entgegenzustellen. Der Mord geschieht kollektiv: | |
| mit viel Theaterblut, wovon ein Großteil auf Peri und ihrem weißen Kleid | |
| landet. Der ermordete Jüngling gießt schließlich noch einen großen Eimer | |
| Blut über Peri. Im Publikum erhebt sich eine Dame, schreit immer wieder | |
| „Buh“ und verlässt den Saal. | |
| ## Die vierte Bühnenwand existiert nicht | |
| Kratzer inszeniert bis ins Publikum hinein, die vierte Bühnenwand existiert | |
| nicht. Immer wieder geht das Saallicht an und schwenkt die Kamera über die | |
| Parkettreihen, was ablenkt, zugleich aber auch eine weitere Kommentar-Ebene | |
| einzieht. Etwa, wenn ein schlafender Zuschauer gezeigt wird, neben ihm eine | |
| Frau mit Mundschutz: Verschläft hier jemand die nächste Pandemiegefahr? | |
| Auf der Opernbühne läuft parallel die moderne Seuchenbekämpfung: Ein | |
| Pestkranker kommt zum Sterben in die Quarantäne, seine eigentlich gesunde | |
| Geliebte legt sich zu ihm und stirbt mit ihm. Den letzten Liebesseufzer von | |
| ihr bringt Peri zur Himmelspforte. Ohne Erfolg, das Paradies bleibt | |
| verschlossen. | |
| Mit dem dritten Teil von Schumanns Werk thematisiert Tobias Kratzer recht | |
| plakativ die Klimakrise. Kinder spielen hier unter einer Plastikkuppel: Die | |
| Luft verpesten graudampfende Industrieschlote, die Kinder haben kleine | |
| Flugzeuge, starke Strahlung von außen heizt das Ganze weiter auf. Im | |
| Publikum, herangezoomt von der Kamera, beginnt ein alter Mann bei diesem | |
| Anblick zu weinen. | |
| Peri-Sängerdarstellerin Vera-Lotte Boecker, eineinhalb Stunden präsent auf | |
| der Bühne und bewegend durch ihre existenzielle Interpretation, klettert | |
| jetzt über die Parkettreihen. Im blutverschmierten Hemdkleid hockt sie sich | |
| zum weinenden Mann, sie fühlt mit und reicht im übertragenen Sinne dem | |
| Publikum die Hand. | |
| Ein starker Moment, der die Kraft der Empathie aufscheinen lässt. Und diese | |
| Kraft öffnet Peri schließlich die Himmelspforte beziehungsweise die | |
| Bühnenpforte. Dahinter erwartet sie der Damenchor in Konzertkluft. Und auch | |
| Peri muss ins Konzertkleid steigen, um mitzusingen. Wütend knallt sie die | |
| Notenmappe auf den Boden. | |
| Das Premierenpublikum feierte die Neuinszenierung. Beim Auftritt von Tobias | |
| Kratzer und Team gab es erst noch ein paar Buhrufe, am Ende jedoch durfte | |
| sich auch Kratzer über jubelnde Zustimmung freuen. Ein guter Start für den | |
| neuen Intendanten der Hamburgischen Staatsoper. Der 45-Jährige, gerade von | |
| der Fachzeitschrift Opernwelt gekürt als „Regisseur des Jahres“, will das | |
| Haus stärker als bisher für die Stadtgesellschaft öffnen. | |
| ## Dialog und Überraschung | |
| Das ganze Wochenende gab es rund um die Eröffnungspremiere Angebote: | |
| Musik, Party, Kinderoper. Zugleich tritt Kratzer mit einem ambitionierten | |
| Programm an. Den Premierenreigen prägen neue und selbst kuratierte | |
| Musiktheater-Abende. Im Februar feiert so die Operngroteske „Monster’s | |
| Paradise“ von Komponistin Olga Neuwirth und Librettistin Elfriede Jelinek | |
| ihre Uraufführung. Tobias Kratzer inszeniert das mit Spannung erwartete | |
| Stück ebenso wie eine Produktion mit dem Titel „Frauenliebe und -sterben“. | |
| Als Partner hat Kratzer den neuen Generalmusikdirektor Omer Meir Wellber an | |
| seiner Seite. Der israelische Dirigent stand natürlich bei der Premiere | |
| von Schumanns „Das Paradies und die Peri“ am Pult des Philharmonischen | |
| Staatsorchesters Hamburg. Der freundlich provozierenden Inszenierung | |
| entsprechend, liefern Meir Wellber und das Orchester eine energiegeladene | |
| Interpretation. An wenigen Stellen war das Orchester am Premierenabend zu | |
| laut und überdeckte den Sologesang. Aus dem insgesamt sehr überzeugenden | |
| Ensemble ragen Eliza Boom, Kai Kluge und Christoph Pohl heraus. | |
| Mit diesem Eröffnungswochenende haben Kratzer und sein Team einen neuen Ton | |
| gesetzt. Die Zeichen stehen auf Dialog und Überraschung. Eine | |
| vielversprechende Kombination – jetzt muss nur die Stadtgesellschaft | |
| mitziehen. | |
| 30 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dagmar Penzlin | |
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