| # taz.de -- Saisonstart am Hamburger Thalia-Theater: Früher war mehr Lametta | |
| > Jarka Kubsovas „Marschlande“ und „Frommer Tanz“ nach Klaus Mann laufe… | |
| > Hamburger Thalia Theater. Verantwortlich ist die neue Intendantin Sonja | |
| > Anders. | |
| Bild: Techno meets Cabaret plus Pfeffersäcke: Szene aus „Frommer Tanz“ am … | |
| Mitten hinein in Hamburgs Mitte ist sie gezogen. Zurück in die Heimatstadt. | |
| Dafür wird die erste Intendantin des Thalia Theaters, Sonja Anders, nach | |
| 182 Jahren männlicher Regentschaft am Gerhard-Hauptmann-Platz gefeiert. | |
| Dass Bühnenkunst nicht dem angstvollen Zeitgeist in die Depression folgen, | |
| sondern handlungsmächtig machen soll, bringt die 60-jährige Anders als | |
| Haltung ihrer Intendanz am Schauspiel Hannover (2019–2025) mit in die | |
| Hansestadt. | |
| Dort stehen nun Menschen im Widerstreit mit klassisch überholten | |
| Geschlechterrollen im Scheinwerferlicht. Mit einem verzweifelten Vertreter | |
| der Zwischenkriegsjugend, Klaus Mann, wird zum Coming-out-Furor „Frommer | |
| Tanz“ geladen. | |
| Die Identifikationsfigur in Jarka Kubsovas „Marschlande“ wählt fürs | |
| Empowerment [1][den entgegengesetzten Weg von Sonja Anders]: Raus aus der | |
| Mitte Hamburgs, Umzug aufs Land. Britta (Cathérine Seifert) lässt sich | |
| jedenfalls von ihrem Gatten überreden, 20 Kilometer südlich in Ochsenwerder | |
| zu wohnen, dem Gemüse- und Blumengarten sowie Radlerparadies der | |
| Metropolregion. | |
| ## Boulevardtheater mit Humormangel | |
| Dafür hat die promovierte Geologin ihr Berufsleben aufgegeben. | |
| Überraschenderweise ist sie dann überrascht, als reine Care-Arbeiterin die | |
| urban verankerte Identität einer modernen Akademikerin zu verlieren. | |
| [2][Was Regisseurin Jorinde Dröse recht oberflächlich skizziert – mit | |
| Boulevardtheater, das unter akutem Humormangel leidet]. | |
| Für den sozialgeschichtlichen Überbau recherchiert Britta die historische | |
| Biografie von Abelke Bleken (Nellie Fischer-Benson). Die Ochsenwerder | |
| Bäuerin bewirtschaftete im 16. Jahrhundert allein mit ihrem Gesinde höchst | |
| erfolgreich einen großen Hof. Auf der Bühne neidvoll beachtet von der | |
| ausnahmslos böswilligen Männerwelt. Bald nutzt der politische Mächtige vor | |
| Ort eine Naturkatastrophe, um Abelke in den Ruin zu treiben; die kirchliche | |
| Macht klagt Abelke der Hexerei an – lässt sie also foltern und ermorden. | |
| Die monetäre Macht des aufstrebenden Hamburger Pfeffersacktums kauft dann | |
| günstig Land und Hof und den des Nachbarn gleich noch mit, um in großem | |
| Stil agrarindustriell Gewinne zu erwirtschaften. Aus dem Feudalismus | |
| erblüht der Kapitalismus. These: Mit den Hexenprozessen startete die | |
| „Wertanhäufung auf der einen Seite und Zurückdrängung von vormals | |
| unabhängigen Frauen in die häusliche Sphäre auf der anderen Seite!“ | |
| ## Lehrstückhafte Behauptung | |
| Klingt theoretisch – und bleibt leider lehrstückhafte Behauptung. Entzücken | |
| soll die aus poetisierenden Naturbeschreibungen des Romans entwickelte | |
| Figur „Land“. Als Diva kommt sie im mondänen Glitzerkleid daher, eröffnet | |
| den Abend als Windgeräuschemacherin, belebt die Atmosphäre auch mit | |
| vogeligem Tirilieren – und behauptet, sie sei Zweig, wucherndes Moos, See, | |
| Schwarzerle, Herbstanemone, Libelle, Haut, pochendes Herz, ja, spendable | |
| Mutter Erde und zerstörerisch „böse Böe“, alte Wahrheit, „eure Nemesis… | |
| So quatscht sie ständig dazwischen, biedert sich an und kuschelt sich an | |
| die Protagonist:innen und zaubert mit Kitschpathos und numinosem Gehabe | |
| ihre Worte in deren Köpfe. „Bin weibliches Kollektiv.“ Dem verschreiben | |
| sich die Frauen und platzieren Erde weihevoll auf dem Bühnenboden. Ein eher | |
| esoterischer Schulterschluss wider das Joch des Patriarchats. | |
| Theatral freizügiger, aber ähnlich lehrstückhaft bringt Regisseur Ran Chai | |
| Bar-zvi [3][das Alter Ego Klaus Mann]s, Andreas Magnus (Julian Greis), zur | |
| Erkenntnis, der großbürgerlich eitlen Lebensakkuratesse seiner Familie | |
| entfliehen zu müssen. Auf einer grotesk blasierten Geburtstagsfeier seines | |
| Vaters ist er ein unsicher stotternder, vergeblich um Aufmerksamkeit | |
| buhlender Sohn. Der braucht daraufhin nur kaltes Wasser im Gesicht – und | |
| ist bereit für den Aufbruch ins Berlin der 1920er Jahre, das am Thalia als | |
| Mix aus Cabaret- und Technoclub-Szene zu erleben ist – in einem fantastisch | |
| funkelnden Lamettaraum. | |
| ## Körperkult der Nazis | |
| Die Regie rückt zwar den parallel entwickelten Körperkult der Nazis ins | |
| Bild und erwähnt die „faschistische Infektion“, lässt aber im zeitlos | |
| „schweifenden Unrast“ einer allgemeinen Orientierungslosigkeit spielen. | |
| Andreas lernt mit seiner Bohème-WG des Leibes Lüste genießen, klärt | |
| irgendwie das „Rätsel seines Geschlechts“ und kann mit dem nun | |
| entdisziplinierten Körper auch Homosexualität wie selbstverständlich | |
| ausleben. Blöderweise aber verliebt er sich romantisch grenzenlos in den | |
| egoistischen Niels, der später zum „Lustjungen von ganz Paris“ auf- oder | |
| absteigt, je nach Sichtweise. | |
| Um so etwas wie sich selbst nahe, zu einer inneren Ruhe zu kommen, brauchte | |
| Britta ein historisches Vorbild und den mühsamen Kampf gegen ihre lauwarme | |
| Ehe, Andreas hingegen den schmerzhaften Parforceritt einer ins Leere | |
| laufenden Leidenschaft und den hedonistischen Exzess des metropolitanen | |
| Nachtlebens. Britta findet Halt im „weiblichen Kollektiv“, Andreas bleibt | |
| selbstermächtigt allein zurück. Entspannt sitzt er am Ende vorm Publikum | |
| und verkündet betont unterbetont: „Ich liebe des Menschen Leib. Ich glaube | |
| an diese Welt.“ Jetzt kann für beide das richtige Leben im falschen | |
| beginnen … | |
| 26 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Fischer | |
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