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# taz.de -- Neue Weltordnung: Das Ende des Westens
> Die USA ersetzen Stärke des Rechts durch Recht des Stärkeren – und die
> Achse zwischen Washington und Europa bricht. Europa muss sich neu finden.
Bild: Europa braucht neue Bündnispartner
Im US-Wahlkampf 1916 warben die Demokraten mit dem Slogan „Er hat uns aus
dem Krieg herausgehalten“. Gemeint waren der Krieg in Europa und Präsident
Woodrow Wilson, der skeptisch gegenüber globalem Engagement war. Das
schloss keineswegs aus, in Nachbarstaaten zu intervenieren. Die USA
operierten in Wilsons Amtszeit in Haiti, Nicaragua, der Dominikanischen
Republik, Mexiko. Die USA maßten sich laut der Monroe-Doktrin das Recht an,
als Regionalmacht willfährige Regime zu installieren. 1917 Wilson änderte
seine Meinung und schickte zwei Millionen Soldaten nach Europa. Der
Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg besiegelte die Niederlage des
Deutschen Reiches – und war der Beginn des amerikanischen Jahrhunderts.
Wilson war überzeugt, dass „die göttliche Vorsehung“ die „friedfertigen…
Vereinigten Staaten beauftragt hatte, global „für Freiheit und
Menschenrechte“ zu streiten. An die Stelle des zerfallenden osmanischen und
Habsburger Reiches sollten Demokratien, Kapitalismus und nationale
Selbstbestimmung treten. Hunderttausende feierten den US-Präsidenten im
Dezember 1918 in Frankreich als Retter. Die Umsetzung von Wilsons forschem
14 Punkteprogramm, gedacht als gerechter Frieden, erwies sich angesichts
der komplexen europäischen Wirklichkeit als schwieriger als gedacht. Der
französische Ministerpräsident Georges Clemenceau bemerkte bei den
Friedensverhandlungen in Versailles spitz, Wilson führe sich auf wie Gott –
der habe aber nur zehn Gebote erlassen, der US-Präsident gleich 14.
Woodrow Wilson verkörperte jene Mixtur aus Machtwillen und Idealismus,
überlegener Feuerkraft und messianischer Moral, die für die USA in den
folgenden hundert Jahren charakteristisch sein sollte. Sein politischer
Traum, die Gründung des Völkerbunds, der künftig Kriege durch ein Regelwerk
überflüssig machen sollte, scheiterte: Der US-Senat lehnte den Beitritt der
USA ab. Schon im Moment des Aufstiegs der USA zur globalen Hegemonialmacht
war die Spannung zwischen Universalismus und nationalem Egoismus, zwischen
Vernunft und religiöser Verklärung spürbar.
## Imperiale Überdehnung der USA
Das [1][amerikanische Jahrhundert ist] vorbei. Die USA sind im Stadium
jener imperialen Überdehnung angekommen, die, wenn man dem britischen
Historiker Paul Kennedy folgt, zyklisch den Aufstieg von Großmächten
beendet und deren Verfall einleitet.
Es gibt in diesem Prozess ein paar zentrale Stationen, etwa den illegalen
Angriffskrieg gegen den Irak 2003. Der damalige Präsident George W. Bush
war, wie Wilson 1916, erst skeptisch gegen einen Kriegseinsatz, dann folgte
er der Hybris der Neocons und glaubte, die göttliche Vorsehung werde den
Irak mit US-Bomben in eine blühende Demokratie verwandeln. Der klägliche
Rückzug aus Kabul 2021 und das Desaster in Bagdad zeigten, dass die USA mit
der Rolle des Weltpolizisten überfordert waren.
Das Ende der globalen US-Vorherrschaft hat früher, unblutig und sachlich,
begonnen – mit dem Beitritt China zur Welthandelsorganisation WTO 2001. Der
politische Westen, die USA und Europa produzierten 2001 mehr als 40 Prozent
aller Waren und Dienstleistungen weltweit, China damals nur drei Prozent.
Heute ist der Anteil der USA und der EU auf je 14 Prozent gesunken, der
chinesische hat sich auf 20 Prozent vervielfacht. Die Wohlstandsexplosion
in China hat das globale Machtgefüge tiefer und radikaler verändert als
jeder Krieg.
## Abgehängt wie Großbritannien
Einen solch atemberaubend rasanten Aufschwung gab es Ende des 19.
Jahrhunderts schon einmal. Damals überholten die USA und das Deutsche Reich
in extrem kurzer Zeit Großbritannien bei der Stahlproduktion. Das kündigte
den Niedergang des britischen Empires und den Beginn des amerikanischen
Jahrhunderts an. In gewisser Weise wiederholt sich diese Figur. Die USA
heute ähneln mit sinkenden Patenten und gigantischer Verschuldung dem
damals im Abstieg befindlichen britischen Weltreich, China mit seinem
Innovationsgeist und machtpolitischen Ambitionen den einst aufstrebenden
USA.
Es mag nahe liegen, den aktuellen Präsidenten mit seiner Mischung aus
Autoritärem und intellektueller Dürftigkeit, Selbstüberschätzung und
Kurzsichtigkeit für den Autor des Niedergangs der USA zu halten. Doch das
ist analytisch falsch und politisch illusionär. Donald Trump ist das
Symptom dieses Niedergangs.
Die Kosten, den globalen Garanten der liberalen Weltordnung zu spielen,
sind mit dem Aufstieg Chinas für die USA schlicht zu hoch geworden. Die USA
verfügen zwar als einziger Staat über ein globales Netz von
Militärstützpunkten. Sie geben mehr Geld für Rüstung aus als alle anderen
Nato-Staaten, China und Russland zusammen. Aber sie sind ökonomisch eine
Macht im Niedergang.
Trump ist eine weiten Teils deformierte Antwort auf Probleme, auf die die
liberalen Eliten keine Lösungen haben. Von der Hyperglobalisierung seit
1990 haben die Superreichen im Westen und die Mittelschichten in China und
in den aufstrebenden Staaten profitiert. [2][Den Mittelschichten in den USA
hat sie geschadet.] Trumps Zollpolitik ist erpresserisch, ökonomisch
schädlich, aber auch das Versprechen, die zerstörerischen Folgen der
kapitalistischen Globalisierung für die US-Mittelschicht abzufedern.
## Außenpolitik wie Roosevelt
Außenpolitisch markiert Trumps Politik des Rückzugs und der ökonomischen
Abschottung via Zöllen eine Rückkehr zu Wilson im Wahlkampf 1916, zum
Isolationismus. Theodore Roosevelt, einer von Wilsons Vorgängern,
begründete 1918 seine Abneigung gegen den Völkerbund knapp und deutlich:
„Wir sind keine Internationalisten, wir sind amerikanische Nationalisten“.
Trump klingt heute nicht anders.
Mit dem [3][Rückzug der USA aus der Rolle des Weltpolizisten] zerfällt auch
der politische Westen, die Achse Washington-Europa. Die Nato existiert zwar
noch. Noch immer sind rund 80.000 US-Soldaten in Europa stationiert. Aber
der Kern, das (atomare) Abschreckungsversprechen der USA für Europa, hat
Trump aufgelöst, als er bekundete, Putin könne in Europa machen, was er
will.
Oder ist das ein Irrtum? Auf diese Idee konnte man kommen, als Trump
kürzlich Bundeskanzler Friedrich Merz und die Staatschefs Emmanuel Macron,
Giorgia Meloni, Keir Starmer und Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus empfing
und Europas Führer in einer spektakulären live Übertragung Einigkeit mit
dem gut aufgelegten US-Präsident demonstrierten.
Trump scheint – jedenfalls momentan – von der Idee ergriffen, wie Wilson
1917, Roosevelt 1941 und Clinton 1995, einen Krieg in Europa zu beenden.
Waren die Untergangsprognosen also übereilt? Ist der Westen als Machtfaktor
doch robuster als es scheint?
## Unkalkulierbarkeit als Machtinstrument
Wer genau hinsah, entdeckte hinter der neuen transatlantischen Harmonie
etwas anderes: Panik. [4][Merz & Co versuchten fast alles zu vermeiden, was
den wankelmütigen US-Präsidenten verstören könnte]. Sie waren fluchtartig
nach Washington gereist, um zu verhindern, dass Trump nach Putins
Einflüsterungen in Alaska Selensky ein weiteres Mal öffentlich demütigen
und von Hof jagen könnte. Dies war ein gut choreografierter Notfalleinsatz,
geboren aus berechtigtem Misstrauen – aber keine Wiedergeburt des
politischen Westens.
Hinzu kommt, dass sich Trump launisch wie ein Kind verhält, das bei jedem
neuen Spielzeug das alte liegen lässt. Verlass ist bei Trump nur auf seine
Unzuverlässigkeit. Rationaler formuliert: Der US-Präsident setzt, typisch
für Autokraten, Unkalkulierbarkeit als Machtinstrument ein. Die USA
streifen die Rolle des Welthegemon ab und verwandeln sich in eine
Regionalmacht. Trumps territoriale Drohungen Richtung Panama, Grönland und
Kanada wirken wie eine Wiederbelebung der Monroe-Doktrin aus dem 19.
Jahrhundert.
Entsprechend geringer fällt das Interesse der posthegemonialen USA an
Europa und dessen Sicherheit aus. Dass die USA Kiew irgendwann endgültig
opfern, ist noch immer wahrscheinlicher als eine Renaissance des Westens in
einer Anti-Putin-Allianz.
## Sicherheit als Auslaufmodell
Was bedeutet das für Europa? Die USA garantierten seit 1945 die Sicherheit
(West-)Europas. Das ist ein Auslaufmodell. Daher nimmt man hierzulande das
Ende des Westens – gerade angesichts des russischen Revanchismus – mit
einer Mischung aus Nostalgie und Angst wahr. Europa allein zu Haus. Doch
sich an ein besseres Gestern zu klammern, ist selten klug.
Der Trumpismus ist kein Alptraum, aus dem wir aufwachen werden. Nüchtern
betrachtet haben die USA und Europa in der postwestlichen Welt nicht mehr
die gleichen Interessen. Die USA zertrümmern derzeit die internationale
regelbasierte Ordnung, die Wilson und Franklin D. Roosevelt mit erschufen.
Trump ist aus der Weltgesundheitsorganisation WHO, dem Klimaabkommen,
UNESCO, dem UN-Menschenrechtsrat ausgestiegen. Er hat das
Iran-Atom-Abkommen und den INF Abrüstungsvertrag ruiniert. Die USA ersetzen
die Stärke des Rechts durch das Recht des Stärkeren.
## Europa braucht neue Bündnispartner
Europa aber ist auf eine halbwegs funktionierende rechtliche globale
Ordnung angewiesen. Die EU ist selbst ein Regelwerk, das sich ohne
akzeptierte Normen in Luft auflösen würde. Europa muss sich künftig
Bündnispartner jenseits der USA suchen. Und es muss unabhängig werden, um
in der neuen gewalttätigeren Weltordnung weder von den USA noch von
Russland wirtschaftlich noch militärisch erpressbar zu sein. Das wird ein
steiniger, absturzgefährdeter Weg.
Vielleicht aber ist das Ende des Westens nicht nur ein Verlust. Zur Pax
Americana gehörten auch ungerechte Kriege, brutale Machtpolitik, Putsche
gegen demokratisch gewählte Politiker. Der Historiker Jürgen Osterhammel
hat vor ein paar Jahren bemerkt, dass der Westen von Beginn an immer
minderwertige Gegner brauchte: „Kein Westen ohne Zivilisationsgefälle“.
Europa nach dem Untergang des Westens ist auch die Möglichkeit, diese
finstere Seite, die arrogante Überlegenheit, zu überwinden.
22 Aug 2025
## LINKS
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[4] /Treffen-im-Oval-Office/!6105070
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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