# taz.de -- Dokumentarfilm „Kein Land für Niemand“: Wenn Ankommen besonder… | |
> Der Dokumentarfilm „Kein Land für Niemand“ zeichnet die Entwicklungen der | |
> europäischen Migrationspolitik der vergangenen Jahre nach. | |
Bild: Crewmitglieder im Flugzeug,,Seabird'‘ | |
Ein Schiff von oben, das sich durchs Mittelmeer pflügt. An Bord hängen | |
Jacken in orange und roter Warnfarbe, darüber Namensschilder. Ein Kapitän, | |
Pawal Botica, markiert Koordinaten auf Seekarten mit Geodreieck und | |
Bleistift. Über all dem liegt eine bedrohlich wirkende Musik, komponiert | |
von Ophelia Hausmann. Die Stimmung ist gesetzt: Das ist die Ruhe vor dem | |
Sturm. | |
„Kein Land für Niemand“ – so heißt das Langfilmdebüt von Max Ahrens und | |
Maik Lüdemann. Letzterer stand selbst schon als Helfer auf einem | |
Rettungsschiff und hat neben Nils Kohstall auch selbst gefilmt. Finanziert | |
wurde das Projekt von Seenotrettungsorganisationen, deren Akteur*innen | |
im Film auch präsent sind. Von der ersten Minute an ist klar, wo die beiden | |
stehen, ohne dabei in Parolen zu verfallen. | |
Aus dem Funkgerät tönt ein Notruf: „Pan pan relay, pan pan relay.“ Der | |
Kapitän lenkt das Schiff in Richtung der durchgegebenen Koordinaten: 45 | |
Menschen, darunter 12 Frauen und ein Baby, sind dicht zusammengedrängt auf | |
einem Schlauchboot. Die Besatzung der „Sea-Eye“ versucht, Ruhe zu bewahren, | |
macht klare Ansagen und nimmt die Menschen schließlich an Bord. Eine Frau | |
erzählt, warum sie geflohen ist. Diese erste gezeigte Rettung verläuft | |
relativ unproblematisch. | |
Szenenwechsel: Brüsseler Glasfassaden, umtriebige Flure. Ursula von der | |
Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, spricht in eine | |
Fernsehkamera: „Wir werden entscheiden, wer in die Europäische Union kommt | |
und unter welchen Bedingungen.“ Immer wieder arbeitet der Film mit solchen | |
Kontrastmontagen und zwingt dabei die Zuschauer*innen, die Entscheidungen | |
hinter kühlen Glasfassaden des EU-Parlaments in Zusammenhang zu bringen mit | |
den hektischen Szenen an den europäischen Außengrenzen, wo es um alles | |
geht, um Leben und Tod. | |
Eine Stärke des Films ist, dass er nah dran ist. In einer eher deskriptiven | |
Erzählweise zeigt er die Realität der Geflüchteten in krassen Bildern, wenn | |
bei einer weiteren Rettungsaktion erst ganz am Ende die Leichen in den | |
Blick geraten und vom Schlauchboot nach oben aufs Schiff gezogen werden. | |
Oder wenn Aktivist*innen vom Flugzeug aus beobachten, wie die libysche | |
Küstenwache mit Karacho auf ein kleines Boot mit Geflüchteten zufährt und | |
Menschen mit Schlagstöcken traktiert, oder wie leblose Körper im Wasser | |
treiben. | |
Anna G., Einsatzleitung bei Sea-Watch, sagt dazu: „Die EU schaut nicht weg, | |
sondern die EU stellt diese Situation erst her.“ Seit 2015 finanziert der | |
Staatenverbund die libysche Küstenwache mit Geld, Ausrüstung und Training. | |
## Immer lebensgefährlichere Wege für Geflüchtete | |
Der Film macht die Absurdität greifbar, in der wir leben: Im EU-Parlament | |
klopfen sich Politiker*innen auf die Schulter, weil sie „die Zahlen | |
reduziert“ haben, während Geflüchtete immer lebensgefährlichere Wege auf | |
sich nehmen müssen, für die kleine Chance auf ein Leben in Sicherheit. Und | |
ebendiese kleine Chance, einen Asylantrag in Europa stellen zu können, wird | |
gerade immer kleiner. | |
„Kein Land für Niemand“ hat sich allerdings mehr vorgenommen: Der Film | |
setzt gleich zu Beginn einen klaren Anker: [1][Am 29. Januar stimmte der | |
Bundestag mit Unterstützung der AfD für einen Antrag der Union, der die | |
Migrationspolitik verschärfen sollte]. Die Macher*innen wollen – so | |
steht es im Vorspann – die „migrationspolitische Wende“ dokumentieren, die | |
diesem Ereignis vorausging. | |
Lampedusa, Moria, Pylos, Brüssel, Melilla, Frankfurt, Greiz, Schleiz. Der | |
Film zoomt rein und raus zwischen Mittelmeer, Außengrenzen und deutscher | |
Provinz, erzählt politische Entscheidungen vom EU-Parlament bis ins | |
Landratsamt. Immer wieder rückt dabei die Verantwortung der Bundesregierung | |
in den Mittelpunkt. | |
## Am Ende ein positiver Ausblick | |
Es sprechen Geflüchtete, Überlebende, Seenotretter*innen, | |
Politiker*innen, Wissenschaftler*innen. Über drei Jahre haben Ahrens | |
und Lüdemann an dem Film gearbeitet und man merkt, dass das Thema ihnen am | |
Herzen liegt. Doch wirkt der Film durch die Menge an Schauplätzen und vor | |
allem an Protagonist*innen manchmal etwas überladen. | |
Dadurch, dass auch CDU-Politikerinnen wie Martina Schweinsburg zu | |
Wort kommen, bedarf der Film – außer der immer wieder bedrohlich wabernden | |
Musik – keines skandalisierenden Kommentars. Schweinsburg hat als | |
langjährige Landrätin von Greiz (1994–2024) als erste Kommune Deutschlands | |
die Bezahlkarte eingeführt. Wenn sie trocken sagt: „Wir können nicht jedem | |
hier Asyl gewähren und Sozialkosten zahlen, nur weil die denken, sie können | |
hier Ziegen hüten“, zieht sich einem der Magen zusammen. | |
Am Ende steht ein positiver Ausblick: Asylsuchende gehen von Bord des | |
Rettungsschiffes, sind vorerst in Sicherheit. [2][Politikwissenschaftlerin | |
Natascha Strobl] sagt: „Die Zukunft ist offen. Sie kann furchtbar werden, | |
daran arbeiten sehr viele Leute. Aber sie kann so viel besser werden als | |
die Gegenwart. Und auch daran arbeiten viele Leute. Und das stimmt mich | |
optimistisch.“ | |
„Kein Land für Niemand“ ist ohne Zweifel sehenswert. Zehn Jahre nach dem | |
Start der zivilen Seenotrettung wird deren Arbeit immer stärker behindert. | |
Die meisten Politiker*innen sprechen längst nicht mehr von | |
Flüchtlingen, sondern von „illegalen Migranten“, die angeblich Ordnung und | |
Sozialstaat bedrohen. | |
Für alle, die sich mit Flucht und Migration gut auskennen, liefert der Film | |
reichlich Stoff für Diskussionen – und Argumentationshilfen beim | |
Familienfest. Doch der Film will auch Menschen außerhalb dieser Bubble | |
erreichen. Hier hätte er mit weniger Informationen klarer wirken können. | |
17 Aug 2025 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Wagener | |
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