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# taz.de -- Wohnen und Bürgergeld: Zur Not auf den Campingplatz
> Bundeskanzler Merz findet, die Jobcenter zahlen vielerorts zu hohe
> Wohnkosten. Wie sieht die Wirklichkeit aus?
Bild: Ohne Mietpreisbremse: Selbst Wohnwagen können Bürgergeldempfänger:inne…
Berlin taz | Die Mutter zweier Kinder in Hannover hatte schon genug
Probleme, als sich ihr Ehemann nach Kolumbien absetzte. Die Familie bezog
Bürgergeld und hatte bis dato eine normale Wohnung. Doch jetzt, mit nur
einem Drei-Personen-Haushalt, war die Wohnung zu teuer – um monatlich etwa
500 Euro überstieg sie die Mietobergrenze des Jobcenters in Hannover.
Monatlich fehlten der nun Alleinerziehenden 500 Euro für die Miete.
Inzwischen hat sie die Kündigung für ihre Wohnung erhalten und weiß nicht,
wohin.
„So etwas kommt oft vor“, sagt Nana Steinke, Sozialrechtsanwältin in
Laatzen bei Hannover, die von diesem Fall berichtet. Die Mutter musste
wegen der Wohnungssuche ihre Ausbildung zur Physiotherapeutin unterbrechen.
Eine Weile hatte sie sich von Bekannten jeden Monat Geld geliehen, um die
Miete zu bezahlen, doch das ließ sich nicht lange durchhalten.
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) könnte sich über solche Fälle
informieren lassen. Jeder achte Haushalt im Bürgergeldbezug bekam im Jahr
2023 nicht die tatsächlichen Ausgaben für Unterkunft und Heizung vom
Jobcenter erstattet, ergab eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine
Anfrage der Linken [1][im August] vergangenen Jahres. Im Schnitt fehlten
diesen betroffenen Haushalten im Monat 103 Euro für die Miete, die sie zum
Beispiel dann aus dem Regelsatz bezahlen mussten, der eigentlich für den
Lebensunterhalt gedacht ist.
[2][Doch Merz machte kürzlich im Sommerinterview in der ARD eine andere
Rechnung auf.] Zurückgelehnt, die Beine übergeschlagen, sprach er über
Fälle, in denen das Jobcenter sehr hohe Mieten übernehme. „Sie haben in den
Großstädten heute teilweise bis zu 20 Euro pro Quadratmeter, die Sie vom
Sozialamt oder von der Bundesagentur bekommen für Miete, und wenn Sie das
mal hochrechnen, dann sind das bei 100 Quadratmetern schon 2.000 Euro im
Monat“, [3][sagte der Bundeskanzler].
## 13 Milliarden Euro für Mietkosten
Im Haushalt 2025 werden 52 Milliarden Euro für die Grundsicherung für
Arbeitsuchende veranschlagt. 13 Milliarden davon sind für die Kosten der
Unterkunft und Heizung von Bürgergeldempfänger:innen vorgesehen.
Genau da will Merz nun kürzen. Denkbar für ihn ist „eine Deckelung der
Mietkosten“, eine Überprüfung der Wohnungsgröße oder Wohnkostenpauschalen
für Bürgergeldempfänger:innen.
Doch die Sachlage ist vielschichtig. Die Mietzahlungen der Jobcenter
richten sich nach Haushaltsgröße und nach Region. Die hohen Kosten ergeben
sich durch die drohende Obdachlosigkeit in den Metropolen und nicht durch
luxuriöses Wohnen. Laut der [4][Statistik der Bundesagentur] für Arbeit vom
März 2025 zahlen die Jobcenter für eine alleinstehende
Bürgergeldempfänger:in im Bundesdurchschnitt 475 Euro an monatlichen
Unterkunftskosten, inklusive Betriebs- und Heizkosten.
Dieser Betrag liegt im Schnitt noch um 15 Euro unter den tatsächlichen
monatlichen Kosten der Wohnung. Für manche Empfänger:innen bleibt also
ein Rest aus dem Regelsatz zu zahlen. Für einen fünfköpfigen Haushalt
übernimmt das Jobcenter im Bundesdurchschnitt 995 Euro an
Unterkunftskosten. Mit diesen Zahlen lässt sich keine Hetze gegen
Bürgergeldempfänger betreiben.
Anders sehen die Zahlen in den Metropolen aus. In der Stadt München
beispielsweise weist die Statistik der Bundesagentur für März 2025 für
einen fünfköpfigen Haushalt durchschnittliche vom Jobcenter bezahlte
Unterkunftskosten von 1.364 Euro im Monat aus, inklusive Betriebskosten und
Heizung. Die [5][Mietobergrenze] der Jobcenter für eine so große Familie
liegt bei 1.900 Euro bruttokalt. Das ist ein Wert, der in Talkshows für
Neiddebatten sorgen könnte.
Dabei werden in München grundsätzlich auch nur die Kosten übernommen, die
als angemessen gelten, erklärt Frank Boos, Sprecher aus dem Sozialreferat
München, gegenüber der taz. Doch der „angespannte Wohnungsmarkt und die
hohen Mieten spiegeln sich natürlich auch hier wider“. Zu einem weiteren
Anstieg bei Unterkunftskosten führe auch die 2023 eingeführte „Karenzzeit�…
Bürgergeldempfänger*innen bekommen im ersten Jahr des Hilfebezugs
die Mietkosten in voller Höhe anerkannt. Die Idee dahinter ist, dass sich
Betroffene zunächst auf die Arbeitssuche konzentrieren können und nicht
Job, Wohnung und ihr vertrautes Umfeld gleichzeitig verlieren. Diese
Regelung führe dazu, sagt Boos, dass Mieten übernommen werden „die jeden
Mietspiegel und jede Mietobergrenze weit übersteigen“. Genau diese Regelung
möchte Schwarz-Rot nun auch wieder ändern. „Dort, wo unverhältnismäßig h…
Kosten für die Unterkunft vorliegen, entfällt die Karenzzeit“, heißt es im
Koalitionsvertrag.
## Bezahlbarer Wohnraum fehlt
Doch der Kern des Problems – das Fehlen von bezahlbarem Wohnraum – wird
damit nicht berührt. Die Suche nach einer günstigeren Wohnung sei in
München „häufig aussichtslos“ oder könne zumindest lange dauern, sagt Bo…
Die Stadt München fordert deshalb schon seit Jahren von der
Bundesregierung, das Mietrecht strenger zu regulieren, unter anderem durch
eine Nachschärfung [6][der Mietpreisbremse].
Pikant ist: Derzeit wird staatlich gar nicht überprüft, ob die von
Vermieter:innen aufgerufenen Mieten für
Bürgergeldempfänger:innen überhaupt gesetzlich legitim sind. Die
Stadt habe keine Befugnisse, „in ein privatrechtliches Vertragsverhältnis
einzugreifen“, erklärt Boos. Es existiere „kein Wohnungsaufsichtsgesetz,
mit dem Missstände behördlich unterbunden werden könnten.“ Sprich: Im Fall
von überteuerten Mieten müssten die Betroffenen selbst den Weg über die
Zivilgerichte gehen.
Die Jobcenter und Sozialämter stellt die aktuelle Lage vor ein Dilemma:
Denn die Alternative, Sozialleistungsempfänger:innen in die
Obdachlosigkeit zu schicken und dann womöglich in Heimen unterbringen zu
müssen, ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern meist noch viel
teurer.
## Hetze in den Medien
Laut eines [7][Infoblatts] des Sozialreferats in München über die
Unterbringung in Wohnungslosenheimen oder auch einer einschlägigen
[8][Gebührenordnung in Berlin] werden pro Person und „Bettplatz“ für eine
Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften im Monat um die 750 Euro oder
mehr an Unterkunftskosten fällig. In einem fünfköpfigen Haushalt summiert
sich das auf über 3.500 Euro im Monat an Unterkunftskosten.
Das ist Anlass für Hetze in den Medien, obwohl die Betroffenen nicht mal
ein eigenes Zimmer haben. Manche privaten Heimbetreiber verlangen noch
höhere Tagessätze von der öffentlichen Hand und machen dadurch mit der
Wohnungsnot ein großes Geschäft.
Betroffenenverbände fordern nun, die Mietobergrenzen der Jobcenter zu
erhöhen. Dies würde den Leistungsempfänger:innen Erleichterung
verschaffen. Allerdings nutzen die Wohnungsunternehmen die Mietobergrenzen
der Jobcenter auch aus, beklagt das Pestel-Institut in Hannover schon seit
Längerem. 2024 stellte das Institut [9][eine Studie vor], die sich genau
mit den steigenden Staatsausgaben für Wohngeld und Kosten der Unterkunft
befasste – und führte das auf den Mangel an Sozialwohnungen zurück.
„Der Staat ist erpressbar“, weil er überteuerte Mieten in Kauf nehmen
müsse, erklärte der Leiter des Instituts, Matthias Günther, damals. Er
plädiert deshalb für ein Sondervermögen für den Sozialen Wohnungsbau. Der
deutsche Mieterbund geht davon aus, dass 11 Millionen Mieterhaushalte
Anspruch auf eine Sozialwohnung haben – es existierten 2024 aber nur noch
etwa 1,05 Millionen Sozialwohnungen.
## Unregulierter Wohnungsmarkt
Die Jobcenter verschicken derweil zu Tausenden Kostensenkungsaufforderungen
an ihre Klient:innen, wenn die Mieten die Obergrenzen übersteigen oder auch
die einjährige Karenzzeit vorbei ist, in der das Jobcenter höhere
Wohnkosten übernimmt.
Davon weiß auch Helena Steinhaus vom [10][Verein Sanktionsfrei] zu
berichten, der Menschen im Bürgergeldbezug unterstützt. „Die Leute haben
große Angst, ihre Wohnung zu verlieren“, sagt sie der taz. Oft werde ein
Kostensenkungsverfahren eingeleitet, wenn sich die Wohnsituation von
Menschen verändere. „Zum Beispiel wenn ein Kind auszieht oder wenn der
Partner verstirbt.“
In der Folge gilt die bewohnte Wohnung dann nicht mehr als angemessen. Merz
suggeriere, dass Bürgergeldempfänger:innen in Luxuswohnungen lebten,
die sich eine Arbeiterfamilie nicht leisten könne, sagt Steinhaus. Der
Kanzler befeuere damit „den Konkurrenzkampf zwischen Arm und Ärmer“. Dabei
seien das eigentliche Problem geringe Löhne und ein unregulierter
Wohnungsmarkt, „der vielen Unsicherheit und nur wenigen Profit bringt“.
Nur wenn Bürgergeldempfänger:innen umfangreich nachweisen, dass sie
sich erfolglos in einem engen Wohnungsmarkt um eine Wohnalternative bemüht
haben, darf ihnen das Jobcenter die Leistung für die Unterkunft nach der
Karenzzeit nicht kürzen. Ein Urteil des Bundessozialgerichtes aus dem
[11][Jahre 2006] hatte bereits festgestellt, dass bei der Festlegung von
„angemessenen Wohnkosten“ von den Behörden auch ermittelt werden müsse, ob
in der Gegend überhaupt als Alternative günstige „Wohnungen mit einfachem
Ausstattungsniveau konkret zur Verfügung stehen“ (Az B 7b AS 18/06 R).
## Defizit aus dem Regelsatz zahlen
„Die Leistungsempfänger:innen müssen allerdings nachweisen, dass sie
sich beständig und ausreichend um eine günstigere Wohnung kümmern, aber
diese nicht finden“, sagt Moritz Duncker, Vorsitzender der
Jobcenter-Personalräte, zur taz. Erst bei diesem umfangreichen und
beständigen Nachweis zahlt das Jobcenter auch Unterkunftskosten, die über
den Obergrenzen liegen. Wer sich den Stress nicht antun kann und will,
zahlt das Defizit dann eben aus dem Regelsatz oder aus anderen
Einkommensquellen.
Steinke hat eine Mandantin aus Dortmund mit einer Wohnung, deren Miete über
der Angemessenheitsgrenze des Jobcenters liegt. Sie müsse eine „sehr, sehr
lange Liste mit Wohnungssuchbemühungen nachweisen, steht bei allen
Vermietern auf der Warteliste“, erzählt die Anwältin. Die Frau bekommt auch
weiterhin ihre um etwa 220 Euro „zu teure“ Miete vom Jobcenter bezahlt.
Allerdings: Einen Vollzeitjob kann die Frau nicht mehr suchen. „Sie ist mit
Wohnungssuche und Teilzeitjob voll ausgelastet“ sagt Steinke.
Die Anwältin beobachtet auf dem Wohnungsmarkt für
Sozialleistungsempfänger:innen inzwischen „Parallelstrukturen“ zum
Mietmarkt, berichtet sie. Menschen bildeten Wohngemeinschaften oder suchten
sich andere Alternativen. Eine Leistungsempfängerin aus Celle habe sich
nach dem Kampf mit dem Jobcenter entschlossen, „in ein Wohnmobil auf dem
Campingplatz zu ziehen“, schildert die Anwältin. Doch auch der Mietpreis
für die luftige Unterbringung liegt nur 10 Euro unter der Obergrenze des
Jobcenters.
18 Jul 2025
## LINKS
[1] https://dserver.bundestag.de/btd/20/124/2012470.pdf
[2] /Merz-im-ARD-Sommerinterview/!6100749
[3] /Merz-im-ARD-Sommerinterview/!6100749
[4] https://statistik.arbeitsagentur.de/SiteGlobals/Forms/Suche/Einzelheftsuche…
[5] https://stadt.muenchen.de/infos/mietobergrenzen.html
[6] /Mietanstieg-begrenzen/!6088587
[7] https://stadt.muenchen.de/dam/jcr:682c640e-11c7-419e-84d0-7d19602d8bf5/LHM_…
[8] https://www.berlin.de/sen/soziales/besondere-lebenssituationen/wohnungslose…
[9] /Studie-zum-Mangel-an-Sozialwohnungen/!5983106
[10] https://sanktionsfrei.de/
[11] https://openjur.de/u/169098.html
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
Jasmin Kalarickal
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