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# taz.de -- Wahl zur Verfassungsrichterin: Wie konnte das passieren?
> Frauke Brosius-Gersdorf ist eine qualifizierte Rechtswissenschaftlerin.
> Sie sollte zur Bundesverfassungsrichterin gewählt werden. Kein großes
> Ding. Eigentlich.
Bild: Die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf in der Fernsehsendung Markus Lanz am…
Frauke Brosius-Gersdorf haben die vergangenen Wochen zugesetzt. Das ist
deutlich zu erkennen, als die Rechtsprofessorin [1][am Dienstagabend im
Fernsehstudio von Moderator Markus Lanz] sitzt. Sie erzählt von
Diffamierungen, von Falschbehauptungen und von Drohungen, die sie und ihre
Familie erhalten. Per E-Mail, per Post. „Ich musste vorsorglich meine
Mitarbeitenden bitten, nicht mehr am Lehrstuhl zu arbeiten“, erzählt die
Verfassungsrechtlerin der Universität Potsdam.
Wie konnte es so weit kommen? Wie kann es sein, dass eine hoch angesehene
Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht [2][in einer Talkshow beteuern
muss, sie sei keineswegs „linksradikal“], sondern vertrete „absolut
gemäßigte Positionen aus der Mitte unserer Gesellschaft“?
Es begann als Routinevorgang: Um drei Posten am Bundesverfassungsgericht
nachzubesetzen, schlug die Union turnusgemäß einen Kandidaten, die SPD zwei
Kandidatinnen vor – den Vorsitzenden Richter des Bundesarbeitsgerichts
Jürgen Spinner und die Rechtsprofessorinnen Ann-Katrin Kaufhold und Frauke
Brosius-Gersdorf. In der Koalitionsspitze einigte man sich auf das Paket,
auch im Wahlausschuss des Bundestags bekamen alle drei die nötige
Zweidrittelmehrheit. Die Wahl am vorvergangenen Freitag im Parlament schien
eine Formalie.
Dann aber rebellierte die Unions-Fraktion: 50 bis 60 Abgeordnete sollen
nicht bereit gewesen sein, Brosius-Gersdorf zu wählen. Just am Wahltag
wurden außerdem – inhaltlich kaum haltbare – Plagiatsvorwürfe gegen die
Rechtswissenschaftlerin bekannt. Für Unions-Fraktionschef Jens Spahn ein
willkommener Vorwand, um die Wahl von der Tagesordnung zu streichen.
Entscheidender Motor dieser Eskalation: eine konzertierte
Verleumdungskampagne.
## Tausende E-Mails, Petitionen, Schmähungen
Eine [3][Allianz aus rechten bis extrem rechten Medien, der AfD und
radikalen Abtreibungsgegner*innen] hatte in Tausenden E-Mails an
Abgeordnete, mit Petitionen und mit Schmähungen bereits tagelang Stimmung
gegen Brosius-Gersdorf gemacht. Der Juristin wurde vorgeworfen,
Abtreibungen bis kurz vor der Geburt legalisieren und dem Fötus kein
Lebensrecht zugestehen zu wollen.
Der Bamberger Erzbischof Herwig Gössl nannte die Nominierung von
Brosius-Gersdorf einen „innenpolitischen Skandal“ und sprach von einem
„Abgrund der Intoleranz und Menschenverachtung“. – „Das finde ich infam…
sagte die Juristin dazu bei „Markus Lanz“. Das Gegenteil sei wahr. Sie habe
auf Dilemmata in der aktuellen Rechtslage hingewiesen und Lösungsvorschläge
gemacht. Und: Ihre Positionen dazu seien seit Langem für jeden öffentlich
einsehbar.
Das ist nicht zu bestreiten. Die Ampelkoalition hatte die
Verfassungsrechtlerin als eine von 18 Expert*innen in eine „Kommission
zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ berufen.
Konservative und Kirchen bemängelten damals, die Kommission sei „einseitig“
besetzt, die Ampel mache sich „ihre eigene Ethik“. Das wiesen die
Expert*innen stets von sich. Ein Jahr lang prüften sie die Positionen,
Forderungen und Bedenken zahlreicher zivilgesellschaftlicher und
politischer Akteure – auch der Union.
Seit April 2024 ist der Abschlussbericht öffentlich: Die [4][grundsätzliche
Rechtswidrigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen sei „nicht haltbar“]. Die
Kommission plädierte aber keineswegs für legale Abbrüche bis kurz vor der
Geburt, sondern nur in den ersten zwölf Wochen. Späte Abbrüche sollten
verboten bleiben, dazwischen habe der Gesetzgeber „Handlungsspielräume“.
## Keine linke Aktivistin
„Das Grundgesetz schützt das Recht auf Leben nicht erst für den Menschen
nach der Geburt, sondern auch für Embryonen im Mutterleib“, sagte
Brosius-Gersdorf damals. Das Lebensrecht habe aber vor der Geburt nicht das
gleiche Gewicht wie danach. Ginge man von einem „gleichen Lebensrecht des
geborenen und des ungeborenen Lebens“ aus, so die Verfassungsrechtlerin,
dann wären „Konflikte ‚Leben gegen Leben‘ gar nicht lösbar“. Selbst e…
Abbruch bei Lebensgefahr für die Schwangere wäre rechtswidrig.
All das referiert Brosius-Gersdorf nun wieder. Sie erklärt gegenüber Lanz
ihre ebenfalls in der Kritik stehenden Positionen zur Corona-Impfpflicht
oder zur Prüfung eines AfD-Verbots. Und sie verweist auf ihre Arbeit in
anderen Bereichen, mit der sie der Union mitunter näher stehen dürfte als
linken Positionen – wenn sie etwa vorschlägt, die Rente mit 63 abzuschaffen
oder die Sanktionen beim Bürgergeld zu verschärfen.
Wer einen kurzen Blick auf ihre wissenschaftliche Vita wirft, dem dürfte
klar sein, dass Brosius-Gersdorf keine linke Aktivistin ist. 2017 schrieb
sie für die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung ein Gutachten über
Privatschulen. 2018 lud die Union Schleswig-Holstein sie als
Sachverständige in den Rechtsausschuss ein. 2023 erstellte sie für den
Katholischen Krankenhausverband ein Gutachten zur Krankenhausfinanzierung.
Von 2015 bis 2024 war sie stellvertretende Richterin am Verfassungsgericht
in Sachsen, gewählt mit breiter Mehrheit – auch von der CDU. Von
Berührungsängsten damals keine Spur.
## Rebellen auf dem Baum
Das Ringen um die Deutungshoheit geht nun weiter. Die SPD hält an der
Kandidatin fest, hat ihr die Unterstützung zugesichert. In einem offenen
Brief kritisierten mehr als 300 Rechtswissenschaftler*innen, darunter
ehemalige Verfassungsrichter*innen, den Umgang mit ihr scharf. „Frauke
Brosius-Gersdorf gehört ins Verfassungsgericht“, [5][fordert eine
Petition]. „Wer Brosius-Gersdorf angreift, stellt sich nicht nur gegen
eine erfahrene Juristin, sondern auch gegen den Grundsatz der unabhängigen
Justiz.“ Binnen eines Tages unterschrieben mehr als 100.000 Menschen.
Mittlerweile hat sich der Vorsitzende der katholischen Deutschen
Bischofskonferenz, Georg Bätzing, zu Wort gemeldet und Brosius-Gersdorf in
Schutz genommen. „Die Frau hat es nicht verdient, so beschädigt zu werden“,
sagte er gegenüber der Augsburger Allgemeinen. Auch Erzbischof Gössl aus
Bamberg hat nach einem Telefonat mit der Juristin eingeräumt, „falsch
informiert“ gewesen zu sein.
Die rebellierenden Abgeordneten der CSU und der CDU machen indes noch keine
Anstalten, von ihrem Baum herunterzukommen. Und auch die begleitende
Medienkampagne läuft weiter. Stimmung wird nun auch gegen die zweite
SPD-Kandidatin für das Amt der Bundesverfassungsrichterin, Ann-Katrin
Kaufhold, gemacht.
Die profilierte Juraprofessorin von der Universität München, die
insbesondere zu Verwaltungs- und Klimarecht arbeitet, wird von rechten
Onlinemedien und AfD-Politikern als „grüne Klimaaktivistin“ mit
„ideologischer Agenda“ bezeichnet, ihre Nominierung als „gefährlich für…
Demokratie“. Ihr wird vorgeworfen, sie wolle den Klimaschutz mithilfe von
Gerichten durchsetzen und sei eine Enteignungsbefürworterin. Dass beide
Juristinnen die Prüfung eines AfD-Verbotsverfahrens befürworteten, wird von
dem AfD-nahen Juristen Ulrich Vosgerau gar als „Staatsstreich“ bezeichnet.
## Was macht das mit uns?
Es gehe längst nicht mehr nur um sie, sagte Brosius-Gersdorf bei „Markus
Lanz“. Sondern darum, was passiere, wenn solche Kampagnen sich
durchsetzten, „was das mit uns macht, mit dem Land macht, mit unserer
Demokratie“. Sobald aber ein Schaden für das Bundesverfassungsgericht drohe
oder eine Regierungskrise, werde sie an ihrer Kandidatur nicht festhalten,
sagte sie. Und räumte damit jene Option ein, auf die die Union seit Tagen
drängt.
Zeitgleich zu dem öffentlichen Auftritt von Brosius-Gersdorf im ZDF ist
Bundesforschungsministerin Dorothee Bär (CSU) bei „Maischberger“ zu Gast.
Dort sagt sie, sie respektiere es, wenn Abgeordnete der Union die Wahl der
Juristin nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren könnten, und „erwarte aber
auch von der Kandidatin, dass sie mal für sich selbst überlegt, ob sie die
Richtige ist“. Während Brosius-Gersdorf von den Drohungen berichtet, die
sie erhält, sagt Bär, sie erwarte „ein bisschen Resilienz“, nämlich dass
man „auch kritikfähig“ sein müsse, wenn man sich ins höchste deutsche
Gericht wählen lassen wolle.
🐾 Um die Richter:innenwahl und rechte Kulturkämpfe geht es auch im
Bundestalk, dem politischen Podcast der taz. Zu hören auf
[6][taz.de/bundestalk].
18 Jul 2025
## LINKS
[1] /Brosius-Gersdorf-wehrt-sich/!6098146
[2] /Verschobene-Richterwahl/!6098263
[3] /Rechte-Hetze-gegen-Brosius-Gersdorf/!6097369
[4] /Schwangerschaftsabbrueche-in-Deutschland/!6000620
[5] https://innn.it/frauke-brosius-gersdorf-gehort
[6] /Richterinnenwahl-/!6100936
## AUTOREN
Dinah Riese
Amelie Sittenauer
## TAGS
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äußert sich zu den Vorwürfen gegen ihre Person. Die Koalitionskrise ist
derweil ungelöst.
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