| # taz.de -- Kinder benachteiligter Familien: Wenn die Kita schon zu spät ist | |
| > Eine Langzeitstudie zeigt, wie stark soziale Ungleichheiten bereits im | |
| > Alter von zwei Jahren sichtbar werden. Was muss der Staat tun? | |
| Bild: Ziel muss es sein, allen Kindern gerechtere Bildungschancen zu ermöglich… | |
| Berlin taz | Eine der interessantesten Aussagen, die die neue | |
| Bundesbildungsministerin Karin Prien (CDU) seit Amtsantritt äußerte, fiel | |
| in einem Interview mit der Welt am Sonntag: „Bildung und Erziehung fangen | |
| in der Familie an“, sagte Prien, das sei zuletzt ein bisschen in | |
| Vergessenheit geraten. | |
| Für eine Ministerin, die massiv in die frühkindliche Bildung investieren | |
| und so die Chancenungleichheit überwinden möchte, ist diese Klarstellung | |
| bemerkenswert. Kündigt sie damit doch an, dass Kitas und Schulen alleine | |
| das Problem nicht werden bewältigen können – trotz der geplanten Milliarden | |
| und verpflichtenden frühen Förderung im Vorschulalter. „Ein Staat, der | |
| alles leisten will in diesem Bereich, wird immer überfordert sein“, so | |
| Prien. | |
| Die Rolle der Eltern für die Bildungschancen der Kinder ist zwar | |
| unbestritten. Wie genau Mütter und Väter jedoch mit ihrem Verhalten die | |
| kindliche Entwicklung prägen, ist insgesamt noch wenig erforscht. Eine am | |
| Montag veröffentlichte Studie zeigt nun, wie früh sich der Einfluss der | |
| Eltern bemerkbar macht – je nachdem wie einfühlsam und entwicklungsfördernd | |
| sie mit ihren Kindern umgehen. „Schon bei den Zweijährigen sehen wir hier | |
| enorme Unterschiede“, sagt Manja Attig vom Bamberger Leibniz-Institut für | |
| Bildungsverläufe (LIfBi), eine der beiden Autorinnen, im Gespräch mit der | |
| taz. | |
| Für ihre Analyse griff Attig, die am LIfBi den Bereich Frühe Bildung | |
| leitet, auf eine deutschlandweit einzigartige Langzeitstudie zurück: Seit | |
| rund 13 Jahren begleiten Forscher:innen die Bildungsverläufe von Kindern | |
| aus ganz Deutschland – ab Geburt. Rund 3.500 Familien wurden dafür dreimal | |
| in den ersten zwei Lebensjahren des Kindes besucht, danach einmal im Jahr. | |
| Dabei wurde unter anderem gefilmt, wie die Elternteile mit ihrem Kind | |
| spielen und abgefragt, wie häufig sie gemeinsam ein Kinderbuch angucken. | |
| „Solche Interaktionen und das Verhalten der Eltern in diesen Interaktionen | |
| können die sprachliche und sozial-emotionale Entwicklung von Kindern | |
| maßgeblich beeinflussen“, sagt Attig. | |
| ## Die Wirkung von Bilderbüchern | |
| So kennen Zweijährige, deren Mütter oder Väter aktiv deren (sprachliche) | |
| Entwicklung anregen, beispielsweise wesentlich mehr Wörter (im Schnitt 173) | |
| als Kinder, deren Eltern dies nicht machen, dann sind es nur 119 Wörter. | |
| Ähnlich stark wirkt sich aus, ob Eltern mit ihren Kindern schon früh und | |
| regelmäßig Bilderbücher ansehen (besserer Wortschatz und | |
| Grammatikkenntnisse) und wie schnell und fürsorglich sie auf die | |
| emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen (bessere soziale | |
| Kompetenzen). Teilweise bedingen sich die Entwicklungen auch: So haben | |
| Kinder mit besseren Sprachkenntnissen später weniger Konflikte mit | |
| Gleichaltrigen. | |
| Das unterschiedliche Elternverhalten ist laut Attig auch auf die | |
| verschiedenen sozioökonomischen Realitäten zurückzuführen: „Eltern mit | |
| geringem Einkommen oder niedrigem Bildungsniveau gelingt es oft weniger, | |
| entwicklungsförderlich auf ihre Kinder einzugehen“, erklärt Attig. | |
| Besonders kritisch sei es, wenn weitere Stressfaktoren hinzukämen, etwa | |
| wenn eine Mutter alleinerziehend ist oder das Kind unter einer chronischen | |
| Erkrankung leidet. „Wir sehen, dass bei drei oder mehr solcher | |
| Belastungsfaktoren die Mütter nicht mehr in der Lage sind, beispielsweise | |
| auf ein Kind mit einem herausfordernden Temperament gut einzugehen.“ | |
| Dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien im Schnitt geringere | |
| Sprachkompetenzen aufweisen, wurde bereits in früheren Studien | |
| festgestellt. Neu an der LIfBi-Studie ist, dass sie diesen Zusammenhang nun | |
| schon im Alter von zwei Jahren nachweist. Möglicherweise fällt der in der | |
| Realität noch stärker aus, vermutet Bildungsforscherin Manja Attig. | |
| Erstens, weil einige besonders stark belastete Familien aus der | |
| Langzeiterhebung ausgestiegen sind und deren Daten fehlen. Und zweitens | |
| wurde der Sprachstand der Kinder im Alter von zwei Jahren über eine | |
| Einschätzung der Familien abgefragt – auf Deutsch. Familien, die zu Hause | |
| kein Deutsch sprechen, flossen deshalb erst später in die Untersuchung ein, | |
| als der Wortschatz der Kinder spielerisch über Tablets erhoben werden | |
| konnte. | |
| Doch selbst mit dieser Unschärfe sind sich die Autorinnen einig über die | |
| Schlussfolgerungen: „Ziel muss es sein, allen Kindern gerechtere | |
| Bildungschancen zu ermöglichen“, so Attig. Deshalb sollte der Staat Eltern | |
| in Risikosituationen so frühzeitig wie möglich unterstützen. Am besten | |
| schon vor dem Kita-Besuch. | |
| ## Bremen zeigt's | |
| Wie das funktionieren kann, zeigt die Hansestadt Bremen. Dort starteten der | |
| Senat, die Jacobs Foundation und mehrere Universitäten und Institute im | |
| Jahr 2017 die [1][Bremer Initiative zur Stärkung frühkindlicher | |
| Entwicklung, kurz BRISE]. Die Idee: Angebote für sozial benachteiligte | |
| Familien so aufeinander abzustimmen, dass sie von der Schwangerschaft bis | |
| zum Schuleintritt des Kindes eine „systematische Förderkette“ ergeben. | |
| Dazu gehören Programme wie „Pro Kind“, über das speziell ausgebildete | |
| Hebammen während der Schwangerschaft und in den ersten beiden Lebensjahren | |
| alle zwei Wochen zu Besuch kommen und unter anderem die so wichtigen | |
| Eltern-Kind-Interaktionen einüben. Beim Programm „e:du“ kommen pädagogisc… | |
| Fachkräfte einmal die Woche zum altersgerechten spielerischen Lernen nach | |
| Hause oder bringen mehrere Familien in Gruppen zusammen – auch hier geht es | |
| um Lerneffekte sowohl bei den Kindern als auch bei den Eltern. Weitere | |
| Angebote wie „HIPPY“ richten sich an Vorschulkinder vor allem an Familien | |
| mit Einwanderungsgeschichte. Hier kommen in der Regel mehrsprachige | |
| Fachkräfte alle zwei Wochen nach Hause und machen spielerische | |
| Sprachförderung – auch für die Eltern. | |
| Nach Angaben des Bremer Senats werden aktuell 405 Familien über BRISE | |
| unterstützt. Mit großem Erfolg, sagt der wissenschaftliche Leiter der | |
| Initiative, der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller: „Wir erwarten, dass | |
| die Kinder, die an der ganzen Förderkette teilnehmen, deutlich höhere | |
| sprachliche und soziale Kompetenzen aufweisen als Kinder aus anderen | |
| belasteten Familien“, sagt Köller der taz. Köller verspricht sich weitere | |
| aufschlussreiche Erkenntnisse aus dem Projekt: So wollen die beteiligten | |
| Forscher:innen die BRISE-Kinder auch nach ihrem Schuleintritt weiter | |
| begleiten. Dies ist auch dank einer Förderung des | |
| Bundesbildungsministeriums bis 2029 möglich. „Wir wollen jetzt untersuchen, | |
| ob früh geförderte Kinder in der Grundschule höhere Basiskompetenzen | |
| aufweisen“. | |
| Köller, der als Co-Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission | |
| (SWK) auch die Bildungsminister:innen berät, sieht Bund und Länder | |
| bei der frühen Förderung insgesamt auf einem guten Weg. Die Wiederaufnahme | |
| des Bundesprogramms „Sprachkitas“, die geplante Förderung von Kitas im | |
| sozialen Brennpunkt, der Trend zu verpflichtenden Sprachtests im Alter von | |
| vier Jahren sowie die Rückkehr des Konzepts Vorschule sind aus seiner Sicht | |
| alles Schritte in die richtige Richtung. Die größten Herausforderungen | |
| sieht Köller darin, an den Kitas einheitliche Förderstandards zu etablieren | |
| – und die Kommunen in die Lage zu versetzen, eine so lückenlose | |
| Frühförderung wie in Bremen anbieten zu können. „Bisher sind die Angebote | |
| in dem Bereich sehr heterogen“, so Köller. Manche Städte wie Nürnberg oder | |
| Offenbach hätten zwar ein ähnlich breites Angebot wie Bremen, insgesamt sei | |
| dies aber nach wie vor die Ausnahme. | |
| ## Frühe Hilfen | |
| Erst vor ein paar Monaten schlugen Expert:innen bei einer Anhörung im | |
| Familienausschuss des Bundestags Alarm. Der Fonds „Frühe Hilfen“, über den | |
| die Kommunen belastete Familien unterstützen und damit die Bildungschancen | |
| der Kinder verbessern, müsse dringend erhöht werden. Zuvor hatten bereits | |
| die Länder im Bundesrat kritisiert, dass die Mittel seit 2014 nicht erhöht | |
| worden seien, und forderten eine Aufstockung von 51 auf 96 Millionen Euro | |
| im Jahr 2025. Bisher ohne Erfolg. Im Haushaltsentwurf der Bundesregierung | |
| für dieses Jahr sind nach wie vor 51 Millionen Euro vorgesehen. | |
| Wie groß die Bedarfe tatsächlich sind, ist schwer zu sagen, sagt die | |
| Bildungsökonomin C. Katharina Spieß der taz. „Die 51 Millionen sind auf | |
| jeden Fall zu wenig“, so Spieß. Programme wie „Pro Kind“ oder [2][„HIP… | |
| die in Bremen Teil der Förderkette sind, erhalten klassischerweise aus | |
| diesem Topf Geld. Aus ihrer Sicht müsste das Konzept der frühen Hilfen aber | |
| nicht nur stärker ausfinanziert werden – sondern vor allem besser in die | |
| bisherigen Programme für Kitas integriert werden, fordert Spieß: „Es ist | |
| zwar sehr gut, dass unter der neuen Bundesbildungsministerin nun Kitas im | |
| sozialen Brennpunkt gezielt gefördert werden sollen“. Allerdings sei ein | |
| großes Problem, dass die belasteten Familien oft gar keinen Kitaplatz | |
| nutzen – obwohl sie den Bedarf angeben. Das zeigt unter anderem [3][eine | |
| Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB)], an der sie als | |
| Direktorin maßgeblich mitgearbeitet hat. „Wir müssen noch viel stärker als | |
| bisher die Familie als einen Ort der Bildung verstehen“, so Spieß. | |
| Studien aus dem Ausland zeigten, dass jene Programme, die am effektivsten | |
| ungleiche Startchancen ausgleichen, sowohl die Kinder als auch deren | |
| Familien adressierten – so wie auch in Bremen. Bei den meisten Programmen | |
| hierzulande vermisst Spieß das noch. Spieß begrüßt aber, dass die | |
| Bundesregierung die Investitionen in Kitas im Vergleich zur Ampel massiv | |
| erhöhen möchte: „Wir Bildungsökonom:innen sagen das seit vielen | |
| Jahren: Jeder Euro, der in gleiche Bildungschancen investiert wird, | |
| rentiert sich später auch für den deutschen Staat“. | |
| 30 Jul 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.bildung.bremen.de/brise-164708 | |
| [2] https://www.soziales.bremen.de/jugend-familie/informationen-und-publikation… | |
| [3] https://www.bib.bund.de/DE/Publikationen/publikationen.html | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
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